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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

1:1 in Sarajevo

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für 1:1 in Sarajevo

Die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen nehmen ihre Arbeit derzeit ernster als die Spieler der deutschen Nationalmannschaft und bewerten das dürftige 1:1 in Sarajevo sehr kritisch. „Die Reise nach Sarajevo wird für den DFB zum karitativen Erfolg, sportlich aber geht einiges daneben“, fasst die FR die Erkenntnisse der Reise in ein vom Krieg zerrüttetes Land zusammen. Immerhin bleibt die positive Wirkung des Besuchs der deutschen Friedenstruppe. „Die deutschen Soldaten hatten ihren Spaß. Für die Moral der Truppe schickten die Amerikaner Marylin Monroe. Wir haben Oliver Kahn“ (FAZ).

Sportlich gesehen jedoch schrammte man knapp an einer blamablen Niederlage vorbei. „Das Problem ist nicht neu, dass die deutschen Profis ein Länderspiel ohne Punktwertung mit der gleichen Lust und Liebe betrachten wie Kaspar seine Suppe. Aber es ist immer wieder aufs Neue ärgerlich“ findet die SZ, während der FR – ähnlich wie Teamchef Rudi Völler – für die Zukunft Schlimmes schwant: „Es wird eher schlimmer: Nach der Europameisterschaft 2004 drohen dem DFB wegen fehlender Qualifikationsspiele für die 2006 in Deutschland anstehende WM lauter Muster ohne Wert – zwei Jahre lang. Schon jetzt graust es dem Teamchef vor dieser Zeit.“ Zu Völlers Forderungen, im Zeitraum vor der WM 2006 im eigenen Land eine Südamerikareise durchzuführen, wirft die taz ein: „Das hätte dann auch den Vorteil, dass dort keine Feldküchen der Bundeswehr besichtigt werden müssen. Hoffen wir zumindest.“

Außerdem: schwache Italiener, rassistische Vorfälle in Bratislava u.v.m.

Philipp Selldorf (SZ 14.10.) fasst die Reaktionen nach dem Spiel zusammen. „Für die triste Vorstellung fanden die Beteiligten mehr Erklärungen als es Moscheen in Sarajevo gibt – und das sind überraschend viele, erst kürzlich hat der saudische König Fahd einen kostspieligen Neubau gestiftet. So fehlten zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen die tragenden Mittelfeldakteure Michael Ballack und Dietmar Hamann – sie werden am Mittwoch in Hannover beim EM-Qualifikation aber wieder mitwirken können –, und während der wirklich miserablen ersten Hälfte hatte auch Bernd Schneider auf der Bank gesessen. Dank seines Eingreifens wurde es im zweiten Abschnitt ein wenig besser – was aber immer noch fern von gut liegt. Kapitän Kahn hielt dann zwar ein Plädoyer auf mildernde Umstände, aber welche Jury hätte ihn damit erhört?“

Thomas Kilchenstein (FR 14.10.) fragt sich zweifelnd. „Macht so ein Länderspiel in aller Freundschaft in Bosnien-Herzegowina Sinn? Natürlich macht es, im Nachhinein betrachtet, keinen Sinn. Eine kurze Vorbereitung, mieses Wetter, ein eigentlich unbespielbarer Platz, die Angst vor verletzungsfördernden Zweikämpfen, keine richtige Lust und organisatorische Unwägbarkeiten in einem von Bürgerkriegswirren noch sichtbar ruinierten Land – all das sind Dinge, die aus sportlicher Sicht nicht unbedingt für ein Länderspiel auf dem Balkan sprechen. Ansonsten wurde Kaffee mit Sfor-Soldaten getrunken und Schecks für soziale Einrichtungen verteilt. Das ist sicherlich ein feiner Zug, nur wird die Abenteuerreise Rudi Völler keine wesentlichen neue Fingerzeige gegeben haben. Bleibt also die, auch nicht mehr ganz brandheiße, Feststellung: Deutsche Nationalmannschaft und Freundschaftsspiele gegen so genannte „Kleine“ passen irgendwie nicht recht zusammen.“

