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Das deutsche Turnier
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| Donnerstag, 25. März 2004
Roland Zorn (FAZ 2.7.) fasst das deutsche Turnier zusammen. „Zwei Jahre nach der niederschmetternden Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden ist der deutsche Fußball wieder zum Markenartikel geworden – und das nicht nur mit den üblichen schweißtreibenden Ingredienzien aus hechelndem Kampfeswillen und unbändiger Willenskraft. Zum guten Schluss dieser WM zeigten die Deutschen, dass sie auch den Spaß am Spiel zu schätzen wissen. Mit Größen wie Bernd Schneider, dem „Brasilianer“ aus Leverkusen, Oliver Neuville, dem Flitzer unterm Bayer-Kreuz, oder dem im Endspiel leider gesperrten Neumünchner Ballsouverän Michael Ballack können Profis von Extraklasse Spurenbilder für Ästheten zeichnen (…) Die Menschen in Deutschland fühlten sich in einer romantischen Aufwallung durch ihre Nationalmannschaft beschenkt wie lange nicht – obwohl sie nicht gesiegt und sogar das Idol einen folgenschweren Fehler begangen hatte. Wenn ein verlorenes Spiel die Menschen anrührt und ein Ergebnis zur Randnotiz wird, ist der Fußball für einen schönen Moment der Herzensbrecher für ein ganzes Volk.“
Ralf Wiegand (SZ 29.6.) resümiert den bisherigen Turnierverlauf aus Sicht der Völler-Equipe. „Der Glaube an das, was unter dem Titel “der deutsche Fußball” Thema an den meisten Stammtischen nach jedem großen Turnier ist, ist wiederhergestellt. Nach dem Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft 2000 war dieser deutsche Fußball so platt wie frisch gewalzter Nudelteig, den die Öffentlichkeit nur noch in Streifen schneiden und weich kochen musste. Jetzt glänzt er wieder als solides Markenzeichen wie die Pfälzer Frühkartoffel, vielseitig verwendbar und vor allem festkochend (…) Völler hat sich als sehr zäh erwiesen und der Mannschaft einen Realismus gelehrt, der ihr geholfen hat, sich von der nicht sehr hohen Meinung der Außenwelt abzukapseln und ihr eigenes Ding durchzuziehen. Und wenn es mal nicht so schön aussah, dieses Ding, dann hat es Völler trotzdem goutiert. Darüber ist eine sehr haltbare Vertrauensbasis entstanden. Gegen diese Errungenschaften der letzten Wochen und Monate ist jeder Widerspruch zwecklos, unabhängig vom Ergebnis dieses einen, letzten Spiels am Sonntag (…) Ins Endspiel gestolpert ist schon manche deutsche Mannschaft in der Vergangenheit und bald darauf vergessen worden – gewonnen hat dieses Finale aber noch nie eine, die nicht weltweit als Symbol ihrer jeweiligen Zeit getaugt hätte.“
Über die Ursachen des deutschen Erfolgs schreibt Jan Christian Müller (FR 29.6.). „Ein Finale, dessen Erreichen sich viele Fachleute nur damit erklären können, dass der „deutsche Charakter“ durch diese Mannschaft, diese Modellstudie des „Machbaren“, geradezu in Vollendung symbolisiert wird. Linke, Jeremies und Schneider mussten einen schwierigen Weg gehen. Es ist kein Zufall, dass sich so Typen entwickelten, die es gelernt haben zu kämpfen und sich durchzusetzen. Und die zudem noch fähig sind, sich in einer Gemeinschaft unterzuordnen. Die Tage von Japan und Südkorea waren auch die Tage des neu entdeckten deutschen Kollektivs, der rückhaltlosen Unterordnung des Individuums im Sinne der Sache (…) Die ostdeutsche Kaderschmiede und ihre Denkmuster halfen dem deutschen Kollektiv auf dem Weg bis zur Endstation Sehnsucht.“
Der französische Kommentator Jean-Marc Butterlin (SZ 29.6.) singt ein Loblied auf die deutsche Elf. „Sie hat in der Demütigung, manchmal in der Gleichgültigkeit, oft in der Kritik wachsen können. Sie war nicht das arrogante Deutschland, wie oft die Neider oder die Verlierer von ihr behaupten. Sie hat ihren Weg durch alle Schwierigkeiten gemacht. Sie hat alle Fallen umspielt. Sie hat sich von innen aufgebaut, wie in einer Familie. Sie hat akzeptiert, dass man ihr schlechte Spiele nachsagt, darüber lächelnd, sie gewonnen zu haben. Sie hat letztlich nichts anderes gemacht, als das Prinzip der sportlichen Geste anzuwenden, also mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Beste zu erreichen. Es ist eine Lektion, über die so manche, von Paris bis Buenos Aires, über Rom und London, sich Gedanken machen sollten (…) Man wird sich an die deutsche Mannschaft 2002 erinnern müssen, sicherlich nicht als die eleganteste der Geschichte aber vielleicht die schönste, wenn man sie von innen betrachtet. Man spricht oft vom sportlichen Geist, von der kollektiven Anstrengung. Deutschland hatte sich damit vollgesaugt, diese Mannschaft hat mehr gewonnen als ihre Siege, sie hat unsere Sympathie gewonnen.“
