Ballschrank
Angst, ein neues Wort bei den Bayern
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| Donnerstag, 25. März 2004Angst, ein neues Wort bei den Bayern – knapper Sieg gegen RSC Anderlecht – Kritik an der Bild-Zeitung für erneute Deisler-Schlagzeile
Bayern München siegt und leidet. „Ist das wirklich noch der FC Bayern?“, fragt die SZ nach dem 1:0 der Münchner, dem „Meister der Angst und Atemnot“ (FAZ), über den RSC Anderlecht. Ist das wirklich noch der FC Bayern, dessen Spieler, Offizielle und Fans nicht nur Angst zeigen, sondern diesen an und für sich anti-bayerischen Gemütszustand sogar kleinmütig zugeben? Die FAZ lässt die Luft aus den einschüchternden Worten des Managers Uli Hoeneß, der den Mund in letzter Zeit wieder mal nicht voll genug bekam: „Wer selbst von der Angst gepackt wird kann niemandem einen Schrecken einjagen.“ Die Financial Times Deutschland prophezeit den Bayern schlechte Erfahrungen: „Das Achtelfinale ist für diese Bayern-Elf nicht mehr als die Aussicht, wenigstens gegen einen Großen der Branche Abschied von der europäischen Bühne zu nehmen.“ Der VfB Stuttgart verliert und freut sich: Nach der Niederlage in Manchester verlängert Jung-Star und Identifikationsfigur Kevin Kuranyi seinen Vertrag und will nun wieder Tore schießen.
Angstvolle Schreie des Publikums
Andreas Burkert (SZ 12.12.) spürt und hört die Furcht der Sieger: “Ottmar Hitzfeld hat hinterher nicht wirklich verraten, was in jenen 30, 40 Sekunden in ihm vorgegangen ist, als er reglos und alleine vor seiner Trainerbank stand. Hitzfeld war unfähig zu einer deutbaren Reaktion, nachdem Schiedsrichter Nielsen die denkwürdige Partie abgepfiffen hatte – aus Sicht des FC Bayern die zweite erfreuliche Leistung des Dänen nach seiner verblüffenden Elfmeterentscheidung. Auf dem Rasen freute sich niemand über das erlösende Resultat, sie stützten matt ihre Hände auf den Oberschenkeln ab oder sanken kraftlos zu Boden wie Oliver Kahn und Sammy Kuffour. Die beiden drückten sich so fest aneinander, als seien sie die einzigen Überlebenden der Titanic. Hitzfeld starrte statuengleich in ihre Richtung. Vielleicht stand er einfach nur unter Schock. „Man muss auch mal Gefühle zeigen in solchen Momenten“, sagte er im Kabinengang und fügte an, „um einige Jahre gealtert“ zu sein. Wenn Ottmar Hitzfeld Gefühle zeigt, sieht man sie nicht. Was Hitzfeld, 52 000 Menschen im Olympiastadion und neun Millionen Fernsehzuschauer beim knappsten aller Siege über den belgischen Tabellenführer erlebt hatten, wird so rasch nicht aus der Erinnerung zu löschen sein. Panikattacken und Versagensängste hatten ihre Bemühungen geprägt. In den letzten Minuten wirkten diese Bemühungen wie Versuche eines Knäuels putziger F-Jugendlicher, die in Ermangelung kräftiger Oberschenkel den Ball nicht über die Strafraumgrenze hinaus treten können. Aberwitzige Szenen spielten sich ab, und als der Ukrainer Jachtschuk in der Nachspielzeit volley abzog, begleiteten den Ball ein allerletztes Mal angstvolle Schreie des Publikums.”
