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Aufklärung, bitte!

Oliver Fritsch | Sonntag, 9. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Aufklärung, bitte!

Aufklärung, bitte!

Die Sperre für Torsten Frings ist höchst zweifelhaft, doch in den deutschen Zeitungen liest man so gut wie nichts darüber

Von Oliver Fritsch

Sicher, TV-Bilder übermitteln keine einzige Wahrheit, es läßt sich trefflich über sie streiten. Doch das, was ich im Fernsehen gesehen habe, läßt mindestens folgenden Schluß zu: Die Sperre für Torsten Frings ist ein überhartes Urteil, es ist ja eher eine Drohung als ein Schlag des Geohrfeigten gewesen. Außerdem sind die Umstände des Verfahrens dubios und unglücklich, das hat sogar Fifa-Präsident Blatter eingestanden. Und was müssen wir nun erfahren: Julio Cruz, Frings‘ argentinischer „Gegner“, kommt ohne Strafe davon! Kung-Fu-Cufre muß nur vier Spiele zusehen. Und Maxi Rodriguez, der Bastian Schweinsteiger mit Anlauf eine über den Schädel gezogen hat, erhält nahezu das gleiche Strafmaß wie Frings. Das muß einem die Fifa aber mal erklären.

Umso erstaunter bin ich, daß fast niemand darüber berichtet – selbst Bild und BamS weisen zwar darauf hin, halten es aber nicht für ein Seite-1-Thema. Wo seid Ihr, wenn man Euch mal braucht? Allein schon in der Sachanalyse des Italien-Spiels hat die deutsche Presse fast ganz auf den Hinweis auf Frings‘ Fehlen verzichtet. Natürlich wäre die Chance der Deutschen auf einen Sieg mit Frings größer gewesen. Ob es zu einem Sieg gegen die, famos spielenden, Italiener gereicht hätte? Man weiß es nicht, doch darum geht es auch nicht. Es ist schade und eine sportliche Entwertung dieses Halbfinales, auch des italienischen Sieges. Deutschlands Sieg im WM-Finale 1990 zum Beispiel hätte schwerer gewogen, wenn nicht die Hälfte der argentinischen Mannschaft gesperrt gewesen wäre. So rechnen Sportsgeister.

Am Tag nach der Verkündung der Sperre, also am Spieltag, hat es einige Kommentare gegeben, mit uneinheitlichem Tenor. Das Verfahren ist kritisiert worden, etwa von der FAZ: „Die Fifa hat sich bis auf die Knochen blamiert.“ Es hat auch Stimmen gegeben, die das Strafmaß für angebracht halten, allein Spiegel Online hat gefordert: „In diesem Fall hätte eines der ältesten Rechtsprinzipien zur Anwendung kommen müssen: im Zweifel für den Angeklagten.“

Gute Gastgeber oder Überheblichkeit?

Hat sich die Fifa tatsächlich von italienischen Medien unter Druck setzen lassen? Das wäre ein Armutszeugnis, zumal viele italienische Redaktionen bekanntermaßen nicht zimperlicher sind als unsere Holzhacker von der Knallpresse. Die darf man nicht allzu ernstnehmen. Ist es ein letzter Hieb der Fifa gegen die Deutschen? Hatte sie Angst, in den Verdacht zu geraten, schon wieder den Gastgeber, wie 2002, zu bevorteilen? Gibt es als Wiedergutmachung für die Deutschen nun die Auszeichnung für Lukas Podolski? Fragezeichen-Journalismus, zugegeben. Aber dies sind Fragen, die auf dem Tisch liegen; ich bin es nicht, der sie in die Welt setzt. Eine Recherche darüber könnte ja auch helfen, möglichen Verschwörungstheorien, etwa auch die um die „Mafiosi“, den Wind zu nehmen.