Über den deutschen Star schreibt Martin Hägele (NZZ 29.6.). „Nie zuvor hat ein Schlussmann mehr Einfluss genommen bei Weltmeisterschaften; Kahn wird deshalb in Japan mit dem Lew-Jaschin-Preis ausgezeichnet werden, obwohl er die russische Legende bereits jetzt übertroffen hat, den Mann, den sie die schwarze Spinne nannten, weil alles von den Stutzen bis zu den Handschuhen an ihm schwarz war. Vor schwarzen Spinnen haben Stürmer Angst zu haben. Oliver Kahn trägt meistens einen hellblauen oder hellgrauen Pullover, ist blond und hat manchmal auch Gel im Haar. Aber vor dem besten Torhüter der Welt haben nicht nur diejenigen Angst, deren Job es ist, Tore zu erzielen. Ganze Mannschaften, ja ganze Länder scheinen vor Furcht und Ehrfurcht vor diesem Mann zu erstarren, der in sechs Spielen dieser WM, in fast zehn Stunden also, erst ein einziges Mal bezwungen wurde – aus kürzester Distanz. Wenn sich im japanischen Fernsehen der Ball dem deutschen Tor schätzungsweise auf vier Meter nähert, dann beginnt der Reporter schon geheimnisvoll zu murmeln: Keeper Kahn. Wahrscheinlich halten die Leute in Nippon diesen Deutschen für den Sohn ihrer Comicfigur Godzilla.”
Direkter Freistoß
Porträt Bernd Schneider Tsp
Die Perspektiven der deutschen Elf hat Ralf Wiegand (SZ 28.6.) im Blick. „Lange genug hat der dreimalige Weltmeister darauf warten müssen, sich einmal eine gepflegte Außenseiter-Taktik zurechtlegen zu dürfen, für die er keinesfalls beschimpft werden wird. Denn obwohl das Team die Erwartungen in einer Weise übertroffen hat, als wäre Boris Becker noch einmal nach Wimbledon zurückgekehrt und würde dort das Endspiel erreichen, war es in allen Spielen irgendwie immer Favorit. Aus den Schwierigkeiten, die sie bisher hatte, auch weniger renommierten Gegnern wie USA, Paraguay oder Irland Herr zu werden, müsse man nicht zwangsläufig schließen, dass die Mannschaft gegen die besten des Turniers, Brasilien, zwangsläufig untergehen wird.“
Stefan Willeke (Die Zeit 27.6.) zu dem bevorstehenden Finale, “aus dem Deutschland als Fußballweltmeister hervorgehen wird: Ein Torwart lässt seine Koteletten wachsen und faustet sein Land ins Endspiel. Finale – zwei Mannschaften, zwei Trainer, und Deutschland gewinnt. Fußball ist ein einfaches Spiel. Entscheidend ist am Ende immer die Kahn-Frage.”
(27.6.) Die Entwicklung der deutschen Elf unter Rudi Völler skizziert Ralf Wiegand (SZ 27.6.). „Der dreimalige Weltmeister und nun siebenmalige WM-Finalist Deutschland hat das verblasste Bild der unbeirrbaren Turniermannschaft aus Germany in so grellen Farben restauriert, dass selbst die Engländer ihren wie teuren Wein gelagerten Spaß am 5:1 von München vom letzten Herbst verloren haben. Das Desaster aus dem Olympiastadion war die tiefste Stelle jenes Tales, in dem Rudi Völler den deutschen Fußball an die Hand genommen hat, um gemeinsam irgendwo einen kleinen Hügel zu finden. Seitdem ging es auf und ab (…) Vermutlich ist eine Turniermannschaft demnach eine Vereinigung von Fußballspielern, die ihr jeweiliges Können, das ihr gerade zur Verfügung steht, am effizientesten umzusetzen vermag. Im Spiel gegen Südkorea, klammert man Oliver Kahns Parade aus dem Frühstadium der Partie als erneute Überlappung des Phänomenalen mit dem Irdischen aus, war es kaum möglich, einen schlechtesten und einen besten Spieler auszumachen.“
Roland Zorn (FAZ 27.6.) lässt den deutschen Turnierverlauf Paroli laufen. „Die deutsche Mannschaft ist mit dem Attribut „bedingt WM-tauglich“ nach Japan und Südkorea gereist, und so ganz schien das Team diese Einschätzung nicht loszuwerden. 8:0 gegen Saudi-Arabien: ein nettes Vorbereitungsspiel; 1:1 gegen Irland: in letzter Minute einen sowieso glücklichen Sieg verpasst; 2:0 gegen Kamerun: erst mit zehn Mann wach geworden; 1:0 gegen Paraguay: ein besserer Freizeitkick; 1:0 gegen die Vereinigten Staaten: unverdienter Sieg; 1:0 gegen Südkorea: die Trendwende. Endlich ein zum Feiern schönes 1:0. Jetzt schwenkt so mancher um und entdeckt die Tugend der Selbstverteidigungskunst. Wer sich in sechs Turnierbegegnungen erst einmal, dazu in der Nachspielzeit, einen Gegentreffer anrechnen lassen musste, der kann nicht nur auf einen faszinierenden Torhüter bauen. Wer aus wenigen Gelegenheiten pro Spiel entscheidend Kapital zu schlagen versteht, der versteht sich auf das Entscheidende in einem Fußballspiel. Wer sich nicht einreden lässt, dass er nur Glück habe, den wirft so schnell nichts um. Seit Dienstag jedenfalls werden die vorher oft nur beifällig registrierten Erfolge der Mannschaft von Teamchef Rudi Völler auch mit einem Gütesiegel versehen: deutsche Wertarbeit, Aufbau Fernost.“
