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Darbietung der DFB-Auswahl

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Darbietung der DFB-Auswahl

Die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen sind enttäuscht von der Darbietung der DFB-Auswahl beim mageren 1:1 im EM-Qualifikationsspiel gegen Litauen. Für die SZ wurde Völlers Team “Opfer ihrer Selbstgefälligkeit“, während die FAZ sich in ihrer Erkenntnis bestätigt sieht, dass es ohne Michael Ballack zu keinen großen Sprüngen fähig sei. Insgesamt vernimmt man auch leise Kritik am Teamchef selber, speziell an seinen Wechseln.

Der Berliner Tagesspiegel bringt die Angelegenheit auf den Punkt: „Auch wenn es mit der Nationalelf noch nicht so weit gekommen ist wie mit Bayer Leverkusen, so lassen sich Parallelen finden. In gewisser Weise hat die Formkurve der Nationalmannschaft bayerdeske Züge angenommen. Vor knapp einem Jahr begeisterte der Dreifach-Vize aus Leverkusen die Menschen auf spielerische Weise. Wenige Wochen später erreichte die Euphorie um die Nationalelf ihren Höhepunkt. Bald darauf wurden beide Mannschaften von der Tagesrealität eingeholt.“

Im Hinblick auf die an Schottland verlorene Tabellenführung in der Gruppe 5 resümiert die taz: „Die Lage ist ernst. So ernst, dass jetzt sogar schon Schottland vor Deutschland liegt. Nur zur Erinnerung: Schottland hat Berti als Trainer. Noch Fragen?“

Zur Lage der DFB-Auswahl wirft Jörg Hanau (FR 31.3.) ein. „Die deutschen Nationalkicker haben es nicht verstanden, die Begeisterung in und um die Mannschaft in den Alltag hinüber zu retten. Rudi Völler dümpelt mit seinem Team in der Grauzone des europäischen Fußballs herum. Das reicht, um den in Japan und Südkorea zurückgewonnen Kredit leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Verzockt haben sie ihn aber noch nicht. Bei allem Frust über das unnötige Remis gegen die zweitklassigen Fußballer aus dem Baltikum, es ist dies nicht der erste turmhohe Favorit, der sich in der Qualifikation zu einem großen Turnier vergaloppiert, ohne deshalb gleich aus dem Sattel zu fallen. Deutschlands vermeintlich beste Fußballer haben es selbst in der Hand, den dornigen Weg nach Portugal mit ein paar Kratzern im Lack zu überstehen. Gegen Litauen haben sie den Sieg fahrlässig aus den Händen gleiten lassen. Vielleicht auch, weil eine gehörige Portion Hochmut mit im Spiel war, den sich keine Mannschaft der Welt mehr leisten kann und darf. Eigentlich sollten dies gerade und vor allem die deutschen Fußballer wissen. Sie selbst haben in Asien vorgeführt, was einer vorab schwächer eingestuften Mannschaft alles gelingen kann. Erfolg im Fußball, wer wüsste das besser als die Deutschen, ist nicht immer eine Frage spielerischer Überlegenheit.“

Michael Horeni (FAZ 31.3.) kennt die Ursachen der deutschen Schwäche. “Was Völler und Co. schon vor dem 1:1 gegen die Balten wußten, wurde angesichts der deutschen Krankheit (Völler) schnell und eindrucksvoll aufs neue belegt: Mittelfeldchef Michael Ballack ist nicht zu ersetzen. Der Wert des torgefährlichen Mannschaftsspielers war selbstverständlich schon offensichtlich, als er Bayer Leverkusen ins Endspiel der Champions League und fast zum Titelgewinn führte – und kurz darauf trotz hartnäckiger Verletzung die entscheidenden Treffer im Viertel- und Halbfinale der WM erzielte. Aber erst seitdem er Bayer komplett verlorengegangen ist und die Eigendynamik der Weltmeisterschaft bei der Nationalmannschaft vollständig dahin ist, wird unter negativen Vorzeichen die besondere Bedeutung Ballacks erschreckend deutlich. Leverkusen ist vom Abstieg massiv bedroht. Die Mannschaft ist ohne ihren Anführer des Vorjahres, und die Spruchweisheit kann man getrost wörtlich nehmen, tatsächlich nur noch die Hälfte wert. Die Nationalmannschaft ist dank ihrer größeren Qualität zwar etwas weniger, aber immer noch stark von ihrem strategischen Kopf abhängig. Das 1:1 gegen Litauen wie auch das 1:3 gegen Spanien machten im EM-Ernstfall wie unter Testbedingungen eine Tendenz mehr als deutlich: Nationalelf minus Ballack-Faktor macht internationalen Durchschnitt. Mehr nicht, eher weniger.“

