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Bei einer Trainingskontrolle ist Jan Ullrich auf Amphetamin positiv getestet worden

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Bei einer Trainingskontrolle ist Jan Ullrich auf Amphetamin positiv getestet worden

Bei einer Trainingskontrolle ist Jan Ullrich auf Amphetamin positiv getestet worden. Wie reagiert die deutsche Presse darauf?

Christoph Albrecht-Heider (FR 6.7.) schreibt zum Imageproblem Ullrichs. „Angefeuert vom Konkurrenzkampf ausschließlich auf Quote und Auflage fixierter Medien hat sich auf dem Boulevard eine allumfassende Sorglosigkeit und Respektlosigkeit gegenüber Menschen öffentlichen Interesses breit gemacht. Die Kraft, sich den Grapschern zu entziehen, haben viele nicht (…) Jan Ullrich hat es nicht geholfen, dass mit seinen O-Tönen nicht viel anzufangen war. Immer und immer wieder haben sie ihn gefragt, obwohl er nichts zu sagen hatte. Jan Ullrich ist durch eine spezifische körperliche Fähigkeit, mit Beineskraft ein Rad schnell zu machen, in eine Welt katapultiert worden, die eine andere ist, als die, in der er sich als Mensch Jan Ullrich wohl fühlt. Ständig muss er sich an Maßstäben messen lassen, gegen die er innerlich rebelliert. Einer wie Franz Beckenbauer weiß sich auf vielen Hochzeiten wohl zu verhalten und zu fühlen, einer wie Oliver Kahn ist tatsächlich aufgestiegen, einer wie Jan Ullrich fremdelt auf Dauer.“

Michael Reinsch (FAZ 8.7.) äußert Verständnis. „Im Schulungsraum des Landessportbundes Hessen in Frankfurt war der Sport plötzlich so real wie selten im Fernsehen. Da war kein Platz mehr für Verklärung und Heuchelei, die in Sonntagsreden den Sport so gerne zur pädagogischen Veranstaltung machen; die Ehrgeiz und Kraft, Ausdauer und Bewegungstalent, nicht selten aber auch Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit in Beispielhaftigkeit für die Jugend und in Animation der Volksgesundheit umdeutet. Das Maß solch unverantwortlichen Geredes bestimmt die Fallhöhe eines Athleten. Womöglich hat paradoxerweise ausgerechnet der schlechte Ruf des Radsports diesen Jan Ullrich in seiner tiefen Krise vor einem noch tieferen Sturz bewahrt. Ein Radprofi kann eben nicht auf einen Sockel aus Moral gestellt werden. Jeder hat am Samstag gesehen, dass da jemand Hilfe braucht – und keinen Stoß.“

Thomas Kistner (SZ 8.7.) hingegen kritisiert. „Wie realitätsnah ist diese Story? Wie oft wirft man spontan in der Öffentlichkeit Tabletten aus fremder Hand ein – und wie oft passiert das einem gut gedrillten Profisportler, einem, der sich besonders in seiner Disziplin mit der Pharma-Problematik seit Jahren täglich und öffentlich herumschlägt? Bisher kennt man keine Fakten, bekannt ist nur der Vortrag von Jan Ullrich. Und der ist vor allem in einschlägiger Hinsicht stimmig: Er hilft allen Betroffenen (…) Fakt ist bisher nur folgendes: Epo oder Anabolika machen in frühen Aufbauphasen wenig Sinn, Amphetamine schon. Sie lindern die Seelenqual, dämpfen die Schmerzen – und den Appetit. Solche Fakten wiegen um so schwerer, wenn Ullrichs Betreuer den Zeitpunkt der Trainingskontrolle rügen. Sollte ein Topathlet nicht jederzeit zu testen sein?“

Claus Dieterle (FAS 8.7.) übt Milde. „Man darf bei allem Wohlwollen für den neuen Offensivgeist nicht vergessen, dass der Fall Ullrich für die öffentliche Aufarbeitung – man könnte es auch Inszenierung nennen – geradezu prädestiniert ist. Die Leidensgeschichte eines Radprofis, dessen Talent mehr Fluch als Segen ist, weil er von Kindesbeinen an fremdbestimmt worden ist, der nach einer Verletzung in tiefer Depression menschliche Verfehlungen begeht – und sie sogar zugibt. Da ist man geradezu versucht, mildernde Umstände gelten zu lassen.“

