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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

„You‘ll never beat the Irish!“

Oliver Fritsch | Freitag, 7. Juni 2002 Kommentare deaktiviert für „You‘ll never beat the Irish!“

England vor dem Duell gegen Argentinien, die Grande Nation fahl, die Kameruner Löwen müde, irische Unbesiegbarkeit, die Lage im deutschen Team nach dem Remis, u. v. m.

„Ein Klassiker lebt von seinen Legenden, seinen Mythen, auch seinen Vorurteilen. Welches WM-Duell hat mehr davon zu bieten?“ fragt die FR vor dem Duell England gegen Argentinien. Es sind weniger die Schatten des Falkland-Kriegs vor 20 Jahren denn die zahlreichen Episoden aus der Fußball-Vergangenheit, welche diesem Duell Brisanz einhauchen. Man denke an die „Hand Gottes“ (Maradona 1986), den von seinem argentinischen Gegenspieler provozierten Platzverweis für David Beckham beim letzten Aufeinandertreffen (WM 1998) oder an das brutale Foul am selben Spieler durch den Argentinier Duscher vor etwa sechs Wochen. Primär jedoch – so ist zu hoffen – geht es heute (13.30) um drei Punkte und die rein sportliche Frage, ob das Team Englands stark genug sein wird, gegen den Turnierfavoriten zu bestehen.

„Hat dieses Team, das alles gewonnen hat, überhaupt noch die innere Kraft, ein weiteres großes Ziel anzugehen?“ stellt die SZ Frankreichs Ambitionen in Zweifel. „Von der Selbstsicherheit des Aushängeschilds der „Grande Nation“ sind nur noch Durchhalteparolen übrig geblieben“, beschreibt die NZZ die Außendarstellung des Titelverteidigers nach dem torlosen Remis gegen Uruguay. Seine Chancen auf ein Erreichen der zweiten Runde hängen nunmehr in der Tat am seidenen Faden.

„Wie sich die Kameruner zum Sieg bequemten, erinnerte nicht an unzähmbare, sondern an faule Löwen“ urteilt die FAZ über die Leistung Kameruns beim glücklichen 1:0-Sieg gegen Saudi-Arabien, das sich durch einen spielerisch geglückten Auftritt für das von deutschen geschnürte Päckchen rehabilitiert hat. „Reden sich Trainer Winfried Schäfer und seine unbezähmbaren Löwen ihre Stärke nur ein?“ Solche Zweifel an Kameruns Können hegt nicht nur die NZZ.

Außerdem: die Situation der DFB-Auswahl nach dem Unentschieden gegen Irland, mediale Euphorie in Italien, Fußball im deutschen TV sowie in Holland, einen philosophischen Diskurs und: Die WM wird doch in den USA wahrgenommen. Machen Sie mit bei unserem Gewinnspiel, profitieren Sie von unserem kostenlosen und werbefreien Newsletter und achten Sie auf den Nachschuss.

Pressestimmen zu den Spielen der Gruppe A (FRA-URU, DEN-SEN)

Pressestimmen zum Spiel Kamerun-Saudi/Arabien (1:0)