Elisabeth Schlammerl (FAZ 31.3.) analysiert den Auftritt der Sorgenkinder. „Es hätte ein kurzes Entrinnen aus dem tristen Alltag in Leverkusen sein sollen. Aber immer wieder wurden Carsten Ramelow und Bernd Schneider in den Tagen im Frankenland an ihren Klub erinnert. Vor dem Länderspiel gegen Litauen und auch noch danach. Dabei haben die beiden Nationalspieler am Samstag einiges dafür getan, daß wenigstens der Ausflug mit Rudi Völler ein erfolgreicher wird. Sie haben beide ein Tor erzielt, allerdings zählte nur das von Ramelow: Bei Schneiders Treffer in der zweiten Halbzeit, kurz bevor Litauen den Ausgleich erzielte, hatte der Linienrichter den Ball vor dem Zuspiel von Fredi Bobic im Aus gesehen. Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten gewonnen und ich hätte kein Tor gemacht, sagte Ramelow. Aber gutgetan habe der Treffer schon. Der Leverkusener Kapitän hob sich im Frankenstadion über weite Strecken ebenso positiv ab von einigen Mitspielern, wie er es schon in den vergangenen Wochen bei seinem Klub getan hatte. Er war zwar zunächst eingeteilt für die Vierer-Abwehrkette, dort hielt ihn aber nicht viel. Als die deutsche Nationalmannschaft in den ersten 20 Minuten die braven Litauer scheinbar mühelos beherrschte, war es meist Ramelow, der die Impulse dafür gab. Eigentlich wäre dies die Aufgabe von Torsten Frings gewesen als Ersatz des verletzten Michael Ballack im Zentrum. Der Dortmunder wirkte aber von Anfang an überfordert mit dieser Rolle und hielt sich mehr in der Defensive auf. Nach der Pause durfte er auf die linke Seite wechseln – eine Position, die ihm mehr zusagt, aber dennoch nicht zu einer besseren Leistung antrieb. Der Auftritt von Ramelow und Schneider bestätigte Teamchef Völler darin, daß er an den beiden festgehalten hatte. Viel war vorher darüber diskutiert worden, ob es überhaupt sinnvoll sei, die Leverkusener zu bringen, weil sie womöglich psychisch angeschlagen sind.“

Philipp Selldorf (SZ 31.3.) vermerkt zu diesem Thema. „Aus der Kabine der Deutschen im Frankenstadion kamen nach dem Spiel müde, zerknirschte Männer, die der Reihe nach davon erzählten, wie enttäuscht sie über dieses 1:1 gegen Litauen seien oder die, wie Jörg Böhme, gleich von einer „Katastrophe“ sprachen. Einer aber schlenderte entspannt durch den Kabinengang, machte Witze und lächelte. Es war Carsten Ramelow, dem während der vergangenen Woche unentwegt nachgesagt wurde, er trage mit seinen in Leverkusen geschulten Verlierererfahrungen den bösen Keim von Melancholie und Tristesse ins Nationalteam. Der Alt-Internationale Olaf Thon hatte in einer Expertise für denkicker sogar dafür plädiert, Ramelow und dessen gleichfalls geschlagenen Teamgefährten Bernd Schneider zu Hause zu lassen: „Damit sie sich auf Leverkusen konzentrieren können.“ Im Sinn hatte er wohl eine Art Quarantäne: Damit die beiden die anderen Nationalspieler nicht mit Versagensängsten anstecken. Doch Ramelow durfte nicht nur mitspielen (Rudi Völler lässt seine loyalen Mitarbeiter niemals im Stich), er schoss in seinem 36. Länderspiel auch sein erstes Tor. Und was für eins.“

