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Bayers Zukunft

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Bayers Zukunft

Lesen Sie die Prognosen und Aussichten Deutschlands Fußballexperten für Bayers Zukunft nach deren erneutem heroischen (FR) – jedoch erneut erfolglosen – Auftritt.

Die spanische Presse reagiert weit gehend begeistert. Während El País seine Helden auf der Titelseite feiert, hat Marca beobachtet, wie Bayer Real das Leben schenkte. Das Ergebnis ist nicht gerecht, aber niemand hat behauptet, dass Fußball gerecht sein muss. Lesen Sie außerdem die Ansichten eines prominenten Real-Fans: Javier Marías äußert sich zur Haltung eines madridista.

Außerdem: Welche Folgen mag der dreifach deprimierte Titeltraum für den deutschen WM-Auftritt haben? Nun stoßen zu den Verlierern und Verletzten von Wales allein die bitter Enttäuschten vom Werk hinzu, gibt uns Michael Horeni (FAZ) wenig Anlass zu Hoffnung. Andererseits haben die Vier Musketiere (FR) – Ballack, Ramelow, Schneider und Neuville – nunmehr reichlich Erfahrung auf höchstem inernationalen Niveau gesammelt. Des Weiteren: Rudi Renaissance des italienischen Fußballs Michel (TV-Kommentator u.a. der WM-Finals von 1966 u. 1982) berichtet von der WM 66 und sah dort ebenfalls aufrechte Verlierer. Und: Willi Reimann wird neuer Trainer in Frankfurt.

Mit der Analyse des Spielgeschehens in Glasgow befasst sich Roland Zorn (FAZ 17.5.):

Wer in der ersten Halbzeit eines zu dieser Zeit erstklassigen Fußballspiels den Koryphäen von Real derart kunstvoll und druckvoll zusetzen kann und im atemraubenden Schlußspurt wieder und wieder am Torwartheros des Abends, dem für den verletzten César eingewechselten Iker Casillas, nicht vorbeikommt, muss seinen Stolz nicht schamhaft verbergen. Dennoch grämte sich Toppmöller verständlicherweise über die unforced errors seines Teams, das noch einmal die ganze Palette seiner Möglichkeiten ausgespielt und dennoch deutlich zu erkennen gegeben hatte, warum Bayer 04 Leverkusen letztlich keines seiner drei Saisonziele erreichte. Es ist ärgerlich, dass sich die Mannschaft immer wieder selbst bestraft, kritisierte der Trainer die taktischen Leichtsinnsfehler und Konzentrationsschwächen seiner Profis (…) Dabei war von der Dominanz des Favoriten im Duell mit den unermüdlichen Deutschen (Calmund: Ich weiß gar nicht, wo die noch den Sprit hergeholt haben) nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die Mannschaft, konditionell unterlegen, rettete sich über die Runden wie ein Boxer, der kurz vor dem eigenen K.o. verzweifelt einen Punktvorsprung über die Zeit zu bringen versucht.

Philipp Thommen (NZZ 17.5.) registriert einen nicht vorhersehebaren Spielablauf:

„Eher überraschend waren es die Deutschen, die Pace und Ball mehrheitlich bestimmten, die Real-Stars zurückdrängten, zu viel Laufarbeit zwangen – und folgerichtig auch ein Übergewicht an Chancen erspielten (…) Madrid dagegen schmeckte die aufsässige Spielweise des Underdogs überhaupt nicht. Dies lässt sich an der Leistung Makeleles, der ungewohnt viele Fehler beging, oder Figos aufzeigen, der, von Verletzungsproblemen geplagt, irgendwie gehemmt wirkte.

Ronald Reng (FR 17.5.) sah tragische und große Verlierer:

Es blieb der Eindruck im Hampden Park zurück, dass Bayer hier gerade eine brutale Niederlage erlitten hatte; dass sie, und dies machte die Niederlage nur schlimmer, gar nicht begriffen, was sie im Glasgower Nieselregen verspielt haben. Eine einmalige Chance. Bayer spielte gegen die derzeit anerkannt weltbeste Mannschaft; und Bayer war besser. Bayer spielte gegen die teuersten Fußballer der Welt, Zinedine Zidane und Luís Figo; und die besten Kreativspieler auf dem Platz waren Yildiray Bastürk und Bernd Schneider (…) Die Leverkusener, die geschlagenen, die abgekämpft, mit hängenden Trikots und Köpfen in der Ecke standen und nur hinterher sehen konnten, wie ihnen der Pokal davonlief, applaudierten. Es war eine bewegende Geste, ein fantastisches Bild. Verlierer mit mehr Größe hat es in einem Champions-League-Finale nicht gegeben.