Pressestimmen

Die italienische Anteilnahme an der WM beschreibt Dirk Schümer (FAZ 7.6.). „Wie immer im Land der großen Töne sind die Erwartungen himmelhochjauchzend und zielen mindestens bis ins Finale. Doch verstünde jemand, der dies alles gar zu ernst nimmt, die italienische Mentalität schlecht. Die mediale Euphorie wird – wie in der Oper, wie beim Schlagerfestival – als belebendes Element des Weltspektakels gerne mit-, aber niemals allzu schwer genommen. In diesem seit der Renaissance gepflegten Ton des pathetischen Heldenepos hat sich bereits Candido Cannavò, der frisch pensionierte Doyen unter Italiens Sportjournalisten, in seinem Hausblatt Gazzetta dello Sport zu Wort gemeldet – einer wundervollen Tageszeitung ohne vom Sport ablenkendes Beiwerk, die nicht ohne psychologischen Nebeneffekt auf rosa Papier erscheint. Der feinsinnige Sizilianer verglich den muskulösen Doppeltorschützen Christian Vieri gleich zum Auftakt mit einem wiederbelebten Bronzekrieger aus Riace und stellte damit die Athleten von heute souverän in eine Reihe mit den Idealkörpern der Antike, auf deren Kultur das heutige Italien gelassener und glücklicher ruht, als der Rest der Welt dies gewöhnlich wahrnimmt. Mit feingeformten Götterfiguren, allerdings aus Fleisch und Blut und nicht aus Marmor, wollen die Italiener diesmal weit kommen. Sie können sich sicher sein, dass ihre Medien sie dabei mit Emotion wie Information nicht zu knapp versorgen werden.“

Nicht alle Deutschen können die WM im Fernsehen verfolgen, nicht mal das öffentlich-rechtliche Angebot. Michael Hanfeld (FAZ 7.6.) zu diesem Thema. „Bis zum Tag vor der WM hatten die öffentlich-rechtlichen Sender die Fußballfans noch in dem Glauben gelassen, dass sie zumindest ansatzweise eine „WM-Grundversorgung“ zu leisten imstande seien. Tausende von Protestanrufen der Enttäuschten gingen bei den Sendern daraufhin ein, besonders bei der ARD, auch bei Sat.1, seitens des ZDF war derweil beschwichtigend von einer ‚Aufwallung für einen Tag‘ die Rede. Ein Zuschauer hat schließlich versucht, die Sender gerichtlich dazu verpflichten zu lassen, die WM auch digital auszustrahlen. Er ist mit seinem Antrag auf eine einstweilige Anordnung vor dem Verwaltungsgericht Köln kläglich gescheitert (…) Einfluss nehmen auf den Geld- und Rechtekreislauf können die Zuschauer nur durch Abschalten. Doch das ist dem verwehrt, der erst gar nicht zugeschaltet wird. Was bleibt, ist das Warten auf den mit der Kirch-Krise bereits eingetretenen Kollaps des finanziell überreizten Fußballfernsehsystems.“

Frank Ketterer (taz 7.6.) über die Situation der Obdachlosen in Tokios Vorstadt. „Bei den Menschen in dieser finsteren Gasse von Ueno ist die WM nie angekommen und sie wird es auch nicht tun. In dieser Gasse geht es um andere Dinge als um ein 1:0, und dass man das hier überhaupt erwähnt, hat vielleicht damit zu tun, dass man doch ziemlich erschrocken ist, wie nahe die Dinge beieinander liegen können: die Gosse von Ueno und das große, bunte Fußballfest. Und auch die Menschen unter den Pappkartons sind erschrocken, dass ein Fremder sich hierher zu ihnen verirrt hat, man hat das an ihren müden Augen gesehen, die einen für einen intensiven Moment lang gemustert haben, bevor sich ihr Blick wieder abwendete.“

Die kroatische Zeitung Vecernji List (6.6.) bemerkt zum deutschen Spiel. „Die Weisheit, dass Fußball ein Sport mit 22 Spielern und einem Schiedsrichter ist und am Ende die deutschen immer gewinnen, muss nun ersetzt werden: Fußball ist ein Spiel, bei dem sich die irischen Spieler mit Geduld und der Eigenschaft, nicht aufzugeben, auszeichnen. In den letzten beiden Spielen lagen sie 0:1 zurück und schafften trotzdem immer den Ausgleich.“

Irische „Unbesiegbarkeit“ („You´ll never beat the Irish“) ruft Philipp Selldorf (SZ 7.6.) ins Gedächtnis deutscher Fußballanhänger. „Zweimal hat das Nationalteam der Republik Irland in den letzten 25 Länderspielen verloren: Mitte Mai zuhause bei der WM- Abschiedsparty gegen Nigeria (1:2); sowie im November 2001 im Rückspiel um die WM-Qualifikation in Teheran gegen Iran durch ein unwichtiges Tor in der letzten Minute (…) Vielleicht tröstet das die ratlosen deutschen Fußballfans, die nun wieder darüber grübeln, was ihre Elf bei der WM zu Wege bringen kann.“