Michael Reinsch (FAZ 5.7.) beleuchtet den gesellschaftlichen Kontext. „Mit Ullrich ist ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges ins Blickfeld geraten: Millionen Suchtkranke, die unter Druck oder von hohen Erwartungen getrieben, in Versagensangst oder aus Langeweile nach pharmazeutischem Antrieb greifen. Andere Sportverbände als die Radsportunion lassen nur bei Wettkämpfen nach diesen Substanzen suchen, nicht aber bei überraschenden Trainingskontrollen. Sie irren, wenn sie glauben, dass Aufputschmittel im Training kein Doping und Hochleistungssportler mit einem Suchtproblem nicht ihr Problem sind. Und auch der Gesetzgeber würde viel zu kurz greifen, wenn er – was Politiker der Regierungsfraktionen im Sportausschuss jüngst ankündigten – Handlungsbedarf allein im Sport sähe. Der junge Mann in Bad Wiessee zeigt: Doping- und Drogenproblematik lassen sich nicht trennen.“

Über das öffentliche Bild Ullrichs schreibt Thomas Hahn (SZ 5.7.). „Ausgerechnet Ullrich, der Star, an dem sich nach seinem Tour-Sieg 1997 ein ganzer Markt neu aufrichtete, das Fernsehen, die Industrie, die Millionen von Hobby-Radlern, die im Urlaub über entlegene Pyrenäenpässe keuchen oder am Mont Ventoux den Leiden ihrer Idole nachjagen. Dieser Held auf dünnen Reifen, der den Starkult ja tatsächlich zurückzuführen schien auf den Kampf Mann gegen Natur. Der die Moral selbst in Momenten der Schwäche nicht fallen ließ. Dieser mustergültige Deutsche, der sich mit reiner Menschenkraft auf die vordersten Ränge schob. Und der natürlich sauber war, wegen des ach so lückenlosen Antidopingsystems daheim. Das kann man nun vergessen, als Botschaft an die Jugend bleibt: Dieses Vorbild ist offenbar gar keines, sondern einer dieser gewöhnlichen Protagonisten des Kommerzsports, die nicht mehr mithalten können mit den höheren Werten des Sports.“

Über die Folgen für das Ansehen des Radsports bemerkt Ulrike Spitz (FR 5.7.). „Was in den Köpfen bleiben wird, ist der Fakt, dass da gedopt worden ist. Das aber stärkt denjenigen den Rücken, die den Radsport ohnehin für eine der am schlimmsten mit Doping verseuchten Sportarten halten, wozu er ja dummerweise tatsächlich auch immer wieder Anlass gibt. Nach Pantani, Virenque, Zülle und, und, und – immerhin reicht die Doping-Vergangenheit des Radsports bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurück – jetzt eben auch Ullrich. Das passt doch bestens ins Bild – genau so kommt es in der Öffentlichkeit an. Der derzeit offensichtlich völlig indisponierte Ullrich hat also nicht nur sich selbst, sondern seiner ganzen Disziplin einen Bärendienst erwiesen. Ganz egal, ob da womöglich einer versucht hat, ganz persönliche Probleme zu lösen, oder ob der Griff in die Medikamentenkiste, wenn er denn durch die B-Probe bestätigt wird, etwa doch zweckdienlich gewesen ist.“

Thomas Kistner (SZ 5.7.) räumt mit einem Vorbehalt auf. „Dem deutschen Radsport haftete bislang nicht das Etikett an, das an der Profibranche insgesamt längst klebt: sie sei mehr oder weniger flächendeckend verseucht. Diese Naivität wird kräftig geschürt. Wie beim höchsten Volksvergnügen Fußball, das erst am vergangenen Wochenende die Politiker von Kanzler Gerhard Schröder bis Kandidat Edmund Stoiber zur WM nach Fernost lockte, werden auch die wenigen anderen Sporthelden der Nation seit Jahren mit wachsender PR-Gier von den Mächtigen vereinnahmt. Das lässt sich am Fall Ullrich gut aufzeigen: Angestellt im (vormaligen) Wirtschaftswunder-Team der Deutschen Telekom, gesponsert vom seriösen Ersten Deutschen Fernsehen, bei Training und Rennen gern begleitet vom Bundesverteidigungsminister persönlich – seht her, wie stolz das Land auf diesen starken Mann ist.“

Sebastian Moll (taz 5.7.) widmet seine Aufmerksamkeit den Ambitionen von Telekom. „Die Konsequenzen fürs Team Telekom könnten jedoch weitaus gravierender sein als der Verlust ihres Stars. Der Vertrag zwischen der Godefroot GmbH und der Telekom AG läuft zum Ende des Jahres 2003 aus. Dass sich Telekom zu Beginn dieses Jahres dazu entschlossen hatte, den FC Bayern zu fördern, wurde von vielen Beobachtern bereits als Zeichen dafür gewertet, dass das Interesse am Radsport abnimmt (…) Mit der Einnahme der kleinen Schlank- und Glücklichmacher könnte Ullrich das ohnehin bevorstehende Ende des Teams beschleunigt haben. Einen besseren Vorwand zum Ausstieg kann man einem ohnehin müden Sponsor jedenfalls nicht liefern.“