Michael Horeni (FAZ 31.3.) analysiert die Reaktionen nach dem Spiel. “Wir hatten Angst, uns zu blamieren, stellte Oliver Kahn zwar unmittelbar nach dem Spiel nur fest, aber wir wollen jetzt nicht in Panik verfallen. Viel mehr sprach der Kapitän, der ja selbst in aller Munde ist, diesmal nicht. Obwohl ganz nebenbei mit dem als peinlich empfundenen 1:1 auch noch die Führung in der Gruppe 5 ausgerechnet an Berti Vogts und dessen schottisches Team abhanden kam. Aber trotz aller tabellarischen Zusatzbeschwernisse: Eigentlich, und das wußten bei der Nationalelf alle, hatte Kahn zur rundum enttäuschenden dritten Qualifikationsbegegnung zur Europameisterschaft ja schon längst alles gesagt: vor gut sechs Wochen nach dem 1:3 im Testspiel gegen Spanien. Mehr Herz und einen anderen Geist – das hatte er sich schon im Vormonat auf der Ferieninsel Mallorca gewünscht und eindringlich gefordert. Aber erhalten hatte Kahn nur öffentliche und interne Kritik – und nun keineswegs die entsprechende sportliche Reaktion. Denn ein mutiges Herz und ein unternehmerischer Geist blieben beim Weltmeisterschaftszweiten auch gegen Litauen allenfalls flüchtige Begleiter einer Mannschaft, die vergeblich damit beschäftigt war, innere Stabilität, ein spielerisches Gesamtkonzept und eine entsprechende Führungskraft zu finden. Kahn blieb trotz aller Defizite still. Aber dafür ging es in der Kabine laut zu. Rudi Völler machte seinen Spielern unüberhörbare Vorwürfe. Seinen Ärger über eine nur in den ersten 20 Minuten reife, danach unendlich lange teilnahmslose und erst nach dem Ausgleich wieder engagierte Mannschaft konnte der Teamchef nur schwer unterdrücken (…) Das 1:1 durch Razanauskas war die schon nicht mehr ganz unerwartete Folge für ein Team, das sich vor allem im Mittelfeld beharrlich weigerte, Kontrolle auszuüben, Druck zu entfalten und Torerfolge als Ziel des Spiels anzuerkennen. Vor allem Torsten Frings erlebte den wohl ernüchterndsten Abend in der Nationalmannschaft seit seinem grandiosen internationalen Aufstieg vor rund einem Jahr. Als Ersatz für Ballack sollte er diesmal einen entscheidenden Beitrag leisten, aber er werde der Führungsaufgabe genauso wenig gerecht wie Dietmar Hamann. Und da sich auch Schneider von seiner überragenden WM-Endspielform nach neun traumatischen Leverkusener Monaten entfernt hat, war das Mittelfeld vor allem eins: ein Vakuum. Der Teamchef mußte sich indes fragen lassen, warum er seinen Wackelkandidaten im Mittelfeld zur Pause das Leben noch zusätzlich erschwerte. Er nahm Tobias Rau zur Halbzeit mit Jörg Böhme den Partner auf der aktiven linken Seite. Auch wenn der Schalker sich ein paar Patzer leistete, ging schon wie gegen Spanien von diesem Duo die größte Dynamik aus. Mit der Einwechslung von Rehmer stärkte Völler allein das ohnehin viel zu große statische Element seiner Mannschaft. Auch der wenig effektive Wechsel von Frings nach der Halbzeit auf die linke Seite sprach nicht gerade für ein erfolgreiches taktisches Grundkonzept.“