Die Times beleuchtet den deutschen Sieg mit erwarteten Argwohn: „Man kann ein romantisches Bild oder eines mit Komplott und Verschwörung bemühen, um den außerordentlichen Erfolg des Erreichen des Halbfinales der Südkoreaner zu erklären, aber die Deutschen fuhren gestern mit der Dampfwalze durch alle Theorien, als sie mit einer unbarmherzigen, soliden Auftreten ins Finale einzogen. Die Begeisterung für den Gastgeber stieg von Tag zu Tag bis es ein ohrenbetäubendes Crescendo erreichte, aber das deutsche Team versteht es immer noch am besten, wie man eine Party ruiniert. Es ist fast unmöglich, das deutsche Team zu bewundern, aber ihre Beharrlichkeit muss respektiert werden.“
Jan Christian Müller (FR 27.6.). „Eine WM braucht ihre Dramen, damit man sich an sie erinnert. Dafür waren die Deutschen mit ihrem stocknüchternen Teamchef Rudi Völler einen Monat lang die falschen Ansprechpartner. Erst Michael Ballack mit seiner Gelbsperre fürs Finale und dem fast im Gegenzug folgenden entscheidenden Tor hat nun da für gesorgt, dass es eine aufregende Geschichte gibt, eine schicksalhafte Begegnung mit Schienbein und Ball und Tor, die in die Welt transportiert werden kann. Und vielleicht bald die eines Weltmeisters, der sich selbst schwer tut, das bisher Erreichte logisch zu erklären.“
Michael Ballacks Spielsperre kommentiert Ludger Schulze (SZ 27.6.). „Wenn kleine Jungs träumen, mal ein großer Fußballer zu sein, dann haben sie dieses Bild vor Augen: sich selbst neben zehn anderen Nationalspielern, wie sie zu den Klängen der Hymne stramm stehen, ehe das Weltmeisterschafts-Endspiel beginnt, bei dem zwei Milliarden Menschen vor den Fernsehapparaten mitfiebern. Ein herrlicher Traum, mit dem kleinen Haken einer widerspenstigen Realität. Von den vielen Millionen Balltretern auf dem Erdball schaffen es in jedem vierten Jahr höchstens 28 Spieler. Ein verschwindend kleiner Promillesatz. Michael Ballack hat davon geträumt, als er mit sieben beim BSG Motor Karl-Marx-Stadt seine Karriere begann. Und er hat es tatsächlich bis vor das wichtigste aller Fußballspiele geschafft. Hat sogar selbst das Tor geschossen, das den Deutschen die Pforte zum Finale aufstieß. Und doch hat er nun nicht mehr in Händen als dieses riesige Meer kleiner Freizeitkicker, für die der Traum vom WM-Finale so unerreichbar bleibt wie der Wunsch nach Unsterblichkeit (…) Ballacks durchaus verwarnungswürdiges Foul war ein Selbstopfer aus Staatsraison. Damit hat er ein mögliches Gegentor verhindert, aber gleichzeitig seinem Lebenstraum die Rote Karte gezeigt.“
Michael Horeni (FAZ 27.6.) war bei der Pressekonferenz von Rudi Völler. „Was folgte, war eine Ehrung erster Klasse für den 25 Jahre alten Mittelfeldspieler, den Völler in den Stand eines Weltklassespielers erhob – ein Ziel, das zu erreichen Ballack sich bei dieser WM vorgenommen hatte. Der Weltmeister von 1990 jedenfalls war gewillt, dem wichtigsten deutschen Feldspieler diese Auszeichnung nun honoris causa zukommen zu lassen, nachdem Ballack beim 1:0 gegen Korea zur tragischen Figur geraten war. Im Ausland ist dieser letzte Schritt Ballacks zum Weltstar mit der für ihn bittersüßen Endstation Halbfinale ebenfalls schon weitgehend nachvollzogen worden (…) Als Ballack vor dem Turnier behauptete, er sei nur einer unter elf Spielern, schien das auch ein wenig Koketterie eines Stars mit seiner Rolle zu sein. Tatsächlich aber füllte Ballack diese dienende Aufgabe bei der WM so aus wie kaum ein anderer Spieler. Die Gelbe Karte, die er sich nach einem „taktischen Foul“ kurz vor dem Strafraum einhandelte, wurde in Deutschland und weltweit als persönliches Opfer gewürdigt