Jan Christian Müller (FR 7.6.) analysiert den Zustand der deutschen Nationalmannschaft nach dem Remis gegen Irland. „Das Ziel vor Augen, die Enttäuschung im Nacken, befindet sich die Schicksalsgemeinschaft unter der Führung des zufälligen Teamchefs Rudi Völler nun an einem ähnlichen Punkt wie einst im November. Damals drohte vor den Relegationsspielen gegen die Ukraine erstmals in der deutschen Fußball-Geschichte das Scheitern bereits in der WM-Qualifikation. Ein gutes halbes Jahr später droht das erstmalige Aus in einer WM-Vorrunde. Der Druck sei damals kaum auszuhalten gewesen, hat Völler oft erinnert und beteuert, wie eng die Mannschaft dadurch zusammengerückt sei. Nun kann sie beweisen, dass der Herbst 2001 sie tatsächlich in ihrer Entwicklung weitergebracht hat. Die nächsten Tage bis zum Spiel am Dienstag gegen Kamerun werden schwierig, schwieriger als im düsteren November. Die deutsche Öffentlichkeit hält ein Brennglas über einen vereinsamten Freizeitpark im noch sonnigen Süden von Japan. Gerade Völler und Skibbe werden beweisen müssen, dass sie mit dieser Situation besser umzugehen wissen als mit jener in der Schlussphase gegen Irland.“

Peter Heß (FAZ 7.6.) fasst die Güteklasse der deutschen Elf zusammen. „Gehobene Mittelklasse. Gut genug, um gegen die meisten WM-Teilnehmer jederzeit gewinnen zu können, aber mäßig genug, um gegen die meisten auch zu verlieren. Nur gegen die Besten und die Schlechtesten bedürfte es schon vieler außergewöhnlicher Umstände und Ereignisse für eine extreme Überraschung, positiv oder negativ.“

Siggi Weidemann (SZ 7.6.) war kürzlich zu Gast in Holland. „Es ist still an den Grachten, nur der Gesang einer Amsel ist zu hören. Doch dann schallt Geschrei aus dem mehrstöckigen Reklamebüro nebenan. Irland hat das 1:1 gegen Deutschland geschossen und die Menschen freuen sich. Hauptsache die „Mannschaft“ verliert. Sonst aber ist es auffallend ruhig in diesen WM-Tagen. Wer in einer Kneipe Fußball gucken will, muss lange suchen. Es gibt weder Polonaisen noch orangefarbene Flaggen, und auch die Bäcker verkaufen keine orangefarbenen Sahnestückchen.“

Benjamin Henrichs (SZ 7.6.) führt Diskurs. „Die philosophische Kraft des Fußballs ist auch nach Herbergers Ableben nicht erloschen. Obwohl sie heute manchmal unterschätzt, ja gar nicht erkannt wird. Die deutsche Mannschaft, so erklärte zum Beispiel Trainer Skibbe schon vor Turnierbeginn, habe „genug Substanz und Potenzial“, um eine hervorragende Rolle bei dieser WM zu spielen. Substanz und Potenzial – da lachen die intellektuellen Besserwisser im Lande! Und ahnen nicht, dass der alte Heidegger in seiner Todtnauberger Hütte lange über die haarfeinen Differenzen zwischen Substanz und Potenzial nachgedacht hat – leider sind seine Notizen hierzu verschollen.“

