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Blamagen für Hamburg und Berlin – „Trainerdämmerung“
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| Donnerstag, 25. März 2004
of Hertha BSC Berlin, der Hamburger SV und der 1. FC Kaiserslautern, gestern noch Klubs mit Ziel und Anspruch, scheiden in der ersten Runde des Uefa-Cups gegen osteuropäische „Dorfvereine“ (FAZ) aus; die Tageszeitungen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Die FAZ sorgt sich um die Qualität des deutschen Vereinsfußballs: „die Zeichen für den zu lange im Freizeitpark Deutschland gespielten Profifußball weisen nach unten.“
DieSZ hänselt die Hamburger: „die größte Hamburger Blamage seit Ronald Schills Versuch einer Rede vor dem Bundestag“ und tadelt Berliner Großmannssucht: „Ziel war die Champions League, richtig abgehen sollte es demnächst, wenn das Olympiastadion fertig umgebaut ist: 76 000 Zuschauer passen dann rein, 5000 lukrative Business-Seats und 99 Vip-Logen können vermietet werden, und der Klub setzte die Vermarktungserlöse im Stadion ab 2004/05 frohgemut mit zwölf Millionen Euro pro Saison an. Das nennt man dicke Backen machen und ist eine geläufige Übung unter den Hauptstädtern. Wenn nun ganz gegen den Plan weder ManU kommt noch Real, wird aus der kühnen Hochrechnung die nächste Berliner Luftbuchung.“ Die Berliner Zeitung hat das Saisonmagazin Wir Herthaner, keine drei Monate alt, aus dem Regal geholt und liest genüsslich Sprüche daraus vor: „‚Diese Saison wird etwas Schönes passieren’ (Pal Dardai, stellvertretender Kapitän), ‚Die Champions League ist das große Ziel’ (Josip Simunic), ‚Es ist schön, wieder zu Hause zu sein’ (Niko Kovac, Führungs- und Ersatzspieler, von München nach Berlin zurückgekehrt).“ Die FR ergänzt: „Wer vor der Serie offen die Champions League als Ziel deklariert, von möglichst vier Runden Uefa-Cup (Hoeneß) redet und zusätzlich insgeheim endlich den DFB-Pokal gewinnen will, hat kaum noch Argumente.“
Die Trainer Kurt Jara (HSV) und Huub Stevens (Hertha BSC Berlin) haben ein schweres Leben – „Trainerdämmerung“, malt die Financial Times Deutschland in der Überschrift, und der eifrigeTagesspiegel stellt Kandidaten für Stevens´ Nachfolge vor: Klaus Toppmöller, „der inoffizielle erste Anwärter“, Christian Gross aus Basel, Guss Hiddink, „genau der Trainer, der den Ansprüchen Herthas gerecht würde“, Amateurtrainer Andreas Thom, „Retter aus den eigenen Reihen“ und noch viele andere. Werner Lorant schließt die Redaktion des Tagesspiegels aus.