Philipp Selldorf (SZ 27.6.) registriert, dass neben Oliver Kahn weitere deutsche Spieler an der hervorragenden Defensivquote (ein Gegentreffer in sechs Spielen) beteiligt waren. „Damit haben die Deutschen einen WM-Rekord eingestellt. So billig ist außer den Niederländern 1974 um Cruyff, Neeskens und den verschrobenen Torwart Jongbloed noch kein Team ins Finale gelangt (…) Außer dem deutschen Sturm, der vor der WM weltweit als nicht existent angesehen worden war, galt die Abwehr als Schwachstelle von der Dimension des Lecks in der Titanic. Zumal ihr der Kapitän abhanden gekommen war, Jens Nowotny, allgemein als Schlüsselfigur in Rudi Völlers Deckungskonzeptangesehen (…) Dieser Rekord beruht auch auf dem Zusammenspiel einer Gemeinschaft, die sich jedes Mal aufs Neue gedanklich schnell findet. Zwar haben Metzelder, Linke, Frings noch keine Partie versäumt, Kahn ohnehin nicht. Aber sie mussten fortwährend einem anderen strategischen Standard gerecht werden. Die Ordnung in der deutschen Deckung wurde manchmal innerhalb einer Partie zweimal grundrenoviert.“
Philipp Selldorf und Ludger Schulze (SZ 24.6.) führen eine Debatte über deutschen Fußballstil und wie er zu rezipieren sei. Selldorf. „Bei der 15. Teilnahme kommen sie zum neunten Mal unter die ersten Vier. Lohnt angesichts dieser Daten überhaupt eine Debatte? Sind die ewigen Zweifler noch bei Trost? Allein mit diesen Fakten könnte man die in derzeit mindestens 204 Staaten über den deutschen Fußball zeternden Kritiker ins nächstgelegene Meer jagen. Wer mehr Tore schießt, hat recht. Dieses Prinzip entspricht dem spezifisch deutschen Realismus wie auch dem Geist des Spiels, das von allen Völkern als geniale Schöpfung anerkannt wird. Es wäre, fände die Debatte auf dem Spielfeld statt, ein leichter Sieg; nie würde der Gegner in die Nähe unseres Tores gelangen.“
Schulze hält dagegen. „Fußball – das ist im Grunde eine Sportart für zwei völlig verschiedene Interessengruppen. Die einen, die Spieler, verdienen damit ihr Geld. Wenn sie gewinnen, verdienen sie viel Geld. Wenn sie verlieren, weniger. Deshalb steht für sie das nackte Ergebnis im Vordergrund. Hauptsache Sieg. Die andere Gruppe sind die Zuschauer. Sie zahlen viel Geld, um spannend und möglichst attraktiv unterhalten zu werden. Nicht aber, weil sie die Wiederholung ihres Arbeitsalltags erleben wollen (…) Die Partien der Deutschen gegen Paraguay und die USA hatten die Ästhetik eines Stellungskriegs. Wenn der Fußball zum reinen Selbstzweck wird, hat er seinen Sinn verloren. Der enthält doch den Begriff „Spiel“ – also das Zweckfreie, Schöne, Überflüssige, Sinnliche. Käme irgendjemand auf die Idee, einem Schauspieler nur deshalb begeistert zu applaudieren, weil er den Hamlet zwar ohne groben Versprecher hinkriegt, aber ohne jede Gefühlsregung?“
Mark Schilling (NZZ 24.6.) betrachtet den deutschen Fußball aus der Perspektive südlicher Nachbarschaft. „Eigentlich, tief in unserem Innern, mögen wir sie ja, die Deutschen. Kein Nachbarland ist uns Deutschschweizern vertrauter, keine Mentalität geläufiger als die der Anrainer im Norden. Wenn es aber um Sport geht, wird er wahrnehmbar, der antideutsche Reflex, der Futterneid ob deutscher Erfolge. Diese doch ziemlich verbreitete Grundhaltung fällt an dieser WM-Endrunde wieder einmal auf fruchtbaren Boden (…) Nimmt man es nüchtern mit den Fakten, dann sieht die Lagebeurteilung des deutschen Teams am Vortag des Halbfinals so aus: Die Deutschen können sich sicherlich nicht über mangelndes Glück in der Auslosung und im Spielplan beklagen. Die Gegnerschaft war zweifellos deutlich schlechter als etwa jene in der England/Argentinien-Gruppe. Zudem war nach Wochen der nagenden Ungewissheit über die Kompetitivität das Warm-up gegen völlig überforderte Saudiaraber willkommen und ideal für das Selbstbewusstsein. Auch nachher im Achtel- bzw. Viertelfinal erwuchs den Deutschen in den Auswahlen von Paraguay und den USA höchst modeste Konkurrenz. Im gleichen Atemzug gilt es jedoch darauf hinzuweisen, dass die Deutschen ja wirklich nichts dafür können, wenn sie Günstlinge des Turniertableaus werden. Und zudem muss man eine solch vorteilhafte Konstellation auch noch auszunützen verstehen. Dass das DFB-Ensemble bisher größtenteils spielerisch enttäuscht hat, ist nicht von der Hand zu weisen, und es war tatsächlich frappant, wie die Amerikaner während zweier Drittel der Partie die Deutschen dominierten. Noch besteht jedoch kein Verbot, schlechten Fußball zu bieten, und wenn die anderen Equipe eben nicht clever genug sind, die Strafe auf dem Rasen auszusprechen.“
