Bundesliga
Charme der Retorte
| Montag, 6. April 200926. Spieltag: Wenn man 5:1 gegen Bayern gewinnt, erfährt selbst der VfL Wolfsburg die Zuneigung der Fans und der Presse / Jürgen Klinsmann erneut unter starkem Druck / Felix Magath verhöhnt Bayern, Grafite demütigt sie / Berlin verliert erneut, hat aber noch alle Chancen / HSV auf dem Zahnfleisch auf Rang 2
Der VfL Wolfsburg demontiert den FC Bayern mit 5:1 und genießt derzeit erstmals in der Vereinsgeschichte den Applaus der Presse. Auch viele Fans können die Attraktivität des Volkswageneigenen Betriebs nicht mehr länger übersehen. Parallelen entdecken die Experten mit dem zweiten Werksklub Bayer Leverkusen und dem SAP-Zögling Hoffenheim. Christian Eichler (FAZ) erliegt dem „Charme der Retorte“ und der Radikalität, mit der diese drei Vereine gängige Konzepte überarbeiten: „Die ‚Neureichen‘ sind nicht nur reich, sie sind auch reich an neuen Ideen. Der Mangel an Tradition gibt die Freiheit für Neues. Die drei ‚Retortenklubs‘ sind in ihrem Personal in den zurückliegenden Jahren völlig umgestaltet worden. Für diesen Mut wurden sie belohnt. Sie spielen in dieser Saison den aufregendsten Fußball Deutschlands.“
Im Kontrast damit bemerkt Andreas Burkert (SZ) die Schwergängigkeit des altreichen FC Bayern, einem Verein in der „architektonischen Krise“. Dem Reformator Jürgen Klinsmann habe der Klub nicht völlige, sondern nur halbe Freiheit gelassen, wodurch ein als notwendig erachteter Wandel verzögert oder verhindert worden sei. Burkert schreibt, auch auf Klinsmanns Mängel hinweisend: „Dabei wähnten sich die Münchner gewappnet für die neuen Zeiten. Sie holten einen jungen Trainer, dessen Arbeitsweise als modern galt. Doch dessen Geltungsbereich beschnitt die prominente Führungsetage, eine Kadererneuerung etwa blieb aus; Klinsmann wiederum bestärkte den Verein in seiner Skepsis mit handwerklichen Fehlern. Und so hat sich selbst unter einem angeblichen Erneuerer nicht so etwas wie eine Philosophie entfalten können bei den Bayern. Sondern vornehmlich der greise Geist, die angestammte Größe verwalten zu müssen.“
Ultimativer Triumph, ultimative Demütigung
Führungslosigkeit macht Boris Herrmann (Berliner Zeitung) beim FC Bayern aus: „Klinsmann hat die Kontrolle verloren. Wie ein herrenloses Raumschiff treibt sein Team durch die Saison, gewinnt mal 7:1 gegen Lissabon und verliert dann wieder 1:5 gegen Wolfsburg. Je nach Laune. Was fehlt, ist ein Masterplan und Besonnenheit.“
Peter Unfried (taz) beobachtet Wolfsbürger Brüste schwellen und hofft auf Fortsetzung: „Dieses 5:1 gegen Bayern und die Übernahme der Tabellenführung ist bis auf weiteres der größte Tag in der zwölfjährigen Bundesligageschichte des VfL Wolfsburg. Die Frage ist: Für wie lange? Sicher wird das 5:1 von Grafite im kollektiven Gedächtnis bleiben als Moment des ultimativen Triumphs der einen und der ultimativen Demütigung der anderen.“
Stefan Osterhaus (Financial Times Deutschland) erlebt sein Tor des Jahres, das 5:1 Grafites: „Wann haben wir so eine Szene zuletzt gesehen? In der Bundesliga? Die totale Demütigung der Bayern hat einen Namen: Grafite. Er zelebrierte den Augenblick des Torschusses wie ein Torero den finalen Stoß.“
Verhöhnung wie bei einem Kirmesspiel
