Ballschrank
„WM, Abschied im Zorn“
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| Donnerstag, 25. März 2004
Trauer und Wut, vor allem aber die Empörung über einen „geraubten Sieg“ beherrschen die Schlagzeilen der italienischen Tageszeitungen am Tag nach der Niederlage gegen Südkorea. „WM, Abschied im Zorn“ titelt La Repubblica, „Schmutzige WM“ heißt es im Corriere della Sera. Nach fünf zu Unrecht annullierten Toren bei dieser WM gibt es kein Halten mehr: Komplottgerüchte kursieren, Totti Co. schlagen die Umkleidekabinen kurz und klein, Schiedrichter Moreno muss nach massiver Bedrohung durch die Azzurri unter Personenschutz gestellt werden. Der italienische Ministerpräsident (und Außenminister) Berlusconi ist sprachlos: „Schade, schade … ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll!“ (La Repubblica). Erste Parteifreunde von Forza Italia fordern, Berlusconi möge doch nach dem absehbaren Rücktritt Franco Carraros, des Präsidenten italienischen Fußballverbandes Federcalcio, in bewährter Manier auch hier das Heft in die Hand nehmen. Kritik übt Gianni Mura, Kommentator der Repubblica, auch an Trapattoni, doch nur an seinem Mangel an Contenance während des Spiels: „Trapattoni hat man noch nie so erregt gesehen: Er tritt mit Flaschen, streitet ununterbrochen, boxt mit der Plastikwand, hinter der die Männer von der Fifa stehen. Ein bisschen mehr Ruhe könnte nicht schaden, denn diese Anspannung überträgt sich auf die Spieler.“ Schließlich solle man sich auch daran erinnern, dass in vier Spielen Italien nur einmal gesiegt habe, und zwar gegen Ekuador. Heftigere Geschütze fährt der Corriere della Sera auf: Giorgio Tosati schürt den Komplottverdacht: „Italien ist aus einer schmutzigen WM rausgeflogen, bei der Schiedsrichter und Linienrichter gedungene Meuchelmörder sind. Es ist die WM der Bande, die sich der Fifa bemächtigt hat, eine WM der skrupellosen und machtgierigen Organisatoren wie der Koreaner, eine WM der Bosse, die sich mit der Zeit wichtiger Stücke des Kuchens bemächtigt haben (der Türke Erzik, der Deutsche Roth, der Soanier Villar). – Italien zählt nichts mehr im internationalen Fußball, alles Schuld der mangelnden Präsenz der Funktionäre.” Franco Carraro hüllt sich in beredtes Schweigen: „In Italien werde ich sprechen“. Zu viel Diplomatie, meint Alberto Costa (Corriere della Sera). Oder sei Carraro etwa im Besitz von brandheißen Gemeindienst-Informationen und die Azzurri in akuter Gefahr?
Italienische Reaktionen fasst Mark Schilling (NZZ 19.6.) zusammen. „Dementsprechend begab sich Franco Carraro, der italienische Verbandspräsident, nach Schlusspfiff wie an einer Abdankung auf das Podium und murmelte mit Grabesstimme, dass „altri considerazioni“, andere Erwägungen (er meinte damit sibyllinisch solche, welche die Referees betreffen), zu Hause getroffen werden, während der Commissario tecnico Trapattoni seinen Furor mit den Worten, dass sie in einigen Szenen „enorm bestraft“ worden seien, zügelte. Die Spieler hingegen machten aus ihren Herzen keine Mördergruben, trugen ihre Frustrationen ziemlich unverhohlen gegen aussen und bastelten gar an Verschwörungstheorien. Sowohl Captain Paolo Maldini, an sich eine besonnene Seele, als auch „Opfer“ Totti schilderten, dass der Anfang des Endes bereits vor Ankick begonnen habe, als Señor Moreno einzelnen Italienern das Shake hands verweigert habe. Der verletzte Abwehrturm Alessandro Nesta wiederum monierte das Übergewicht des Referees, was sich auch daran erkennen lasse, dass dieser beim Platzverweis Tottis etwa 45 m vom Tatort entfernt gestanden habe. Und Mannschafts-Oldie Angelo Di Livio stellte gar den eigenen Verband an den Pranger, da es diesem nicht gelungen sei, mehr Einfluss auf eine bessere Besetzung dieser Partie zu nehmen. Andere Azzurri wiederum, wie etwa Vieri, suchten wort- und fassungslos das Weite (…) Bei aller Kritik am Schiedsrichter müssen sich die Italiener doch auch den Vorwurf gefallen lassen, dass gemessen an den hochkarätigen Abschlussmöglichkeiten die Partie gar nie hätte in die Verlängerung gehen dürfen.“
Italienische Reaktionen nach dem Spiel fasst Dirk Schümer (FAZ 19.6.) zusammen. „Lag es am Schiedsrichter? Lag es am Linienrichter? Lag es am Pech mit den Abseitsentscheidungen? Oder lag es tatsächlich doch an den Leistungen der Azzurri? Im allgemeinen Entsetzen, nach sechsunddreißig Jahren wieder gegen einen Außenseiter aus Korea ausgeschieden zu sein, ist in Italien nun eine schwierige Tugend gefordert: als Verlierer „bella figura“ zu machen und mit Stil den herben Rückschlag zu verkraften. In den ersten Medienreaktionen wurde zuvörderst der ekuadorianische Schiedsrichter zum Buhmann: Ungerechte Rote Karte für Totti, falsches Abseits bei einem Tor von Tommasi in der Nachspielzeit. Offenbar hatten die Italiener bei diesem fernöstlichen Ausflug schlicht Pech, wie viele abergläubische Landsleute jetzt vollkommen sicher sind. Waren es insgesamt nicht vier korrekte Tore, die den Azzurri aberkannt worden waren? Erst in der zweiten Welle der Reaktionen wird es wohl so manchem dämmern, dass die Italiener mit ihrem zynischen und pur defensiven Spiel gehörig selbst an der Katastrophe mitgewerkelt haben. In erster Linie trifft die Wut Nationaltrainer Trapattoni, der gemäß seiner Sicherheitsphilosophie vor allem Verteidiger in den Kader berufen und auf den kreativen Star Roberto Baggio verzichtet hatte. Nun müssen die Italiener einer Taktik aus den sechziger Jahren Tribut zollen.“
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