Dem Ansehen der Bundesliga erheblichen Schaden zugefügt
Roland Zorn (FAZ 17.10.) blickt auf den deutschen Fußball und legt die Stirn in Falten: „Zum dritten Mal in dieser immer noch recht jungen Saison müssen deutsche Fußballfans beim Blick auf die europäischen Lockerungsübungen renommierter Bundesliga-Mannschaften ganz tapfer sein. Werder Bremen mag beim Ausscheiden aus dem UI-Cup-Wettbewerb, während der 0:4-Niederlage bei der Landpartie in Pasching, noch im Sommerloch gesteckt haben; Borussia Dortmund, am FC Brügge in der Qualifikation zur Champions League gescheitert, bekommt die empfindliche Strafe jetzt in der UEFA-Pokalkonkurrenz sogar im Erfolgsfall zu spüren. Entscheidende Siege wie am Mittwoch über einen Gegner wie Austria Wien sind beileibe nicht soviel wert wie ein Punktspielgewinn ohne Weiterkommgarantie in einem Vorrundenduell der Meisterklasse; der HSV und die Hertha haben sich selbst und dem Ansehen der in Europa noch immer zur erweiterten Spitze gezählten Bundesliga einen erheblichen Schaden zugefügt. Nur wenige Tage nachdem sich die Nationalmannschaft der Männer mit einem auf den letzten Metern zumindest leidenschaftlich erspielten und hingebungsvoll erkämpften 3:0 über Island für die Europameisterschaft 2004 qualifiziert hat und die deutschen Fußballfrauen mit Glanz und Gloria Weltmeister geworden sind, gerieten die ersten Auslandsreisen der über zwei Wochen in Ruhe gelassenen Bundesliga-Klubs zu Schockerlebnissen: Verloren und schreckhaft, als wären sie ohne Paß und Koffer in Grodzisk und Dnjepropetrowsk angekommen, wirkten die daheim umsorgten und mit Millionen für ihr kurzes Tagwerk entschädigten Berufsspieler ohne Berufsethos.“
Yes, I’m on my way
Javier Cacéres (SZ 17.10.) fasst die Reaktionen auf die Berliner Blamage zusammen: „Soll man den Verantwortlichen des ruhmreichen Klubs Sportowy Groclin Dyskobolia aus der polnischen 15 000-Einwohner-Stadt Grodzisk-Wielkopolski, nahe Posen gelegen, einen Hang zum Zynismus unterstellen, zur Ironie, zur Häme? Als Huub Stevens, der Trainer des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC Berlin, am Mittwochabend aus dem Kabinentrakt des Dyskobolia-Stadions heraustrat (einer architektonisch interessanten, in jedem Fall originellen Bühne: halb Wimbledon, halb Western-Ranch), dudelten sie die Cover-Version einer alten Lionel-Richie-Schnulze. „Yes, I’m on my way.“ Vor wenigen Wochen hatte Stevens gesagt: „Ich gehe meinen Weg weiter.“ (…) Rund 250 Fans lauerten den Spielern gestern am Trainingsplatz auf und hängten Plakate über die Werbebanden, „Versager!!!“ stand auf einem, „Eure Leistung purer Hohn, euer Charakter eine Schande“ auf einem anderen, „Seid ihr es wert, unser Trikot zu tragen?“, auf einem dritten. Keines gegen Stevens. Dafür senkte gestern der Berliner Boulevard endgültig den Daumen, warf Stevens eine „Hose-voll-Taktik“ (Bild) vor, weil er zu defensiv aufstellte, und befand abschließend: „Stevens muss weg.“ Die BZ fragte sich, ob Stevens von sich aus den Bettel hinschmeißt („ich will kämpfen, auch für die Spieler“, entgegnete gestern Stevens) und wollte überdies vertraulich erfahren haben, dass mindestens ein Trainer, Klaus Toppmöller, von Hertha bereits kontaktiert wurde. „Das ist hochinteressant“, sagte Hoeneß voll bitterer Ironie und vermutete dahinter die übliche Masche, „mich zu einem Zitat zu bewegen, der Klassiker“. Sogar der eher maßvolle Tagesspiegel überschrieb seinen Bericht aus der polnischen Provinz mit einer Zeile, die Raum für Interpretationen bot: „Die Null fliegt raus.“ Und die Berliner Morgenpost stellte fest, dass mancher Hertha-Sympathisant eine Niederlage gegen Leverkusen (Samstag im Olympiastadion) erfleht: „Damit sich vielleicht endlich etwas ändert.“ Hertha-Präsident Bernd Schiphorst fand, dass ein Sieg besser wäre und sagte: „Wir führen keine Diskussion über den Trainer, aber wir prüfen kontinuierlich, ob wir richtig aufgestellt sind“. Zusammengefasst: Ja, es brennt in Berlin.“