Frank Ketterer (taz31.3.) meint dazu. „Es ist schwierig, gegen eine so kompakt stehende Mannschaft zu spielen, sagte etwa Carsten Ramelow. Es war zu viel Angst im Spiel. Angst vor der Niederlage. Wenn du so Angst hast, passiert es erst recht, ergänzte Oliver Kahn. Warum es erst nach der eigentlich beruhigend wirkenden Führung passierte, sagte der Torhüter nicht, kaum weiter erhellend war auch der Hinweis auf die Spieler in der Hinterhand, die diesmal verletzt gefehlt hätten, beispielsweise Michael Ballack oder Jens Jeremies. Stürmer Klose wiederum waren die Räume zu eng, der Ball zu hart und der Rasen zu glitschig. Der Pfälzer hat das wirklich gesagt – und wahrscheinlich auch noch so gemeint. Übertroffen wurde er dabei noch von Fredi Bobic. Das ist eine abgezockte Truppe, urteilte der Sturmpartner über die Litauer. Was Bobic nun wirklich nicht wissen konnte: Die Kicker aus dem Baltikum mussten nicht nur auf drei ihrer Leistungsträger verzichten, sondern agierten in diesem Spiel erstmals mit Viererkette. Sonderlich abgezockt klingt das nicht. Gänzlich uncool wirkte indes, dass Teamchef Völler dem Schiedsrichterassistenten die Schuld in die Schuhe schieben wollte für das als Blamage empfundene Remis. Eine Sauerei sei es gewesen, dass der in der 71. Minute einen Ball im Toraus gesehen, der sich dort gar nicht befunden habe, weil von Bobic noch von der Linie gekratzt und von Bernd Schneider schließlich ins Tor geschoben, was man erst später im TV genau sehen konnte. Es wäre das 2:0 für Deutschland gewesen. Es wäre der sichere Sieg gewesen, wie alle fanden, am Ende sogar die Litauer. Vielleicht aber hätten Völler und seine Burschen auch besser daran getan, über die Tatsachen dieser Partie zu sprechen als über ihre Eventualitäten. Darüber zum Beispiel, dass weder Schneider noch Torsten Frings den verletzten Michael Ballack als Spielmacher zu ersetzen vermochten und das deutsche Spiel schon dadurch führungslos vor sich hintrieb. Oder darüber, dass auch Didi Hamann, bei der WM noch großer Stratege, dem Spiel diesmal kaum Impulse nach vorne geben konnte. Oder einfach nur darüber, dass es erstaunlich viele Fehlpässe gab und Unzulänglichkeiten auch in der Ballbehandlung, die kaum vizeweltmeisterlich anmuteten. Vielleicht hat Rudi Völler das alles ja auch alles bemerkt und war deshalb so zerknirscht. Gesagt hat der Teamchef: Das Unentschieden war nicht unverdient. Das wiederum ist die traurige Wahrheit.“

Reaktionen von Valdas Ivanauskas (Co-Trainer von Litauen) BLZ

Daniel Pontzen Michael Rosentritt (Tsp 31.3.) fassen zusammen. „Auch wenn es mit der Nationalelf noch nicht so weit gekommen ist wie mit Bayer Leverkusen, so lassen sich Parallelen finden. In gewisser Weise hat die Formkurve der Nationalmannschaft bayerdeske Züge angenommen. Vor knapp einem Jahr begeisterte der Dreifach-Vize aus Leverkusen die Menschen auf spielerische Weise. Wenige Wochen später erreichte die Euphorie um die Nationalelf ihren Höhepunkt. Bald darauf wurden beide Mannschaften von der Tagesrealität eingeholt. Von den sieben Länderspielen seit dem WM-Finale hat die Nationalelf zwei gewonnen, drei unentschieden gespielt und zwei verloren. Mittlerweile ist nicht mehr nur der Schwung des Sommers 2002 verloren, die Nationalmannschaft scheint außer Tritt geraten zu sein.“

vor dem Spiel

„Oliver Kahn belegt bei der Nationalmannschaft, dass er Privates und Beruf zu trennen vermag”, lesen wir in der SZ. Wenn der Kapitän der DFB-Auswahl sich äußert, hören alle genau hin. Außerdem: die mamteurhaften Verhältnisse beim heutigen Gegner aus Litauen.

Schildklappe tif ins Gesicht gezogen

Michael Horeni (FAZ 29.3.) beobachtete die Pressekonferenz des Kapitäns der deutschen Nationalmannschaft. “Oliver Kahn trägt selten Baseballkappen. Schon gar nicht, wenn er als Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu Pressekonferenzen erscheint. Als er jedoch am Freitag vor dem Europameisterschafts-Qualifikationsspiel gegen Litauen das Podium in der Turnhalle der Herzogenauracher Berufsschule betritt, trägt er eine dunkle Schildkappe. Er hat sie tief ins Gesicht gezogen, und diese Äußerlichkeit wirkt keineswegs wie eine modische Laune. Es scheint vielmehr, als wollte Kahn mit teils verdecktem Gesicht eben auch nur einen Teileinblick in sein derzeitiges Leben und Gefühlsleben als öffentliche Person gestatten. Denn als Torwart, das wußte er nur zu gut, würde er über das Länderspiel an diesem Samstag in Nürnberg kaum befragt werden. Kahn sollte vor allem über sich selbst sprechen, über seine Rolle als Kapitän und seine Zukunft, und er tat es mit unbewegtem Blick. Es war Kahns erster offizieller Auftritt, nachdem sein Privatleben über Wochen in die Öffentlichkeit gezerrt wurde und über die sportlichen Folgen der Affäre und der darauffolgenden Boulevardkampagne bei der Nationalmannschaft und dem FC Bayern München ausgiebig spekuliert wurde. Wechsel ins Ausland, Rücktritt aus der Nationalmannschaft oder Verzicht auf das Kapitänsamt – das waren die Stichworte, die nicht zuletzt Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld geliefert hatte (…) In der Affäre Kahn, die so viele Schlagzeilen machte, ging es aber nicht nur um die Berichterstattung, sondern zunächst auch um das Verhalten des Kapitäns, dem während der Schwangerschaft seiner Ehefrau eine andere Beziehung nachgewiesen wurde. Die Frage, ob er als Kapitän noch Vorbild sei, wollte Kahn nur indirekt beantworten. Er sei in dieser Frage im permanenten Austausch mit ihm nahestehenden Menschen. Vorbildfunktion sei für ihn ein sehr wichtiger Begriff. Aber ich bin, wie sie vielleicht wissen, auch ein Mensch. Mein Leben besteht nicht nur daraus, den Erwartungen anderer Menschen gerecht zu werden und permanent Vorbildfunktionen zu erfüllen. Ich tue dies, wo es mir möglich ist. Aber privat mache ich Fehler wie andere auch. Das bitte er zu respektieren. Die negativen Auswirkungen des turbulenten Privatlebens auf seine Leistungen glaubt Kahn weiterhin begrenzen, wenn nicht sogar unterdrücken zu können.“