Zu den Reaktionen von Ullrichs Arbeitgeber heißt es bei Andreas Burkert (SZ 5.7.). „Jan Ullrich, diese Verteidigungsstrategie haben sie bei Telekom flugs entworfen, sei fraglos Täter – aber auch ein Opfer. Opfer einer Sinnkrise.“

„Viel Talent, wenig Disziplin“, resümiert Hartmut Scherzer (Tsp 5.7.) Ullrichs Karriereverlauf. „Jan Ullrich war damals, im glorreichen Sommer 1997, 23 Jahre alt. Die Welt stand ihm offen. Fünfmal die Tour gewinnen wie Anquetil, Merckx, Hinault und Indurain? Niemand zweifelte, dass dieser begnadete Sportler mit dem ästhetischen Fahrstil dazu die Klasse und das Talent besitzt (…) Was die Schwärmer 1997 nicht ahnen konnten: Krankheit und Stürze brachten Jan Ullrich aus dem Tritt. Außerdem genießt der Radstar das Leben und denkt nicht jeden Morgen beim Aufstehen daran, dass sein Beruf ein Knochenjob ist und höchste Disziplin erfordert. Ullrich sei keine kopfgesteuerte Tretmaschine wie Lance Armstrong, sagten seine Chefs. Sie übten stets, wenn auch gequält, Nachsicht, wenn ihr bester Mann Jahr für Jahr übergewichtig aus dem Winter kam.“

Zum positiven A-Test Jan Ullrichs schreibt Anno Hecker (FAZ 4.7.). „Unabhängig von der Frage, wer nun schuld hat oder nicht, wird sich das positive Ergebnis in jedem Fall negativ auf die Vorzeigetruppe des deutschen Radsports auswirken. Eine vielleicht dreimonatige Sperre für Ullrich ist zwar schnell abgesessen, so wie im Handumdrehen der Fahrradständer bezahlt wurde, den der Porschefahrer im alkoholisierten Zustand demolierte. Aber der Imageschaden, das erschütterte Vertrauen in einen bislang noch bei keinem Dopingvergehen erwischten Sportler, lässt sich nicht mit einem Scheck reparieren.“

„Die Geschichte ist politisch“, findet Robert Ide (Tsp 4.7.). „Der ganze deutsche Sport hat ein Dopingproblem. Der Fall des Langstrecklers Dieter Baumann, der Fall des Ringer-Olympiasiegers Alexander Leipold – das waren erste Schlaglichter. Besonders im Radsport gab es immer wieder negative Meldungen (…) Die bisherige Regelung geht aber am Problem vorbei. Sportler, die Dopingmittel besitzen oder konsumieren, können dafür nicht haftbar gemacht werden. Weil der Sport autonom bleiben soll, sind Razzien in Trainingslagern untersagt. Vielleicht muss der organisierte Sport vor sich selbst geschützt werden. In Deutschland fehlt dafür der gesetzliche Rahmen. Doping ist Betrug. Betrug muss bestraft werden. Auf der Grundlage eines klaren Gesetzes.“

Walter Delle Karth (Die Welt 4.7.) kommentiert die Beteuerungsversuche aus der Branche. „Anzunehmen, in der Radbranche gehe es mittlerweile auch nur mit halbwegs rechten Dingen zu, hieße, sich mit 40 Grad Fieber gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte zu wähnen. Natürlich bestreiten Fachkräfte weiterhin, dass leistungssteigernde Mittel zum Geschäft gehören wie Felgen und Zahnkränze. Allerdings erweist sich die Realität sprintstärker als die meisten Konkurrenten.“

Die führenden Tennisspielerinnen Jennifer Capriati und Venus Williams empfinden die von der Tour-Organisation WTA angekündigten Trainingskontrollen als Zumutung. René Hofmann (SZ 4.7.) kommentiert diese Reaktionen. „Wie bei den Radfahrern, die sich über den rüden Umgang der Polizei mokieren, statt zu erkennen, dass sie mittlerweile offenbar permanent unter Generalverdacht stehen, hat es etwas mit der Historie der Sportart zu tun. Sich mit allen verfügbaren Mitteln aufzuputschen, wurde bei den Radfahrern schnell zur Gewohnheit, als sie Profis wurden. Und Doping ist bei den Tennisspielern eben nie ein Thema gewesen. Obwohl es gegen jede Logik verstieße, wenn dieser Sport der einzig saubere sein sollte. Obwohl es immer wieder unglaubliche Comeback-Geschichten gab und ergo immer wieder Verdächtigungen.“

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