Ballschrank
Nun muss man mit Geyer fürchten, dass Cottbus ganz von der Fußball-Landkarte verschwindet
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| Donnerstag, 25. März 2004
Thomas Kilchenstein (FR 12.5.) kommentiert den Abstieg des Energie Cottbus. „Regelmäßig hatten die Experten die Cottbusser als ersten Absteiger ganz oben auf der Liste, drei Mal (eigentlich zwei Mal) haben die sie Lügen gestraft. Ehrlich gesagt: Nun reicht es aber auch. In der Bundesliga hat es immer Nischen fürs Anderssein gegeben. Siehe: die Kiez-Kicker von St. Pauli, die Breisgau-Brasilianer aus Freiburg, die Ulmer Spatzen, bald vielleicht die Karnevalisten-Combo aus Mainz. Auch Energie Cottbus hat seine Rolle gespielt. Die Rolle war die des kleinen Underdogs, des Unbeugsamen, der sich nicht unterkriegen lässt. Allem Unbill zum Trotz und mit ehrbaren Mitteln, als da waren: Geschlossenheit, Kampfeswille, Engagement, Disziplin, sogar eine Prise List und Raffinesse. Mit Eigenschaften also, die einen David ausmachen, der ins Duell gegen Goliath ziehen muss. Samstag für Samstag. Und bestimmt war auch eine Prise Folklore dabei, den Jungs nahe der polnischen Grenze beim Strampeln gegen die Großen zuzusehen. Man hat den Hut gezogen vor der Leistung der Cottbusser, die sich mit Zähnen an diese Bundesliga klammerten, die, auch stellvertretend für den Osten der Republik, gezeigt haben, dass man auch mit kleinem Geld mithalten kann – wenigstens für eine gewisse Zeit. Die ist nun abgelaufen. Nun muss man mit Geyer fürchten, dass Cottbus ganz von der Fußball-Landkarte verschwindet, so wie Dynamo Dresden, der VfB Leipzig oder der 1. FC Magdeburg. Die Gefahr ist groß.“
In Cottbus haben Kopfballpendel und Medizinbälle nicht ausgedient
Matthias Wolf (BLZ 12.5.) porträtiert Coach Edurad Geyer. „Der knorrige Sachse sagt, er habe lauter brüllen müssen als andere Trainer, um seine Profis zu Höchstleistungen zu treiben. Denn auf dem Papier waren die viel schlechter als die Konkurrenz. Seine Aufgabe war es, Talente oder billige Kicker vom Balkan auf Bundesligaformat zu trimmen. Er tat dies mit Methoden, die andere antiquiert nennen: In Cottbus haben Kopfballpendel und Medizinbälle nicht ausgedient. Statt teurer Hotels buchte Geyer kasernenartige Trainingscamps. Als Spieler murrten, knurrte er: Nächstes Jahr schlafen wir im Zelt. Dann hetzte er sie auf Berge, bis sich viele übergeben mussten. Gefürchtet waren Straf-Liegestütze und Schulnoten für Spieler, die er in sein Buch eintrug. Selbst die Frisuren der Profis kritisierte er: Lange Haare sind was für Mädchen. Ich brauche echte Männer. Auch für diese Anekdoten wird die Liga, an echten Typen längst verarmt, den schrulligen Ede vermissen. Den Ehrgeizling, der früher nicht einmal seine Kinder beim Kartenspiel gewinnen ließ. Geyer sprach immer aus, was er dachte. Mal nannte er seine Spieler Nachtwächter; ein andermal warf er ihnen vor, zu rauchen, zu saufen und zu huren wie die Nutten auf St. Pauli. Doch in letzter Zeit ist der Cottbuser Einpeitscher etwas ruhiger geworden. Statt Ausdauerläufen ordnete Geyer Badminton an, las Psychologiebücher und suchte in seinem neunten Jahr bei Energie Entspannung beim Wandern und Pilzesuchen. Fast hätte er sogar aufgehört, müde vom Kämpfen – und Verlieren. Nun macht er doch ein Jahr weiter. Weil er noch einmal zu den Siegern zählen will.“
Detlef Dresslein (FAZ 12.5.) berichtet vom Spiel. „Energie Cottbus steht nach seinem hundertsten Spiel in der Bundesliga, in der man bisher exakt hundert Punkte geholt hat, als hundertster Absteiger fest. Das stand nach dem 0:3 beim TSV München 1860 fest. Und nun wachsen in Cottbus die Sorgen. Nicht wegen des Abstiegs, denn darauf konnte man sich in den letzten Wochen vorbereiten wie Torwart Lenz sagte. Aber das Wie der Vorstellung von München hinterläßt Ratlosigkeit. Für Mittelfeldspieler Rost war es grausam mitanzusehen, und Stürmer Juskowiak sagte, daß wir heute nicht nach vorne gespielt haben, und hinten war’s noch schlimmer. Dreimal entsandte man den Ball in Richtung Münchner Tor. Versuche, die weit von der Bezeichnung Torchance entfernt waren. Nach mehr als einer Stunde bekam man die erste Ecke zugesprochen, und in der Abwehr bevorzugte man die kontaktarme Gegnerbewachung. Temperament, Leidenschaft und was sonst zum Fußball gehört, haben gefehlt, sagte Trainer Eduard Geyer. Was zur Folge hatte, daß die Münchner ein Spielchen boten, was manch jüngerer Stadionbesucher so noch nicht erlebt haben dürfte. Hackentricks, Doppelpässe, gelungene Zuspiele über zwanzig, dreißig Meter und ein paar gekonnte Torversuche.“
Nervenzerfetzendes Fernduell
Christian Zaschke (SZ 12.5.) befasst sich mit der Stimmung bei den Siegern. „Ein Spiel, in dem es um fast alles ging: Für Cottbus darum, nicht allzu schlecht auszusehen, für 1860 um die Qualifikation zur Teilnahme am so legendären wie beliebten Uefa-Intertoto-Cup, kurz: UI-Cup. Was die ohnehin unerträglich Spannung im Olympiastadion noch einmal steigerte, war das nervenzerfetzende Fernduell, dass die Sechziger seit einigen Wochen mit dem VfL Wolfsburg um Platz acht austragen. Wolfsburg spielte nur Unentschieden gegen Kaiserslautern, die Löwen besiegten Cottbus und schoben sich auf Rang acht der Tabelle. Der UI-Cup ist nah, und der Jubel war groß. Er war tatsächlich recht groß, weil die Anhänger des TSV 1860 bescheiden geworden sind. Irgendwer muss in der Mitte der Liga spielen, und in jüngster Vergangenheit ist es eben der TSV 1860. Die Fans haben sich, so schien es am amstagnachmittag, damit abgefunden. Das mag auch daran gelegen haben, dass ihnen vor Augen geführt wurde, dass ein Platz in der Mitte allemal besser ist als der Platz von Cottbus. Nun sind sie abgestiegen, und an den schlechten Tagen der kommenden Saison werden sie wohl manchmal träumerisch an jene idyllische Gegend denken, in der 1860 wohnt; ans schöne Niemandsland.“
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