Dieser Einzelgänger taugt nicht zur Leitfigur

Jörg Hanau (FR 29.3.) wirft ein. „Im Grunde taugt dieser Einzelgänger von seltsam zerrissener Wesensart nicht zur Leitfigur. Nicht auszuschließen, dass er das bereits erkannt hat. Kahn ist seinen Mitspielern längst entrückt, seine Aufgaben als Kapitän nehme er kaum noch wahr, ist aus Kreisen der Mannschaft zu hören. Die Oliver-Kahn-AG hat sich verselbstständigt. Er könne sehr gut trennen zwischen Beruf und anderen Dingen, sagt er. Die Rolle des Unfehlbaren, in die sie ihn gedrängt haben, drückt Kahn schon lange. Schutzmechanismen will er sich über die Jahre angeeignet haben. Ich glaube nicht, dass es noch etwas gibt, das mich umwerfen kann, sagt Kahn, der am öffentlichen Anspruch, ein besserer Mensch als der Durchschnittsbürger zu sein, gescheitert ist. Einem Anspruch, den er nie an sich selbst gestellt hat.“

Wie gepanzert

Philipp Selldorf (SZ 29.3.) meint zu dieser Personalie. „Ob sich Oliver Kahn verändert hat, seitdem er wegen seines Privatlebens in den Leute-Magazinen Schlagzeilen macht, ist dieser Tage schwer zu klären und wurde auch gestern bei seiner ersten Pressekonferenz nach dem Beginn der Turbulenzen nicht offenbar. Kahn zeigte keine Emotionen, dafür eine stringente Abwehrlinie. Auf Fragen nach seinem persönlichen Befinden war er vorbereitet. Er habe „eine sehr dicke Haut“, ließ er, eher abweisend, wissen. Sieht man ihn dieser Tage auf dem Trainingsplatz im figurbetonten Dreistreifen-Einteiler, kann man nur zustimmen. Der Körper wirkt so fest, als sei er gepanzert. Während Kahn mit dem Torwarttrainer Sepp Maier arbeitet, findet sich auch seine Aussage bestätigt, er könne das Privatleben „gut vom Beruf trennen.“ Tatsächlich haben die Trainingssessions, die Kahn und Stellvertreter Jens Lehmann mit ihrem Betreuer Maier absolvieren, die Qualität einer meditativen Sitzung. Es wird kaum ein Wort gesprochen, und beim Dehnen und Strecken ähnelt der Gesichtsausdruck der beiden Torhüter der Versunkenheit von Schachgroßmeistern in der tiefsten Konzentrationsphase. Diesen vergeistigten Zustand beeinflusst es auch nicht, ob sich das Training hinter verschlossener Tür abspielt oder, wie am Donnerstag Nachmittag, bei der Schauveranstaltung im Nürnberger Frankenstadion vor 2000 Teenagern, die abwechselnd nach „Olli“ und „Rudi“ (Völler) kreischen. Während seiner heiligen Pflichterfüllung ignoriert Kahn die Kinder, als gebe es außer ihm auf der ganzen Welt nur noch diesen Sepp Maier, der aus sieben, acht Metern einen Ball nach dem anderen hart aufs Tor knallt. Bei dieser mit militärischer Strenge vorgetragenen Übung sind Kahns Reaktionen nicht bemerkenswert – sie sind fantastisch.“