Die Situation des Fußballs in Bosnien-Hercegevonina beschreibt Hans-Joachim Leyenberg (FAZ 12.10.). „Die Fußballszene hatte sich, den politischen Trennlinien folgend, in drei ethnisch getrennte Sektionen von Moslems, Kroaten und Serben gespalten. Erst im Mai dieses Jahres gelang es, alle Kicker unter dem Dach der bosnisch-hercegovinischen Fußball-Föderation zu vereinen. Wie in anderen Lebensbereichen auch, hat die internationale Gemeinschaft Druck ausgeübt. Sie drohte mit Geldentzug, sonst hätte sich nichts bewegt. Bis in dieses Frühjahr hinein wurden im Liga-Fußball mit seinen insgesamt 750 Klubs drei Meisterschaften ausgetragen. Jede Volksgruppe spielte einen eigenen Titel aus. Folgerichtig durfte keines der drei Teams an den europäischen Wettbewerben teilnehmen. Weder die Europäische Fußball-Union noch der internationale Verband akzeptierte dieses vom alten Nationalismus geprägte Treiben. Erst als die Titelträger den wahren Meister im Play-Off-Verfahren ermittelten, durften sie endlich zurück auf die europäische Bühne.“

Zur Bedeutung des Spiels lesen wir von Matti Lieske (taz 14.10.). „Ein echter Härtetest für das zuletzt so erfolgverwöhnte Team, ein Crashkurs über all das, was einem in den Niederungen des Weltfußballs an Grässlichkeiten widerfahren kann. Ein Stadion, in das sich außer den 700 geladenen Soldaten kaum jemand verlaufen hatte, ein Platz, den man eigentlich nur mit Schwimmflossen und Taucherbrille hätte betreten dürfen, ein unverschämter Gegner, der den hohen Besuch mit frechem Angriffsfußball quälte, und ein italienischer Schiedsrichter, der zwar noch nichts von Carsten Janckers akuter Strafraumfallsucht gehört hatte, aber dafür unversehens Doppelrot zückte, als sich Wörns und Salihamidzic einen bundesligaüblichen Austausch von Handgreiflichkeiten leisteten. Als vorweggenommene Zugabe hatte es tags zuvor an gleicher Stätte bereits ein 1:5 der U 21 gegeben, damit auch der deutsche Nachwuchs nicht zu übermütig wird (…) Rudi Völler nahm die schwache Leistung beim glücklichen 1:1 gelassen. Wenige Tage vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Färöer-Inseln am Mittwoch in Hannover schien ihm der Dämpfer gerade recht zu kommen. Schließlich geht es ihm seit dem verwunderlichen Einzug ins WM-Endspiel vor allem darum, zu verhindern, dass sich die alte Einteilung der Fußballwelt in Giganten (wir!) und Zwerge (die!) wieder in den Köpfen der Spieler festsetzt.“

Hans-Joachim Leyenberg (FAZ 14.10.) zum selben Thema. „Die Tour nach Sarajevo, die mancher versucht ist, als Tortur zu deuten, führte in ein Land, in dem vor sieben Jahren noch Ausnahmezustand herrschte. Mit einem Krieg mitten in Europa. Im Vorbeifahren sahen die deutschen Nationalspieler Einschusslöcher in den Hauswänden, Torsi von Gebäuden, zerbombte Straßenbahnen auf dem Abstellgleis in Sarajevos Depot, die von tatsächlichen Torturen kündeten. „Eine wertvolle Erfahrung für eine Generation, die keinen Krieg erlebt hat“, sagte Gerhard Mayer-Vorfelder, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), als handelte es sich um eine Bildungsreise (…) Es gab Nebenschauplätze, auf denen die Deutschen punkteten. Mit seinem ihm eigenen, bisweilen etwas aufdringlichen Charme eroberte Mayer-Vorfelder die Herzen der Kinder im Waisenhaus unweit der deutschen Botschaft. Neben Spielsachen und Süßigkeiten gab es einen Scheck über 5.000 Euro für die Einrichtung, in der 120 Waisen leben, die zwischen 15 Tage und 18 Jahre alt sind. 5000 Euro mögen wenig sein für den reichen DFB. Aber übers Jahr gesehen, gibt der Verband 100.000 bis 200.000 Euro für wohltätige Zwecke aus. Mayer-Vorfelder schwärmte von der Herzlichkeit der Gastgeber, und es gab wiederum Gastgeber, die von der Großherzigkeit der Gäste sprachen. In der Summe lässt all das die Sinnfrage nach Länderspielreisen in Schwellenländer des Fußballs in einem anderen Licht erscheinen.“