Peter Heß (FAZ) hält einen Moment für die Ewigkeit fest: „In Wolfsburg musste Klinsmanns Team einen K.o.-Schlag hinnehmen, wie er sonst nur Mannschaften widerfährt, die des Mitleids bedürfen. Wie Lell, Ottl, Breno und Rensing vergeblich versuchten, das Solo von Grafite zu stoppen und dann dem Kullerball hilflos hinterhersahen, der es kaum über die Torlinie schaffte, das hatte etwas von Rostock, Mönchengladbach, Nürnberg oder anderen verzweifelten Absteigern.“
Dafür, dass Felix Magath im Übermut des Siegs in der Schlussphase den Tormann gewechselt hat, erhält er den Rüffel Frank Hellmanns (FR): „Manch einer wertete das als Verhöhnung. So etwas tut man bei Kirmes- und Abschiedsspielen oder am letzten Spieltag, aber nie und nimmer während der Saison. Es könnte auch ein folgenschwerer Fehler des smarten Strategen Magath gewesen sein. Wer die Bayern so in ihrer Ehre kränkt, hat das später oft genug bitter bereut.“
Gestürzter Seiltänzer
Ronny Blaschke (FR) nimmt der erneuten Berliner Niederlage (1:3 gegen Dortmund) die Schärfe: „Die Berliner haben besser gespielt als in ihren Heimspielen zuvor, mit einem Unterschied: Sie haben verloren. Dieses 1:3 ist das schlichte Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsrechnung. Hertha BSC spielte wochenlang am Limit, konzentriert, zielsicher, auch glücklich. Wie ein Seiltänzer, langsam balancierend, Schritt für Schritt, wohlwissend, dass nicht jede ausgeglichene Partie 1:0 oder 2:1 gewonnen werden kann. Wie ein Seiltänzer, langsam balancierend, Schritt für Schritt. Ein Seiltänzer freilich kann auch mal stürzen.“
Auf dem Krückstock auf Rang 2
Über den anhaltenden Hamburger Erfolg staunt Rainer Schäfer (Berliner Zeitung): „Dass der HSV noch in drei Wettbewerben mitmischt, wird von Woche zu Woche kurioser. Oft befinden sich fünf, sechs HSV-Profis in guter Verfassung, der Rest läuft in Dienstkleidung mit. Trotzdem stimmt die Ordnung, zweifellos ein Verdienst von Trainer Jol.“ Frank Heike (FAZ) schreibt über den 1:0-Sieg des HSV gegen Hoffenheim: „Beide Klubs gehen auf dem Krückstock in die Endphase dieser aufregenden Spielzeit, doch der HSV hat das bisher meisterhaft verdaut.“
Jan Christian Müller (FR) gewährt Hamburgs Trainer großen Respekt: „Es am 26. Spieltag mit einem Torkonto von plus 4 Treffern auf Rang 2 geschafft zu haben mit einer Mannschaft, deren Abwehr bereits in siebzehn unterschiedlichen Formationen auflaufen musste, verdient Respekt. Martin Jol, der eher aussieht wie ein holländischer Wohnwagenurlauber als ein Fußballlehrer, versteht seinen Job offenbar hervorragend.“
Kommentare
3 Kommentare zu “Charme der Retorte”
Montag, 6. April 2009 um 12:33
Kann der Kritik von F. Hellmann viel abgewinnen. es ist ein Zeichen von Hoch- bzw. Übermut, das sich aber letztlich selbst richtet. Die Bayern sind in so Momenten dann da.Aber haben Hoeness und Favre nicht auch schon am Mittelkreis getanzt? Und hat das mit Klasse zu tun? Dann würds mich für Favre aber ärgern,denn ich finde der hat Klasse.
Montag, 6. April 2009 um 21:29
In einer Zusammenfassung der Partie Wolfsburg – Bayern konnte man sehen, wie das 3:1 (oder war es das 4:1?) von einer feinen Spieleröffnung des Wolfsburger Torwarts eingeleitet worden war. Komisch, dass das in der Spielberichterstattung kaum erwähnt wird.
Dienstag, 7. April 2009 um 07:13
Naja, solche Tore wie das 3:1 sieht man bei fast jedem Spiel gegen Werder Bremen (keine Ahnung, ob Thomas Schaaf diese Abwehrfehler jemals abgestellt bekommt)…