Bei Andreas Burkert (SZ 17.5.) lesen wir zum Spiel sowie zu einem vermutlich bevorstehenden Neuaufbau:

Wahrhaftig spitzte sich im letzten Showdown noch einmal alles dramatisch zu, Zentimeter fehlten in der Nachspielzeit bei den Chancen von Bastürk, zweimal Berbatov und Torhüter Butt, dessen verzweifelter Vorwärtsdrang in der 90. Minute fast im 2:2-Ausgleich gegipfelt hätte. So wird Butt als trauriger Held in Erinnerung bleiben, der bei Raúls 1:0 den Einsatz seltsam verweigerte und sich sogar von einem streaker, einem schottischen Landburschen ohne Kleidung, ziemlich einfach ausdribbeln ließ. Butt hat später kaum jemand reden gehört (…) Bei Bayer machen sie sich da nichts vor, sie wissen, dass dieses Team am Ende seines Weges angelangt ist. Jetzt beginnt es wieder von vorn. Ohne Ballack und auch ohne Zé Roberto.

Allzu düsteren Zukunfstaussichten teilt Roland Zorn (FAZ 17.5.) jedoch eine Absage:

Alle, die nun glauben, Leverkusen, in England schon Neverkusen genannt, werde auf Jahre hinaus nicht mehr an Ziele kommen, die Bayer in diesem Jahr fast erreicht hätte, seien gewarnt. Die wirtschaftliche Kraft des Chemieriesen ist gewaltig und die innovative Power der Calmunds, Toppmöllers und Holzhäusers sowieso nicht zu unterschätzen. À la longue mag Bayer auf den Geschmack nach noch mehr gekommen sein.

Markus Hesselmann (Tsp17.5.) ist pessimistischer:

Ballack weg, Zé Roberto und Lucio auf dem Sprung – von Deutschlands bestem Team ohne Titel bleibt nicht viel übrig. Ein Ausgleich für die Verluste ist fraglich. „Bayern und Dortmund halten ihre Stars und verstärken sich noch“, sagte Toppmöller. Bayer aber werde sich nach dem jetzigen Stand keinen Ersatz von ähnlicher Güte leisten können.

Ungeachtet dessen, was die Zukunft bringen kann, wird Bayer Leverkusens Mannschaft Andreas Burkert (SZ 17.5.) ob ihrer spielerischen Standards in guter Erinnerung bleiben:

Sie könnte außerdem von nun als das schlechte Gewissen einer Szene dienen, in der oftmals ohne Esprit und Inspiration zweistellige Millionenbeträge verschoben werden. Und sie müsste, auch wenn das zurzeit ein wenig vermessen und ungerecht erscheinen mag, als Leitbild dienen für das, was die Nationalelf bei den Weltspielen in Asien anzubieten hat, unbedingt aber für luxuriös angereicherte Spielersammlungen wie etwa jene des FC Bayern. Auch so könnte man das sehen, und setzte sich diese Ansicht durch, würde das Leverkusener Gesamtkunstwerk mit seinem kleinen Makel sogar einen wunderbaren Sieger produzieren: das Spiel.

Mit den siegreichen Spaniern beschäftigt sich Ronald Reng (SZ 17.5.):

Nachdem sie in der spanischen Meisterschaft nur Dritter geworden waren und das nationale Pokalfinale verloren hatten, ging es für Real Madrid gegen Leverkusen nicht darum, den Europapokal zum neunten Mal zu gewinnen. Es ging darum, nicht alles zu verlieren in dieser Saison, die durch den 100. Geburtstag des Klubs pathetisch überhöht wurde. Das ist ein gehöriger Unterschied: Nicht die Hoffnung zu siegen, sondern die Angst zu verlieren trieb den erfolgreichsten Fußballklub der Welt an. Und so spielten sie auch. Es war nicht der Abend eleganter Eroberer, sondern die Nacht heroischer Retter.