Interview mit Tobias Rau (VfL Wolfsburg) Tsp

Ferien für den Fußball

Die amateurhaften Verhältnisse des heutigen Gegners der DFB-Auswahl schildert Hartmut Scherzer (FAZ 29.3.). „Der Sportdezernent der Stadt Wilna hat sich sieben Tage unbezahlten Urlaub genommen. Die beiden EM-Qualifikationsspiele Litauens gegen Deutschland und Schottland sind dem Mann in diesen Tagen wichtiger als der Bürokram auf seinem Schreibtisch. Nun ist Algimantas Liubinskas nicht etwa nur ein ranghoher Schlachtenbummler aus dem Rathaus. Der Abteilungsleiter im städtischen Direktorium für Kultur, Erziehung und Sport hat vor drei Wochen die Fußball-Nationalmannschaft als Cheftrainer übernommen. Diese Aufgabe aber unterliegt nicht seiner dienstlichen Zuständigkeit. Also keine Freistellung auf Kosten der Stadt für die Reise nach Nürnberg. So sind bei uns nun einmal die Vorschriften, sagt der 51 Jahre alte Stadtdirektor und freut sich dennoch über seine Ferien für den Fußball. Der nationale Nebenjob sei ihm eine Herzenssache (…) Mit Liubinskas‘ Amtsantritt wurde Litauens Fußball-Ikone Valdas Ivanauskas zum Assistenztrainer berufen. Der einstige Torjäger das Hamburger SV, der im vergangenen Oktober an der Sporthochschule Köln die Trainerlizenz erwarb und mit seiner Familie immer noch in Schortens bei Wilhelmshaven wohnt, legt Wert auf die Bezeichnung Berater. Er bekomme keinen Euro. Die Bezahlung seines Chefs sei auch nur lächerlich. Wir machen das aus Liebe zu Litauen und zum Fußball. Mit dem Herzen, versichert Ivanauskas. Trainer der litauischen Nationalmannschaft ist kein Fulltimejob. Fußball in Litauen, das bedeutet wenig Professionalismus und erfordert viel Idealismus und Improvisation. Das Quartier für Mannschaft und Mitreisende, ein verwinkeltes, romantisches Hotel im Familienbetrieb mitten in der Nürnberger Altstadt, wurde von der Kindernothilfe in Litauen e.V. vermittelt. Gegessen wird in den umliegenden Restaurants. Kein Problem für den umtriebigen Team-Manager Robertas Tautkas, die Reisegesellschaft samt Spieler aufzuteilen: Fünfunddreißig zum Italiener, fünfunddreißig zum Königshof.“

(28.3.)

Moralische Aufrüstung für und von Klose

Zum wiedererhöhten Stellen- und Marktwert des deutschen WM-Helden bemerkt Philipp Selldorf (SZ 28.3.). „Klose galt bisher als schüchtern und still; um seine öffentlichen Äußerungen verstehen zu können, musste man die Ohren spitzen wie ein Jäger auf der Pirsch. Diese Zeiten sind vorbei, denn es ist etwas passiert mit dem vom Ruhm überwältigten Torjäger, der bei der WM fünf Tore erzielte und seitdem trotz aller folgenden Probleme im Strafraum ein Spekulationsobjekt erster Klasse ist. Gestern erst berichtete die italienische Sportpresse, dass Juventus Turin erwäge, ihn als Sturmpartner für den französischen Nationalspieler Trezeguet zu verpflichten, und diese Botschaft gibt dem Kaiserslauterer Präsidenten Rene C. Jäggi recht, der kürzlich darauf hingewiesen hatte, wie schnell die Branche alle über Monate genährten Vorbehalte vergisst, sobald ein einigermaßen hoffnungsvoller Stürmer wieder ein paar Tore schießt. Klose trifft, und der FCK siegt wieder – und die noch vor kurzem akuten Sorgen, dass der Hochbegabte in der Versenkung verschwinden könnte, sind plötzlich passé (…) Kloses aufgefrischtes Selbstwertgefühl geht aber nicht nur aus seinen jüngsten Toren in der Bundesliga und seinem gehobenen Stellenwert auf dem Transfermarkt hervor, sondern äußert sich plötzlich auch wieder durch die Anerkennung im Nationalteam, zu dessen Problemfall er nach der WM wurde. Seinen Status als Angreifer der ersten Wahl bestätigen ihm außer dem Teamchef („Der Herr Völler hat ein ganz gutes Händchen“) auch die Juniorpartner, die seine Konkurrenten sind. Denn Deutschlands Angriff formiert sich neuerdings aus den Tiefen der Bundesligaprovinz, und im Kreis von Kevin Kuranyi (VfB Stuttgart), Paul Freier (VfL Bochum) und Benjamin Lauth (TSV 1860) fühlt sich Klose schon als Altgedienter. Dass Lauth den Mitspieler Klose zum „Vorbild“ erklärt hat, nimmt der Pfälzer gern zur Kenntnis. „Das ehrt einen schon, dass der Benni zu mir aufschaut“, sagt er und fügt an, er habe „viel mit ihm geredet“. Solche Anmerkungen hat früher im DFB-Team der Ultraroutinier Lothar Matthäus getroffen, wenn er Mitspieler moralisch aufrüstete.“