Thomas Kilchenstein (FR 14.10.) schaut voraus. „Gut also, dass nun der harte Brocken Färöer wartet, die haben zuletzt nur 2:0 gegen Litauen verloren. Das ist am Mittwoch kein Freundschaftsspiel mehr, sondern bitterster Ernst, und immer, wenn’s drauf ankommt, pflegt der DFB-Kicker genau den einen Schritt mehr zu tun, den er in Sarajevo zu spät gekommen war. Michael Ballack übrigens ist auch wieder gesund geworden. Prima Timing.“

Philipp Selldorf (SZ 14.10.) blickt in die Zukunft. „Für den Teamchef Rudi Völler, der in seinem Fußballerleben auch schon einige freudlose Kicks auf Malta oder Zypern absolviert hat, bietet diese Sorte Überdruss außerdem einen beunruhigenden Ausblick auf die nahe und ferne Zukunft. Am Mittwoch kommt die großmächtige Vertretung der Färöer-Inseln, und Völler kommt sich vor wie der Pastor, der zweimal predigt. Vor allem aber fürchtet er die Zeiten vor der WM 2006, wenn keiner mehr mit Deutschland um Punkte spielt. Da ein Antrag auf Eingliederung des Gastgebers Deutschland in den Qualifikationsbetrieb ebenso wenig zur Disposition steht wie die Weitergabe der WM an Südafrika oder England, wird Völler noch häufig predigen müssen, dass selbst ein Testspiel im Zwielicht vor 5.000 Zuschauern, bei tiefem Boden und mit schwerem Magen, eine Sache von Belang bleibt.“

Rote Karten für Wörns und Salihamidzic SZ

Portrait Carsten Jancker Tsp

Andere EM-Qualifikationsspiele

Spielbericht Island – Schottland (0:2) SZ

„Der spielerische Mehrwert des schottischen Sieges war bescheiden, der moralische überwog bei weitem“. Christian Eichler (FAZ 14.10.) fasst die Reaktionen der schottischen Presse auf den Sieg zusammen.

Spielbericht Slowakei – England (1:2) NZZ

Rassistische Vorfälle beim Spiel in Bratislava FR

Zum 1:1-Remis der Italiener gegen Jugoslawien meint Dirk Schümer (FAZ 14.10.). „Schön spielen und gewinnen – das sei mit ihm nicht zu haben. Mit derart ernüchternden Worten hatte Giovanni Trapattoni vor dem Europameisterschaftsqualifikationsspiel gegen Jugoslawien die Erwartungen der Tifosi heruntergedämpft. Aber waren da überhaupt Erwartungen? Zuletzt hatten die Italiener unter ihrem eisgrauen Nationaltrainer in der Regel weder schön gespielt noch hässlich gewonnen. Selbst gegen den ersten Gruppengegner Aserbeidschan war nur ein beschämend glückliches 2:0 herausgesprungen. Die so begeisterungsfähigen Fans im Stadio San Carlo von Neapel, wo einst Diego Maradona von seiner Gemeinde zu den Göttern des Sports erhoben wurde, wären also schon mit einem Arbeitssieg zufrieden gewesen. Aber am Ende gab es mit einem mehr als dürftigen 1:1 das erwartete Unentschieden – ein Ergebnis, das dem Tore- und Spielverhinderer Trapattoni ebenso auf den Leib geschneidert schien wie der anthrazitfarbene Anzug, mit dem er auch am Samstag Abend wieder eine bessere Figur machte als seine ungeschlachte Elf. Nun mehren sich nicht nur in den Medien bedenklich die Stimmen, diesen alternden Gentiluomo mit dem heiseren Organ, über den eine ganze Fußball-Ära wirkungslos hinweggegangen ist, endlich zu pensionieren (…) Angesichts des flotten und respektlosen Spiels, das der junge Teamchef Jugoslawiens einer Legionärstruppe aus Europas Ligen beigebracht hat, fragen sich nun auch Italiens verantwortliche Funktionäre, ob man sich nicht besser nach einem Übungsleiter umsehen sollte, der nach der Ära des Schwarzweißfernsehens selbst noch auf dem grünen Rasen stand. Die traditionsreiche Mannschaft der Azzurri wirkte jedenfalls mit einer Sechserkette und einem Faible für nutzlose Tacklings eher wie eine britische Zweitligamannschaft.“