Zur Stimmung im deutschen Lager bemerkt Jan Christian Müller (FR 24.6.). „Die Spieler und die sportlich Verantwortlichen erwarten mehr Anerkennung für das Geleistete, als ihnen in den Medien entgegengebracht wird. Sie schlurfen völlig ausgepumpt aus der Umkleidekabine, immerhin unter die letzten Vier einer WM gekommen, nur, um danach zum wiederholten Mal eine Verteidigungsstrategie zur Entschuldigung für den zweiten 1:0-Sieg in Folge entwickeln zu müssen. Aber natürlich muss eine Diskussion über den Weg zum Ziel erlaubt sein. Wenn zu Hause 20 Millionen und noch mehr Menschen sich Urlaub nehmen, um Fußball schauen zu können, wollen sie auch unterhalten werden. Und das nicht nur durch die Paraden des Oliver Kahn.“
Benjamin Henrichs (SZ 21.6.) betreibt Sozialwissenschaft. „Bedauerlicherweise gibt es immer noch Deutsche, die sich vor einer deutschen Weltmeisterschaft panisch fürchten. Was sind das bloß für Menschen? Erstens: die Ignoranten. Die sich einfach vor dem Deutschlandgeschrei, dem anschwellenden Biergesang der Fans, dem Glücksgestammel selig verblödeter Politiker fürchten. Zweitens: die politisch ewig Besorgten. Für die eine deutsche Fußballweltmeisterschaft der Keim sein könnte für neue faschistoide Tendenzen im Land. Und drittens: die Feingeister und Ästheten. Für die es gerade bei einer Fußball-WM nicht um Deutschland oder Nichtdeutschland geht, sondern um den ewigen, mythenschweren Kampf des Schönen gegen den Schrecken. Der Fußballkünstler gegen die so genannten Kampfschweine. Der Zauberer gegen die Zerstörer. Das sind diese Leute, die vor dem Fernseher hocken, dabei gutes schweres deutsches Bier trinken – und dann Brasilien die Weltmeisterschaft wünschen. Pervers.“
Vor dem Spiel gegen die USA skizziert Philipp Selldorf (SZ 21.6.) die Entwicklung des deutschen Teams. „Trotz und Behauptungswille spielen eine Rolle. Viele hatten diese Nationalmannschaft vor ihrer Abreise so sehr abgeschrieben, dass sie sogar deren Zukunft negierten, weshalb zum Beispiel die SPD ihre Weissagung, Deutschland werde 2006 Weltmeister werden, nachträglich aus ihrem Programm bannte. Ein Akt der Abkehr, der sogar in England als Verrat aufgefasst und vergnügt als solcher gegeißelt wurde (…) Mehr zu verlieren hat Deutschland, dessen Team den Eindruck vermittelt, dass es noch etwas vor hat. Noch warten die Anhänger zuhause und mit ihnen die ganze Fußballwelt auf den Beweis seiner Größe.“
Zur Rolle Michael Ballacks bei diesem Turnier heißt es bei Michael Horeni (FAZ 21.6.). „Michael Ballack ist nicht fit, er wird es vielleicht auch nicht mehr – aber trotzdem wird er wieder spielen und der deutschen Nationalmannschaft, die mit außergewöhnlichen Kräften nicht gerade reich gesegnet ist, im Mittelfeld maßgeblich weiterhelfen. Die in Deutschland durch Franz Beckenbauer entfachte Diskussion um einen fehlenden Chef im Mittelfeld ist mittlerweile vollkommen verstummt. Die Sache wird nun, da es ernst wird im WM-Turnier, ganz pragmatisch gesehen (…) In der Nationalmannschaft wirkt der teuerste deutsche Spieler jedoch keineswegs wie der große Star, zu dem er vor dem Turnier gemacht wurde – eher wie ein erster Diener Völlers für ein großes, gemeinsames Ziel. Schlagzeilen hat er in dieser unauffälligen bis undankbaren Rolle in der Heimat nicht gemacht. Aber im Ausland wird Ballacks selbstloser und effektiver Einsatz für das große Ganze mit enormer Anerkennung registriert.“
Der Werdegang von Teamchef Rudi Völler erinnert Michael Horeni (FAZ 20.6.) an denjenigen Beckenbauers. „Nicht nur die Mannschaft ist in Korea unversehens zur Zielscheibe geworden, auch der Teamchef. Der verteidigt furchtlos wie einst Beckenbauer seine Auswahl, die er aus den Trümmern einer Europameisterschaft wieder an die Weltspitze und vier Jahre später zum WM-Titel führen sollte. Aber ein wenig hat sich die Zeit seit 1986 natürlich verändert. Und die öffentliche Abschottung der Mannschaft, die Völler wie einst sein Fußballlehrer Otto Rehhagel unbeirrt gegen jede Veränderung zu verfolgen trachtet, stößt beim Medienereignis Nationalelf im 21. Jahrhundert an Grenzen, die der Teamchef, anders als Beckenbauer, nur schwer zu akzeptieren bereit ist. Nach fünf Wochen in diesem Fußball-Medienkosmos werden daher auch die Eigenheiten, das Profil des Teamchefs immer schärfer erkennbar: Der liebe Rudi, Eingeweihte wissen das längst, kann auch knallhart sein.“