Zu den überraschenden Reaktionen der US-amerikanischen Medien nach dem 3:2-Sieg gegen Portugal bemerkt Jürgen Kalwa (FAZ 7.6.). „Die amerikanischen Fußballer haben sich mit ihrem Sieg über Portugal eine Aufmerksamkeit erspielt, die weit über das übliche Maß hinausgeht. Die Mannschaft von Bruce Arena, die nach dem schlechten Abschneiden vor vier Jahren in Frankreich ohne nennenswerte öffentliche Anteilnahme zur Weltmeisterschaft nach Südkorea gereist war, produzierte am Mittwoch Nationalstolz pur, der zu Hause sogleich in großen Schlagzeilen verarbeitet wurde. Auch die Vokabeln klangen groß. Die New York Times, die führende Tageszeitung der Vereinigten Staaten, lobte die Fußball-Delegation des Landes nach nur neunzig Minuten bereits zum ’schlafenden Giganten‘ hoch, der für ‚Aufruhr in der Fußball-Welt‘ sorge. Die New York Post sah in dem Resultat einen der größten Außenseiter-Erfolge in der WM-Geschichte. Die Daily News in Los Angeles schwärmte: ‚Es war unvergesslich.‘ Die ansonsten eher sachliche Washington Post schrieb gar von einem Schocker und wunderte sich: ‚Wer sind diese Jungs?‘“

Dem schwachen Auftritt gegen Mexiko sowie der schweren Aufgabe im morgigen Spiel gegen Italien zum Trotz ist man in Kroatiens Lager optimistisch. Vercernij List (6.6.) dazu. „Trainer Jozic, aufgrund des katastrophalen Spiels seiner Mannschaft gegen Mexiko unter Druck, meidet den Kontakt mit der Presse. Die wenigen Aussagen, die von ihm zu erhalten sind, lassen erahnen, dass es gegen Italien am Samstag wohl keine „Bunker-Taktik“ geben wird. „Wenn wir es schaffen, Vierri und Totti auszuschalten, ist alles möglich. Wir werden nicht auf ein Unentschieden spielen. Die Chancen stehen 50:50.“ Das findet sogar Miroslav Blazevic gut – Trainer der kroatischen Elf von 1998, die damals WM-Dritter wurde –, der meinte: „Damit wäre das Problem gelöst: kein Zu-Null-Spiel mehr, bravo!“ Der Ex-Trainer fuhr fort: „Ich denke, die Chancen stehen in diesem Fall sogar 65:35 für uns.“ Wie die Journalisten erfahren konnten, gab es wohl ein Treffen der beiden, in dessen Rahmen auch über das bevorstehende Italien-Spiel geplaudert wurde.“

In Südkorea hat sich Helmut Schümann (Die Zeit 6.6) auf Spurensuche begeben und nur das „Imitat einer Weltmeisterschaft“ vorgefunden. Er berichtet vom Eröffnungsspiel in Seoul. „Knapp 64.000 Menschen sind im Stadion, ein paar Franzosen sind da, ein paar Senegalesen, insgesamt vielleicht 1.000 Menschen. Die singen, schreien, stöhnen. Die anderen schauen auf die Anzeigentafel, wo eine digitale Farbskala die Lautstärke im Stadion anzeigt und auffordert zu singen: »La, la, la!« Die Fans bleiben stehen nach dem Abpfiff, die Zuschauer gehen.“ Und die Unterstützung der teilnehmenden Mannschaften durch 32 koreanische Konzerne gestaltet sich derart: „Sie haben Nationaltrikots angefertigt, den Firmennamen mit aufgeflockt und verdienten Mitarbeitern ausgehändigt. Und die sitzen dann mit Freikarten im Stadion und entrollen große Transparente, auf denen zum Beispiel steht: „Ulsan citizen supports Denmark. Hyundai.“ Wenn dann der Uruguayer Rodriguez einen langen, aber doch völlig harmlosen Pass auf den Flügel schlägt und die südkoreanischen Dänen entsetzt aufschreien, dann wird der Verdacht Gewissheit, dass das Gros dieser Supporter noch nicht viele Fußballspiele gesehen hat.“

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