Birgit Schönau (SZ 14.10.) zum selben Spiel. „Wenn die Langeweile im Fußball doch noch eines Tages zum Kult erhoben werden sollte, hätte Giovanni Trapattoni der erbitterten internationalen Konkurrenz zum Trotz beste Chancen auf das Amt des Hohepriesters. So uninspiriert, müde und ermüdend quälte sich seine Auswahl am Samstag in Neapel durch ein 1:1 im EM-Qualifikationsspiel gegen Jugoslawien, als müsse sie einen Ritus des Ennui zelebrieren (…) In Wirklichkeit ist der italienische Fußball nahezu monströs schnelllebig geworden, ohne Pietät und Respekt frisst er seine eigenen Mythen, er ist zum Spielball der Politik verkommen, zum humorlosen Objekt einer Unterhaltungsindustrie ohne Reibung und Höhepunkte. Trapattoni, bei seiner Ankunft zum Retter des Vaterlandes gesalbt, scheint vordergründig von dieser Entwicklung zu profitieren, in Zahlen sozusagen, ist aber eigentlich als Vertreter jener Dinosauriergeneration, die den Fußball lebte, anstatt ihn auszubeuten, zum Scheitern verurteilt. Eine tragische Figur vielleicht, weil wir aber in Italien sind, auf jeden Fall eine tragikomische. Das Problem der Trapattoni-Elf ist, dass sie eine der beiden Grundbedingungen des Fußballs nicht erfüllt. Spektakel oder Ergebnis.“

Spielbericht Italien – Jugoslawien (1:1) NZZ

Italiens Fußball unter Dopingverdacht SZ

Spielbericht Frankreich – Slowenien (5:0) NZZ

Spielbericht Albanien – Schweiz (1:1) NZZ

Kommentar zur Lage des Schweizer Fußballs NZZ

„Fußball nährt in Albanien die Illusion vom westeuropäischen Leben“ NZZ

Georgien – Russland abgebrochen NZZ

Sammelbericht SZ

Rehhagel vor dem Rauswurf? FR

Zu den Diskussionen um Ronaldos Übergewicht bemerkt Christian Eichler (FAZ 12.10.). „Früher durfte nicht nur der Fußball kugelig sein, auch der Fußballer – Hauptsache, das Spiel war eine runde Sache. Vom späten Puskas bis zum späten Maradona zeigten dickliche Diven herrliche Ballkunst; schossen von Müller bis Romario pummlige Stürmer Tore wie nichts; zauberten von Ettmayer bis Gascoigne dralle Ballstreichler mit kleinstem Raumbedarf. Alles nach dem Motto: Wer so viel draufhat, darf auch zuviel Pfunde draufhaben. Die drahtigen Renner von heute bringen das so nicht hin. Schließlich wird Fußball mit Bein und Kopf gespielt, nicht mit Waschbrettbauch. Wohlgemerkt: gespielt. Gewonnen wird er natürlich längst anders: immer mehr durch Fleiß als durch Finesse. Moderner Fußball ist Laufarbeit für elf Leichtathleten; auch Stars müssen rennen und Stürmer verteidigen, und dünner läuft es sich eben leichter. Bei Birmingham City reduzierte Trainer Steve Bruce das durchschnittliche Körperfett der Spieler von 14 auf 10,8 Prozent – der Klub stieg auf und überrascht in der Premier League. Bei Standard Lüttich führten sie im vergangenen Jahr heftige Speck-Strafen ein: pro Kilo Übergewicht 500 Euro. Im Moment allerdings stehen die wallonischen Weight Watchers auf einem Abstiegsplatz der belgischen Liga, die übrigens nach einer Biermarke benannt ist. Abnehmen allein ist eben auch nicht alles. Nur eins ist klar. Wenn schon der beste Stürmer der Welt dem Diät-Terror ausgesetzt wird, dann sind sie wohl endgültig da: die mageren Jahre im Fußball.“

Gewinnspiel für Experten

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