Helmut Schümann (Die Zeit 20.6.) rätselt über die wahre Stärke der deutschen Mannschaft. „Die Mannschaft 2002 stochert und grätscht und krampft sich voran. Jedes der ernst zu nehmenden Spiele war ein Spiel am Abgrund. Irland hätte von den Spielanteilen den Sieg verdient gehabt, Kamerun war zumindest eine Halbzeit lang das herrschende Team auf dem Platz, Paraguays Lauf zum Sieg verhinderte Torwart Kahn. Im Grunde war nicht viel mehr zu erwarten gewesen als von Corinna May beim Grand Prix. So kam’s ja dann auch, das 8:0 über Saudi-Arabien zum Auftakt war mehr glücklicher Ausrutscher denn Prophezeiung. Aber nun ist Frankreich ausgeschieden, der elegante Weltmeister, Argentinien, der designierte temperamentvolle Nachfolger auch und Portugal, diese glutäugige Sehnsucht, ebenfalls. Sogar Italiens Rückzugskünstler sind gescheitert. Auf die deutschen Biedermänner warten die USA, deren Harmlosigkeit von bereits ausgeschiedenen Polen demonstriert wurde, und danach wartet das Halbfinale und, schwupps, schon sind wir wieder wer.“
Zum Imagewandel der deutschen Elf bemerkt Ludger Schulze (SZ 19.6.). „Die Mannschaft, die zur WM nach Asien reiste, wurde chronisch unterschätzt. Beim Abflug nach Japan hätte man am liebsten jedem Einzelnen sanft über den Kopf gestreichelt und tröstende Worte zugesprochen: Keine Angst, Jungs, wird schon nicht so schlimm. Inzwischen ist wegen des unerwarteten Erfolgs aus dem Mitleid wieder das gewohnte Muster der Antipathie geworden.“
Deutschen Fußballstil beschreibt Christian Eichler (FAZ 19.6.). „Typisch deutsch, dieses verstaubte Attribut erlebt eine Renaissance bei dieser Weltmeisterschaft. Im internationalen Gebrauch definiert es sich so: als umgekehrte Proportionalität von Aufwand und Ertrag – schlechtes Spiel, gutes Fortkommen (…) Typisch deutsch, das wäre bei unvoreingenommenem Blick immer noch viel mehr als nur Ergebnisfußball: die Fähigkeit, sich nicht selber zu schlagen; die Disziplin, sich bei Rückschlägen nicht selber leid zu tun; die Technik, in einem Spiel aus Fehlern zu lernen und sie abzustellen. Vor allem aber die Kunst, viele Wege zu wissen, um ein Spiel zu gewinnen: nicht nur den glanzvollen, aber auch nicht nur den glanzlosen. Für all diese Talente steht Fritz Walter.“
Die stereotype Darstellung einzelner Fußballstile kritisiert Dario Venutti (NZZaS 16.6.). „Fleiß, Disziplin und Pflichtbewusstsein gelten als „deutsche Tugenden“. Sie werden besonders im Fußball bemüht, weil sich dieser als Projektionsfläche von vermeintlichen Nationalcharakteren gut eignet. Das aktuelle deutsche Team scheint die Attribute exemplarisch zu verkörpern: Es hat den Einzug in die Viertelfinals mit Beharrlichkeit und Fleiß geschafft, ohne (außer gegen Saudi-Arabien) spielerische Akzente zu setzen (…) Dem Klischee von den „deutschen Tugenden“ entspricht dasjenige von den individualistischen, kreativen und ballverliebten Brasilianern, Italienern oder Argentiniern – allesamt vermeintlich undeutsche Eigenschaften. Solche Zuschreibungen sind im Kern nicht nur rassistisch, sondern auch falsch.“
Den Einfluss Völlers auf Deutschlands Fußball beleuchtet Frank Ketterer (taz 15.6.). „Am besten erkennt man den Wert von Völlers Wirken dann, wenn man zurückblickt auf jene Zeit, in der es Völler noch nicht gab, jedenfalls nicht als Bundestrainer. Ein paar Schlagzeilen von damals: „Schlimmer gehts nimmer“, schrieb der Spiegel, „Nationalelf der Schande“ die Bild, und eine „Sehnsucht nach dem anderen“ machte die taz aus. So war damals, vor zwei Jahren, als ein gewisser Erich Ribbeck bei der EM in Holland und Belgien die deutsche Nationalmannschaft abgewirtschaftet hatte, zurecht die Stimmung im Land. Das andere war am Ende und nach einigen Wirrungen Rudi Völler und tatsächlich wurde seit dem Tag seiner Teamchefwerdung doch manches anders in der deutschen Nationalmannschaft, und besser auch, das konnte man hier in Japan deutlich sehen. Das Team, das sich bei dieser WM präsentiert, ist nämlich nicht die Ruine, die Völler und natürlich auch Bundestrainer Michael Skibbe vor zwei Jahren übernommen haben. Es ist wieder eine Mannschaft, wenn auch nach wie vor eine limitierte, die ihren Fähigkeiten entsprechend manchmal mehr, manchmal weniger gut Fußball spielt, meist aber immerhin so, dass man den Eindruck hat, sie gibt ihr Bestes. Mehr kann ein Trainer kaum bewirken.“