Massel, Dusel und Schwein z’amm’ hams’ g’habt
Heinz-Wilhelm Bertram (FTD 12.12.) protokolliert die Unzufriedenheit der Zuschauer: „Der Radioreporter hatte leichtes Spiel. Das Mikrofon einfach nur hineinhalten in die abwandernden Zuschauer: Da wurde geschimpft und gepoltert, was das Bayerische hergibt: „Massel, Dusel und Schwein z’amm’ hams’ g’habt.“ Nein, sagte einer, er wisse nicht, „was mit deana los is’. Die san ja rumg’laufn wie an Hüanerhaufn. Schlimm.“ Gut, dass Oliver Kahn das nicht gehört hat. Der Bayern-Torwart hatte noch nach dem 1:0-Sieg gegen den RSC Anderlecht darüber geklagt, die Presse mache sein Team so schlecht. Und nun verzweifeln sogar die eigenen Fans. Dabei hätte alles so nett sein können, nach einem großzügig gegebenen Elfmeter (…) Angst vor elf belgischen Fußballzwergen. So weit ist es also gekommen beim demonstrativ machtvollen Klub. Kaum etwas spricht für Besserung während der Winterpause. Denn die Mängel dieser Bayern-Elf sind weniger tagesaktuell oder verletzungsbedingt – sie sind struktureller Art. So gerät etwa Zé Roberto in den Ruf, ein selbstverliebter Ballkünstler zu sein, den Hoeneß lieber heute als morgen über den Brenner transferieren würde. Michael Ballack gelingt es nicht, ein druckvolles Offensivspiel zu initiieren, der kranke Sebastian Deisler ist ein Fall für sich, und Roy Makaay wirkt spielerisch wie ein Fremdling in der Mannschaft.“
Preisgabe der zentralen Vereinsdoktrin
Philipp Selldorf (SZ 12.12.) beschreibt die Münchner Selbstbescheidung: „Auf die Frage, ob es Gegner gebe, denen er im Achtelfinale lieber nicht begegnen wolle, wusste Roy Makaay sofort eine Antwort: „Alle“, hat der Angreifer gesagt, und damit, halb im Scherz, halb im Ernst, eine für die Bayern ungemein schmerzliche Wahrheit ausgesprochen. Die Münchner, die vor dem Beginn dieser Saison dermaßen von ihrer eigenen Größe überzeugt waren, dass sie sich auf der Höhe Real Madrids wähnten und dies auch bei jeder Gelegenheit fröhlich zum Ausdruck brachten, sind bei der Einsicht in ihr aktuelles Ansehen angelangt: In Europas Eliteliga befindet sich der FC Bayern in der Gesellschaft der besseren Außenseiter, in einer Reihe mit Sparta Prag, Lokomotive Moskau und dem Klassenneuling VfB Stuttgart. Diese für das Münchner Selbstverständnis demütigende Diagnose musste kein Paul Breitner, Udo Lattek oder ein anderer notorischer Kritiker treffen, sie entspringt eigener Anschauung und ist das Resultat eines schmerzhaften Prozesses, der bereits im vergangenen Jahr eingesetzt hat. Jene weitgehend im Zustand der Bestürzung erlebten 90 Minuten gegen den RSC Anderlecht – den Repräsentanten einer europäischen B-Liga, die Klubs wie St. Truiden, SK Beveren und Heusden-Zolder in ihrer Mitte vereint – haben die letzten Versuche der Verantwortlichen zunichte gemacht, die Lage zu beschönigen. Es klingt deshalb wie eine Kapitulation und wie die Preisgabe der zentralen Vereinsdoktrin, wenn Uli Hoeneß sich selbst korrigiert und in einem Anfall von Endzeitstimmung erklärt, er nehme die Ansage zurück, dass ganz Europa vor dem FC Bayern Angst haben müsse.“
Roland Zorn (FAZ 12.12.) fügt hinzu: „Egal, gegen wen wir ausgelost werden, wir sind der Außenseiter. Der so sprach, kickt nicht etwa für Lokomotive Moskau oder Sparta Prag. Es war Thomas Linke, Altnationalspieler des FC Bayern München, der das Erreichen des Achtelfinales mit neuem bajuwarischen Realismus kommentierte. Vorerst vorbei die Zeit, da sich Europa vor dem deutschen Rekordmeister fürchten mußte und allenfalls Real Madrid als Widerpart auf Augenhöhe erkannt und anerkannt wurde? Jedenfalls paßte die zum Jahresende frisch entdeckte eigene Bescheidenheit sehr wohl zu dem ärmlichen Fußball, mit dem der Bundesliga-Vierte soeben die erste Hürde in der europäischen Meisterklasse nahm. Von deutscher Präzisionsarbeit und Entschlossenheit, von bayerischem Teamgeist und Münchner Willenskraft war gegen den RSC Anderlecht so wenig zu sehen, daß sich die Mannschaft von Trainer Ottmar Hitzfeld