Ich habe neulich auf das Gift in der „bilateralen Kommunikation“hingewiesen, vielleicht bin auch ich etwas überkorrekt gewesen. Ein bißchen Klischee und Geschubse dürfen im Fußball ja sein. Mit Tiervergleichen sollte man jedoch vorsichtig sein. Daß die Italiener keine Klosterschüler sind, ist klar. Doch auf welche Mannschaft trifft das nicht zu? Ich hab mit Leuten während der WM gesprochen, die auf den Spucker Totti fluchen. Gleichzeitig drücken sie dem Spucker Alexander Frei die Daumen, weil sie auf ihn als Torschützen gewettet haben – ist ja nur ein Schweizer. Schöne schizophrene Fußballwelt! Von Journalisten darf man aber mehr erwarten. Mich ärgert, daß viele über Fußball schreiben, die davon nicht viel zu verstehen scheinen (oder nichts verstehen wollen). Wer den Italienern Catenaccio nachsagt, hat die letzten Jahre nicht richtig hingeschaut. Der muß sich natürlich, wenn er wie im Halbfinale dann richtig hinschaut, die Augen reiben, wie schnell und genau die Italiener in die Spitze spielen und daß ihr Trainer in der Verlängerung mit Mut die Entscheidung sucht. Noch mal buchstabiert: Italien hat in der 119. Minute das 1:0 erzielt – und legt noch ein Tor drauf. Also von wegen Sieg ermauern und Vorsprung halten. Wer sich über den geschenkten Elfmeter für Fabio Grosso im Spiel gegen Australien, zurecht, aufregt, sollte auch gestehen können, daß Miroslav Klose an dieser WM zwei Feldverweise (gegen Polen und Schweden) „gezogen“ hat. Vor vier Jahren wäre er in beiden Situationen nicht gefallen. An der italienischen Taktik-, Nachwuchs- und Trainerschule sollten sich die Deutschen ein Beispiel nehmen (nicht jedoch an ihrer Schauspielschule). Und wenn jemand „beschissen“ Fußball gespielt hat an dieser WM, dann die Romantik-Fraktion aus Brasilien und England.

Weltmeister der Herzen, ein Etikett des Hohns

An der WM 2002 ist Michael Ballack im Endspiel gesperrt gewesen, eine Story, die wir seitdem etwa eintausendfünfhundertmal gehört und gelesen haben. Fußball-Legenden, eben. Wie wäre das Endspiel wohl mit ihm ausgegangen? Eine Frage, auf die Fußballdeutschland ewig und vergeblich eine Antwort suchen wird. Dabei gibt es keinen Grund zur Aufregung, die Gelbe Karte gegen ihn im Halbfinale gegen Südkorea war gerecht – übrigens im Gegensatz zu seiner ersten im Achtelfinale gegen Paraguay.

Doch fast niemand redet über Torsten Frings. Ist der knorrige Typ, der allerdings noch nie eine Rote Karte erhalten hat, das nicht wert? Lassen wir uns vom ran-Beckmann leiten, der Frings‘ grandiose Leistung gegen Argentinien nicht einmal erkannt hat? Ist das schon Überheblichkeit gewesen, davon auszugehen, die Deutschen könnten auch ohne ihn? Ich habe den Eindruck, viele Kollegen halten sich zurück, um nicht in den Ruf zu geraten, sie seien schlechte Gastgeber oder schlechte Verlierer. Aber eine Ungerechtigkeit wird man noch eine Ungerechtigkeit nennen können. Und müssen. Ich fordere nicht Aggression, aber kommentarlos hinnehmen – das kann es wohl nicht sein. Zahnlosigkeit und Überkorrektheit passen nicht zum Fußball. Aus fast dreißig Jahren Amateurfußball als Spieler und Trainer weiß ich: Metzgerblut ist keine Buttermilch. Und gute Gastgeber (ist Deutschland das überhaupt?) zu sein, ist aller Ehren wert, aber gehört zu dieser Rolle auch, sich von seinen Gästen den Safe ausrauben zu lassen und dabei wegzusehen? „Weltmeister der Herzen“ – hoffentlich setzt sich dieses Etikett nicht durch, liebe Fans, das ist höhnisch gemeint, zumindest läßt es sich leicht zu Hohn verkehren.

Meinen Stammlesern werde ich nicht beteuern müssen, daß meine Lust am Fußball nicht vom deutschen Erfolg abhängt.

 

Gießen, 9. Juli 2006


Ich habe Jürgen Kaube, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, am Telefon zur Frings-Sperre befragt und über das Schweigen der Sportredaktionen. Kaube hat sich am Donnerstag in einer Glosse auf der FAZ-Medienseite über die demonstrative Harmonie Johannes B. Kerners erregt, eine der wenigen Zeitungstexte, die sich mit dem Spiel kritisch befassen. Lesen Sie das Gespräch exklusiv auf www.indirekter-freistoss.de!

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