Die Ausgangslage der deutschen Elf vor dem Achtelfinale beschreibt Peter Heß (FAZ 13.6.). „Wie lange können die Deutschen ihr Glück noch zwingen? Solange die zwei großen K-Fragen mit Ja beantwortet werden: Setzt Kahn seine Reihe von Weltklasseleistungen im Tor fort? Schießt Klose weiterhin in jedem Spiel mindestens ein Tor? Schon ein Nein würde den Verbleib im Turnier unwahrscheinlich werden lassen. Der psychologische Auftrieb aus der bestandenen afrikanischen Probe wird sogar schon im Achtelfinale gegen Paraguay nicht ausreichen. Denn die Südamerikaner gehen mindestens genauso selbstbewusst in die Partie. Fast schon ausgeschieden, erzielten sie die benötigten drei Tore gegen Slowenien in den letzten 25 Spielminuten.“
Am Stil der DFB-Auswahl hat Philipp Selldorf (SZ 13.6.) eine neue Seite entdeckt. „Vorsichtig beginnt man sich in Deutschland nun auch wieder seiner eigenen Legende zu erinnern. Der Mythos von der Unbeugsamkeit in der schwersten Stunde, tief begraben und oft betrauert, scheint sich in seiner Gruft zu regen. Wie die Mannschaft in ruinösem Zustand zur Pause schlich und wie sie dann komplett renoviert auf den Platz zurückkehrte, ist noch nicht der Stoff für Heldensagen. Aber vielleicht ein guter Anfang. Dieses Team fiel bisher vor allem durch seine pubertäre Sprunghaftigkeit auf: mal brillant und fröhlich verspielt, mal von allen guten Geistern verlassen. Eine konzentrierte Kraftanstrengung wie diesmal hatte sie aber noch nicht im Repertoire.“
Zu Miroslav Klose schreibt Holger Gertz (SZ 13.6.). „Es hatte nicht besonders ausgesehen für die Deutschen, sie waren ein Mann weniger nach einer roten Karte für Carsten Ramelow, die Luft war schwer von Feuchtigkeit im Stadion, und vier dieser riesigen Kameruner Spieler standen Klose im Weg, wie eine grüne Wand, vor Anstrengung dampfend. Aber wie er, sich halb windend, halb tricksend, die Gegner irreführte und – so zielsicher, als hätte sein Fuß dirigierende Finger – den Ball hinaus zu Marco Bode weitergab und damit zum 1:0, war ein genialer Augenblick, wie ihn die deutsche Nationalmannschaft vielleicht seit zehn Jahren nicht mehr herbeigezaubert hat (…) Vielleicht ist das Besondere an diesem Klose die Verbindung des Ungewohnten mit dem Traditionellen. Einerseits seine Fähigkeit, den Ball zu streicheln wie Figo oder Zidane. Andererseits seine Geschichte; eine Fußball- und Fußballergeschichte, die denen von anderen deutschen Stürmern ähnelt. Kloses Biographie ist irgendwie auch die von Uwe Seeler aus Hamburg, die von Gerd Müller aus Nördlingen, die von Rudi Völler aus Hanau, alle keine Entertainer, jedenfalls nicht am Mikrophon, alle bescheiden, rackernd, jeder Verkörperung dessen, was die Fußballkenner in aller Welt als „deutsche Tugenden“ fürchten.“
Über die Stimmung im deutschen Lager nach dem 2:0-Sieg gegen Kamerun schreibt Ludger Schulze (SZ 13.6.). „Selten in der Geschichte des deutschen Fußballs ist ein so kleiner Erfolg wie das schlichte Überstehen der Vorrunde mit derart großer Genugtuung begrüßt worden. Nicht mit lautem Jubel, dazu ist diese Mannschaft zu realistisch und zu klug. Doch die tiefe Zufriedenheit, sich bei dieser Weltmeisterschaft auf ganz andere Weise präsentiert zu haben als die zerstrittenen und egozentrisch durchsetzten Vorgängerteams der Turnierjahre 1998 (WM) und 2000 (EM), war zu sehen und zu spüren.“
Frank Ketterer (taz 13.6.) zum selben Thema. „Als der DFB-Küchenchef das Menü kredenzen ließ, das er extra für diesen besonderen Tag aus Wiener Schnitzel, Pommes und Salat komponiert hatte, stieg das Stimmungsbarometer der deutschen Kickerbelegschaft gleich nochmals um ein paar Grad.“
Jan Christian Müller (FR 11.6.) bemerkt vor dem entscheidenden Spiel gegen Kamerun. „Die tiefe emotionale Bindung in Deutschland mit den besten Fußballprofis des Landes lässt es nicht zu, dass eine Niederlage im Land klaglos hingenommen würde. Denn es wäre ja eine historische Niederlage, und auch eine für die Nation an sich. Für ein Land, das der Arbeitslosigkeit nicht Herr wird, dessen Wirtschaft im europäischen Vergleich nur im Zuckeltempo vorankommt, dessen Schulsystem als dringend modernisierungsbedürftig gilt, dessen Bezahlfernsehen vor der Pleite steht und eigentlich Hilfe aus dem Ausland benötigt. Und dann auch noch ein Land, dessen Fußballprofis noch nicht mal mehr gut genug sind für Irland und für Kamerun.”