derzeit nur hinten anstellen kann, wenn die Knockout-Runden beginnen (…) Die Stuttgarter akzeptieren die Underdog-Rolle als Neuling in der Eliteliga gern. Sie haben als einzige deutsche Mannschaft dieses schwachen Europacup-Jahrgangs die internationale Szene mit frischen und furchtlosen Auftritten belebt. Die Angriffslust der Schwaben wird jetzt erst recht ungebrochen bleiben, da Stürmer Kevin Kuranyi seinen Vertrag verlängert hat. Andererseits haben die Stuttgarter beim Abschluß mit dem Nationalspieler wie schon bei der Vertragsverlängerung mit dem ähnlich umworbenen Andreas Hinkel ihre finanzielle Schmerzgrenze zu spüren bekommen – die Last der nun weiter gesteigerten Erwartungen ihrer Fans wird ihnen auch noch zu schaffen machen.“
Stefan Hermanns (Tsp 12.12.) teilt dazu mit: „Wer hat Angst vorm FC Bayern? Keiner! Keiner! So zweifelnd hat man die Münchner lange nicht erlebt. Die frühere Bestie FC Bayern ist ein zahmes Streicheltierchen geworden, die ewige Kritikasterei „nagt natürlich an uns Spielern“, sagt ausgerechnet der eigentlich unannagbare Oliver Kahn. Dass alle gegen sie sind, hat die Münchner in früheren Zeiten erst richtig angestachelt; inzwischen aber soll es bei der Auslosung für das Achtelfinale am liebsten der AS Monaco sein, nicht Real oder Manchester, nicht Juve oder Chelsea, sondern der nominell schwächste aller möglichen Gegner.“
Wie ein Schwerarbeiter, der nach einer Untertageschicht zurück ans Licht kehrt
Roland Zorn (FAZ 12.12.) vermisst Leichtigkeit und Eleganz: „Im ersten Fußball-Halbjahr dieser Saison aber haben sich die Münchner national wie international eher über die Runden gerettet und durchgemogelt, als selbst kraftvoll und unverkennbar Zeichen des Aufbruchs setzen zu können. Ihnen sind, das wurde auch am Mittwoch wieder überdeutlich sichtbar, die kreativen Kräfte ausgegangen; dazu scheint die nervlich labile Mannschaft von Trainer Hitzfeld in Momenten des Beweiszwangs auch physisch schnell schlappzumachen. Wenn die Spielfreude leidet und alles nur noch zehrt, ist der Profi geschafft und innerlich manchmal leer. Kahn sah in den Sekunden nach dem Abpfiff, als er sich zu Boden plumpsen ließ und, obwohl vom Kollegen Kuffour dankbar umarmt, ganz bei sich sein wollte, alt aus und mitgenommen wie ein Schwerarbeiter, der nach einer Untertageschicht zurück ans Licht kehrt.”
Thomas Becker (FR 12.12.) ergänzt: „Unendlich müde sah er aus, doch sicher wird es irgendwann an diesem Abend noch die Szene aus der Werbung gegeben haben: Kahn mit Jubelfäusten und Urschrei: Jaaaaaaaaaa! Es ist kein Zufall, dass sich alles wieder auf Kahn konzentriert. Nicht weil er der Kapitän ist. Oder weil er in der 95. Minute diesen Volleyschuss hielt, eine Routine-Parade, wie er sagte. Sondern weil er derjenige ist, der diese Spiele sichtlich bis in die letzte Faser lebt, so wie dies neben dem Feld vielleicht nur Hoeneß und Hitzfeld tun. Ein letztes Mal hatte er um 22.36 Uhr den Ball Richtung Himmel befördert, als der Schiedsrichter endlich abpfiff. Wie ein nasser Reissack kippte Kahn nach hinten weg, schnauft Atemwölkchen in die kalte Nacht und vollführte mit Kuffour die wohl zärtlichste Umarmung seit es Fußballspieler gibt.“
Markus Völker (BLZ 12.12.) rügt die Bild-Zeitung: „Jetzt ist Deisler wieder in aller Munde. Die Öffentlichkeit, der er sich zu entziehen versuchte, hat sich seiner umso gnadenloser bemächtigt. Er steht wieder auf Seite eins der Bild-Zeitung; Schlagzeile: Erste Worte aus der Psycho-Klinik – Endlich spricht Deisler. In besagtem Tagesspiegel-Interview erklärt er, dass gerade das Auftauchen auf Seite eins der Boulevardzeitung so ziemlich das Traumatischste ist, was ihm, dem scheuen Deisler, widerfahren kann. Man hat mich nackt ausgezogen, sagt er über den Medienrummel nach dem Bekanntwerden der 20-Millionen-Mark-Überweisung des FC Bayern auf ein Konto Deislers. Ich war drei Tage hintereinander auf der Titelseite der Bild-Zeitung. Ich war ganz unten.“
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