In Spaniens Sportmagazin Marca (16.5.) lesen wir zum Spiel:

Real Madrid spielte weit entfernt von seiner Bestform nur im dritten Gang und setzte den Sieg leichtfertig aufs Spiel. Bayer hatte alle Möglichkeiten, das Spiel für sich zu entscheiden, aber sie machten den Sack nicht zu. Das Ergebnis ist nicht gerecht, aber niemand hat behauptet, dass Fußball gerecht sein muss. Fazit: Mit ein bisschen Glück, einer sicheren Verteidigung und zwei genialen Momenten gewinnt Real die Champions League.

El País (16.5.) feiert die beste Mannschaft aller Zeiten – womit Real Madrid gemeint ist:

Real bestätigte seine Dominanz im europäischen Fußball mit nunmehr neun Titeln in zwölf Finals. In nationalen Wettbewerben blieb es zwar mit leeren Händen, hatte es im Jahr des hundertjährigen Jubiläums schließlich alle Kraft und Konzentration auf die Eroberung des neunten Titels wirken lassen. Doch Real Madrid beschließt das Fußballjahr auf dem europäischen Thron (…) Bayer bestätigte, dass sie eine der interessantesten Mannschaften Europas sind – mit nur einem Mangel: Ihnen fehlt die Tradition. Das führte dazu, dass sie von den Medien nicht wahrgenommen wurden. Die Rolle von Lúcio und Bastürk wird hervorgehoben. Vom ersten heißt es, dass er sicherlich in einem Schaufenster zu betrachten sein wird. Vom letzten heißt es, dass er wie eine Metapher Bayers funktioniert: Bayer spielt sehr gut, aber hat nicht die Anerkennung, die ihm zusteht.

Mit der Frage nach den Auswirkungen der Geschehnisse auf den mentalen Zustand der deutschen Nationalmannschaft befasst sich Michael Horeni (FAZ 17.5.):

Ob es so einfach sein wird, wie es sich die Nationalmannschaft wünscht, die Leverkusener von den Enttäuschungen zu befreien, ist fraglich. Selbst Trainer Klaus Toppmöller sorgt sich um mögliche Langzeitwirkungen bis zum WM-Start am 31. Mai gegen Saudi-Arabien: Das kann in der Tat ein Problem werden. Aber ich traue Rudi mit seiner ruhigen und sachlichen Art zu, daß er die Jungs aus dem Loch zieht. Auch Ballack denkt besorgt an psychologische Folgewirkungen nach verlorener Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League: Das wird immer wieder hochkommen. Allerdings, so hoffen die Leverkusener, könne nichts besser als eine Weltmeisterschaft die traurigen Erlebnisse der vergangenen Wochen schnell zur abgeschlossenen Vergangenheit werden lassen.

Jan Christian Müller (FR 17.5.) macht uns diesbezüglich Mut:

Es könnte für die WM vielmehr ein psychologischer Vorteil sein, dass die Schneider, Ballack und Kollegen nun wissen, wie man gegen die Weltelite bestehen kann. Das Selbstbewusstsein der vier Musketiere, nicht schlechter zu sein als die beste Vereinsmannschaft der Welt, könnte in Japan und Korea hilfreich sein.

Das Streiflicht (SZ 17.5.) auch:

Wir wissen nicht, ob der Mittelfeldspieler Ballack in den letzten Stunden schon mit seinen Eltern gesprochen hat, der Stürmer Neuville mit Mama Neuville, der Torwart Butt mit Mutter Butt. Wir können es aber mal annehmen; in Tagen wie diesen reden Fußballspieler bestimmt weniger mit Managern oder Reportern, sondern mit denen, die sie am längsten kennen. Mütter sagen, in Tagen wie diesen, zu ihren Söhnen immer Sachen, die nach Trost klingen sollen. Es kommen bessere Zeiten, sagen sie. Das kann jedem passieren, sagen sie. Manchmal weinen die Jungs dann – auch richtig große Fußballjungs – und kriegen vielleicht gar nicht mehr mit, wenn ihre Mütter flüstern: Kopf hoch, Niederlagen machen dich stärker.