Ralf Wiegand (SZ 17.10.) befasst sich mit Hamburger Wut und Kummer: „Kurt Jara war ja schon vor der Abreise in die Ukraine auf das Schlimmste gefasst gewesen. Stundenlange schikanöse Grenz-Formalitäten prophezeite der Trainer des Hamburger SV seinen Spielern, gezielten Lärmterror vor dem Hotel der Hanseaten hielt er für wahrscheinlich, um deren Nachtruhe zu stören, kurz: „Das wird die Hölle.“ Nun durfte Jara zwar erfahren, dass Glasnost sogar bis in die mittlere Ukraine gewirkt hat, die Zollformalitäten in Minuten abgewickelt waren und vor dem Grand Hotel bloß eine Handvoll Autogrammsammler die Stars aus dem Westen empfingen – schnurstracks in die Hölle geriet der HSV trotzdem. Und er wird dort wohl auch noch eine ganze Weile auf kleiner Flamme geschmort werden, woran weder finstere Grenzer noch randalierende Klassenfeinde schuld tragen, sondern ganz allein „Jaras Angsthasen“ (Morgenpost). Denn die verloren 0:3 bei den Zungenbrechern von Dnjepr Dnjepropetrowsk und rührten dadurch die wohl explosivste Mischung im Profifußball überhaupt an: Sowohl das Geld des Vereins als auch die Geduld der Fans gehen auf bedrohliche Weise gleichzeitig zur Neige. Nach dem Gewinn des Liga-Pokals im heißen Sommer sogar als Anwärter auf den Ehrentitel „Bayern-Jäger“ in die Bundesliga gestartet, müssen die HSV-Bosse nun über sich lesen: „Der HSV blamiert Deutschland“ (Morgenpost). Jara fügte sich der Depression und sprach geknickt von der größten Enttäuschung seiner Karriere. Die Befindlichkeiten des schwer in die Kritik geratenen Österreichers sind allerdings nur das eine. Das andere ist die finanzielle Schieflage des ambitionierten Klubs, der sich schon vergangene Saison ein Rekorddefizit von rund 14,5 Millionen Euro geleistet hatte und nun weitere Einnahme-Ausfälle verzeichnen muss, die fatalerweise fest im Budget vorgesehen waren. Geblendet offenbar vom Erfolg der Sommerpause plante der Kassenwart frohgemut gleich die Erträge aus drei Runden Europapokal ein. Seriöses hanseatisches Kaufmannsgebaren sieht jedenfalls ganz anders aus.“
Ulrich Hesse-Lichtenberger (taz17.10.) ist im Westfalenstadion fast eingeschlafen: „Man kann über die Champions League geteilter Meinung sein und durchaus auf dem Standpunkt stehen, dass deren Betonung von Glamour, Geld und Gruppenspielen dem Europapokal seinen ursprünglichen Charakter genommen hat. Eines aber muss man ihr zugute halten: Sie verhindert Spiele wie das am Mittwochabend zwischen Borussia Dortmund und Austria Wien. An einem Tag, an dem bereits zwei Bundesligisten auf mehr oder minder verdrießliche Weise gleich in der ersten Runde des Uefa-Cups gescheitert waren, trösteten sich Zuschauer wie Medienvertreter im Westfalenstadion ausschließlich damit, dass der 1:0-Sieg des BVB wenigstens einen deutschen Klub ohne großes Nervenflattern im Wettbewerb gehalten hatte. Das Spiel selbst bot hingegen keinerlei Anlass zu irgendeiner Gemütsregung. Die weit gereisten Wiener Fans entschlossen sich gar im Verlaufe der erlebnisarmen ersten Halbzeit, recht unvermittelt ihre Geografiekenntnisse anzubringen, indem sie das Heimpublikum als Ruhrpott-Kanaken beschimpften, woraufhin die Südtribüne mit einem ebenso deplatzierten Tod und Hass dem S 04 antwortete.“
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