So viel Klose wie noch nie

Daniel Pontzen Michael Rosentritt (Tsp 28.3.). „Der 24-Jährige scheint gestärkt aus dieser ersten Formkrise hervorgegangen zu sein. Wenn er antwortet, starrt er nicht mehr schüchtern zu Boden, sondern blickt seinem Gesprächspartner immer öfter in die Augen. Noch wirkt er ein wenig ungelenk, aber das kann sich mit der Zeit legen. Rudi Völler hat ihn damals trotz seiner Abschlussschwäche immer wieder zur Nationalmannschaft beordert. Mit wachsendem Erfolg. Klose erfühlt wieder seinen Marktwert. Dass die Herren Rummenigge (Bayern München) und Meier (Dortmund) im Wechsel und wöchentlichen Takt so tun, als sei ihr Interesse an der Verpflichtung Kloses erloschen, lässt ihn kalt. „Was in der Öffentlichkeit erklärt wird, will ich nicht beurteilen. Ich halte mich an Fakten“, sagt Klose. Dann steht er auf, bedankt sich freundlich für den Plausch und bahnt sich selbstbewusst den Weg durch die Menge. So viel Klose gab es noch nie.“

Interview mit Ramelow FR

(27.3.)

Sich überstürzende Geschehnisse in der kleinen deutschen Fußballwelt

Philipp Selldorf (SZ 27.3.) weilt in Herzogenaurach und beschreibt die Atmosphäre im DFB-Kader. „Den sich dermaßen überstürzenden Geschehnissen in der kleinen deutschen Fußballwelt setzen die Nationalspieler eine ihrer besttrainierten Fähigkeiten entgegen: demonstrative Gleichmut. Dass soeben sein Trainer entlassen wurde, kontert der Schalker Nationalspieler Jörg Böhme mit der gelangweilt vorgetragenen Entgegnung: „Ja gut, der Zeitpunkt ist etwas überraschend.“ Das erinnerte daran, wie Kuranyi auf seine DFB-Nominierung reagiert hatte: „Ich wusste gar nicht, dass ein Länderspiel ist.“ Aber Rudi Völler traut der Fassade des Unerschütterlichen nicht. Nachdem der Teamchef bereits am Dienstag genervt Auskunft über die Nachwirkungen der Eheaffäre Oliver Kahns gegeben hatte („es ist alles ausgelutscht“), er gestern einen Kommentar zur Entlassungswelle bei den Bundesligatrainern sprechen musste („da hat sich ’n bisschen was getan – ’n bisschen viel auf einmal“), versuchte er verzweifelt, die Rede aufs Spiel gegen Litauen zu lenken. Dort geht es um Punkte für die EM-Teilnahme.“