Der spanische Schriftsteller Javier Marías (FAZ 15.5.) beschreibt die Mentalität eines Real-Anhängers:

Diese unerbittliche ewige Realität zwischen Real Madird und Atlético Madrid oder dem CF Barcelona schmeckt für uns nur nach Bier, verglichen mit dem kräftigen Wein, den wir trinken – und in diesem Jahr haben wir uns dann berauscht –, wenn wir es mit Bayern München zu tun bekommen, einem Verein, der uns etwas anhaben kann. Oder mit dem Wein, den wir trinken werden, wenn wir wieder auf den AC Milan trefefn, den einzigen Verein, der uns in den letzten zehn Jahren wirklich auseinandergenommen hat.

Christoph Biermann (SZ 17.5.) portraitiert Klaus Toppmöller, Trainer von Bayer Leverkusen, im Vergleich mit Kollegen:

Die Hitzfelds oder Wengers, Lippis oder Erikssons präsentieren sich als kühle Manager, deren Auftritt nach dem Vorbild von Vorstandsmitgliedern multinationaler Konzerne modelliert zu sein scheint. Freundlich, aber kühl, höflich, aber distanziert erfüllen sie ihren Job als leitende Angestellte großer Fußballunternehmen. Sie verkörpern Fachwissen, Führungsqualitäten und vermitteln diesen Eindruck bei Bedarf auch mehrsprachig. Klaus Toppmöller erfüllt dieses Image nicht, und genau das hat ihm inzwischen europaweite Popularität verschafft. Besonders in Großbritannien sind die launigen Schwänke über die Skatrunden in der Salmtalschänke zu Rivenich und die Fußbälle in seiner Blutbahn besonders gut angekommen.

Dass El País (16.5.) ebenfalls am Tag von Reals Triumph seine Aufmerksamkeit auf Toppmöller richtet, ist ein Indiz dafür, dass dieser in der Beletage des europäischen Fußballs angekommen ist:

Klaus Toppmöller ist ein extravaganter Charakter des deutschen Fußballs, welcher eigentlich von Strenge und Disziplin beherrscht ist und normalerweise Flexibilität und Individualität meidet. In dieser Saison hat er der Mannschaft und dem deutschen Fußball auf europäischer Bühne seinen Stempel aufgedrückt. Er ist ein einfacher Mensch, der keinen Sinn für Luxus hat. Er konsumiert ausschließlich Fußball. Er konnte nicht die Champions League gewinnen, aber seine kreativen Ideen von Fußball durchsetzen.

Der unvergessene Rudi Michel (FR 17.5.) erinnert sich an faire Verlierer bei der WM 66 – und das nach dem Wembley-Tor:

Noch nie wurde ein Verlierer in Deutschland so gefeiert wie diese WM-Elf von Helmut Schön, der Sepp Herberger als Trainer abgelöst hatte. Die vorbildliche Haltung der Mannschaft ließ die Massen nach dem Jammer zu riesigem Jubel umschwenken.

Eintracht Frankfurt hat einen neuen Trainer: Willi Reimann. Jürgen Heide (FR 17.5.) dazu:

Mit dem Ex-Profi des Hamburger SV und von Hannover 96 steht Woodcock schon seit Wochen in Kontakt. Willi ist gut über die Eintracht informiert. Dass Reimann seit über zwei Jahren aus dem Geschäft ist, sieht der Brite nicht als Nachteil an. Willi ist frisch und ausgeruht. Er hat Lust, wieder anzupacken, dass habe ich nach unseren Gesprächen gemerkt. Auch Reimann sieht die Pause, die er nach seiner Entlassung in St. Pauli eingelegt hat, eher als Vorteil an. Die Zeit hat mir gut getan. Ich bin dadurch gelassener und ruhiger geworden. Durch Besuche der Spiele des HSV und von St. Pauli hat sich der in Hamburg lebende Coach auf dem Laufenden gehalten. Ich bin gut informiert. Mir macht keiner was vor, demonstriert Reimann, der auch schon beim HSV, beim VfL Wolfsburg und beim 1. FC Nürnberg tätig war, Selbstbewusstsein.

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