Ritterschlag von Magath

Jörg Hanau (FR 27.3.) porträtiert Kuranyi. „Sein bescheidenes Auftreten kommt gut an. Ich habe noch viel zu lernen, sagt der Mann mit den schmalen Koteletten und dem akurat geschnittenen Peace-Bärtchen. Das Symbol des Friedens schmückt seit zwei Wochen sein Kinn. Eine unkonventionelle Friedensbotschaft des Fußballstars. Star? Ich? Nein, ich bin kein Star, erwidert Kuranyi energisch. Oliver Kahn ist einer – ich nicht. Kuranyi zählt nicht zu den typischen Wohlstandsjünglingen der Bundesliga, denen die Flausen im Kopf nicht auszugehen scheinen. Nicht mehr. Obwohl erst 21 Jahre alt und mit seinen 13 Bundesligatreffern bester deutscher Torjäger, ist es ein Verdienst meines Trainers Felix Magath, sagt der Stürmer und erinnert sich an die vergangene Saison, da er erstmals zum Profikader des VfB Stuttgart zählte, fünfmal mitspielen durfte, ein Tor gegen den 1. FC Kaiserslautern schoss, dann aber wieder mit den VfB-Amateuren in den Niederungen der Regionalliga verschwand. Aussortiert von eben jenem Magath, der ihn jetzt zum Nationalspieler geformt hat. Ich dachte damals, ich sei schon ein Großer, sagt Kuranyi ziemlich abgeklärt. Vor allem mit der Disziplin hatte er früher so seine Schwierigkeiten. Mal kam er zu spät zum Dienst, dann nahm er die Einheiten etwas zu locker. Und das nicht nur unter der Aufsicht Magaths, der seinen Schützling mittlerweile jedoch über den grünen Klee lobt. Sein Aufstieg sei kein Zufall, sagt der Cheftrainer des VfB heute, Kevin hat sich alles hart erarbeitet. Aus Magaths Mund kommt solch eine Aussage einem Ritterschlag gleich. Aus Sicht seines Beraters Karlheinz Förster war es im Nachhinein gut, dass er wieder zu den Amateuren musste. Da hat er kapiert, dass es nur auf Fußball ankommt. Nun, im Kreise der besten deutschen Fußballer, verspricht Kuranyi, nicht wieder denselben Fehler zu begehen.“

Vom Neuling im DFB-Kader ist Christof Kneer (BLZ 26.3.) angetan. “Niemand muss meinen, dass Kevin Kuranyi ein normaler Spieler ist. Die Generation Bravo liebt ihn, weil er ein cooles Kinnbärtchen trägt und lustig lispelt. Gleichzeitig ist er auch so etwas wie ein großes Kind. Er ist ein bisschen unsicher und ein bisschen naiv, und in Stuttgart fürchten sie, dass ihr Jüngling auf der große Bühne noch nicht betriebssicher ist. Sie fürchten, dass sich der Schüchterling verplappern könnte, wenn es ein paar böse Pressebuben darauf anlegen. Und die entgegengesetzte Furcht haben sie auch, nämlich, dass plötzlich ein cooler Jungstar vom Länderspiel nach Hause kommt und nur noch von Real Madrid träumt – gerade jetzt, da der VfB dem für kleines Geld bis 2005 Gebundenen einen besser dotierten Vertrag bis 2007 anbieten will. Man kann also sagen, dass Kevin Kuranyi ein Star ist, und gleichzeitig ist er ein Anti-Star. Vielleicht ist er der unnormalste Spieler, den das Land zu bieten hat. Vielleicht muss man auch den Plural nehmen und sagen: Den die Länder zu bieten haben. Kuranyi ist ein Deutscher, ist ein Brasilianer, ist ein Panamaer. Man kommt ziemlich rum, wenn man seinem Stammbaum hinterher recherchiert. Kuranyis in Frankreich geborener Vater lebte in Stuttgart, bis es ihn nach Brasilien verschlug, wo seine panamaische Frau ihm Kevin gebar, der über eine deutsche, eine brasilianische und eine panamaische Staatsbürgerschaft verfügt. Flankierend kann er einen dänischen Urgroßvater in Anrechnung bringen, sowie einen ungarischen Opa, dem er seinen Nachnamen verdankt. Es hat in Stuttgart einmal eine Zeit gegeben, als Krassimir Balakow, Giovane Elber und Fredi Bobic den Ehrentitel „Das magische Dreieck“ führten. Sie haben dem genialen Trio lange nachgetrauert beim VfB, aber inzwischen brauchen sie es nicht mehr. Die Schwaben haben jetzt ein neues magisches Dreieck. Es heißt Kevin Kuranyi. Vielleicht ist dies das Unnormalste an dieser erstaunlichen Begabung. Kevin Kuranyi kann schon jetzt so unglaublich viel, dass einem fast angst und bange werden kann dabei. Kuranyi ist geschmeidig wie Elber, er ist kantig wie Bobic, und manchmal schleicht er sich ins Mittelfeld und schüttelt ein listiges Pässchen aus dem Fußgelenk wie Balakow.“

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