Peter Heß (FAZ 11.6.) zum selben Thema. „Ein erstmaliges Scheitern in einer WM-Vorrunde bedeutete nicht das Ende des deutschen Fußballs und würde von den meisten auch nicht so aufgefasst werden. Die Kette von bösen Überraschungen bei dieser WM-Endrunde für die traditionellen Fußballmächte wie Frankreich, Italien, Argentinien und für Teams aus der erweiterten Spitze wie Russland und Polen hat die Nachsicht mit der deutschen Mannschaft wachsen lassen. Dass sie nicht mehr zu den ganz Großen gehört, ist eine über mehrere Jahre gewachsene Erkenntnis. Immerhin muss man sich nicht mehr schämen, seit Völler die Mannschaft betreut. Die Reputation des Weltmeisters von 1990 würde auch durch eine Niederlage gegen Kamerun nicht nachhaltig leiden. Zu Völlers Kompetenz kommen hohe Sympathiewerte. Mit ihm als Teamchef will Deutschland die WM 2006 ausrichten.“
Stefan Hermanns (Tsp 11.6.) dazu. „Die offenkundige Gelassenheit von Völler und Co. korrespondiert nicht ganz mit den Sorgen der Heimat. Die Erfahrungen der Turniere von 1994 und 98 sowie die Europameisterschaft 2000 haben das Vertrauen der Deutschen in ihre Nationalmannschaft ein wenig erschüttert. Früher wäre das ja überhaupt keine Frage gewesen: ein Unentschieden gegen Kamerun? Ha! Aber die Zeiten haben sich geändert.“
Der Kapitän der deutschen Elf verweigert sich modischen Kategorisierungen. Michael Horeni (FAZ 11.6.). “Der globalisierte Fußball hat seine Richtung seit den Boom-Neunzigern nicht geändert, im Gegenteil. Er dreht sich weiter, schneller, wie wahnsinnig um die Idee des Investments, das nur dem kühlen Nutzen huldigt, dem operativen Ergebnis, der Reichweite, dem Imagetransfer, den Kontakten, den Klicks. Aber zum Beginn des 21. Jahrhunderts heißt die Leitfigur in Fußball-Deutschland Oliver Kahn. Mit dem Zeitgeist passt das nicht zusammen. Der deutsche Kapitän verkörpert in keiner Sekunde die Leichtigkeit eines Popstars wie David Beckham, der Ikone des modernen Fußballs und der Medien. Kahn ist einem genussfeindlichen Arbeitsethos verhaftet, das im Fußball wie in Deutschland schon lange von der Zeit überholt zu sein scheint (…) Er ist der Kapitän, und das bedeutet, repräsentative Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Aber Kahn macht sich bei der Weltmeisterschaft nahezu unsichtbar. Er spielt und trainiert und sagt nur soviel wie unbedingt sein muss. Kein Vergleich zu Beckham oder anderen Spielführern. Kahn aber ist es gelungen, dass diese öffentliche Verweigerung nicht als Trotz oder Ignoranz wahrgenommen wird. Sie wird ihm zugestanden, als Teil des notwendigen Vorbereitungsprogramms eines sportlichen Asketen.“
Vor dem entscheidenden Spiel der gegen Kamerun reflektiert Christian Eichler (FAS 9.6.) den internationalen Stellenwert der deutschen Nationalmannschaft. „Ein 0:0, und wir sind mal wieder wer; ein 0:1, und wir sind nur noch irgendwer. Seltsam, wie abhängig deutsche Selbsteinschätzung von äußeren Einflüssen geworden ist. Uns kann keiner was, diese in Mimik und Körpersprache übersetzte Arroganz einer Fußballmacht, jahrzehntelang von Titel zu Titel zu tragen, verschwand mit dem späten Lothar Matthäus in der Mottenkiste; tatsächlich hat sie ja am Ende längst nicht mehr funktioniert. Nur hat sie immer noch keine passende Nachfolge gefunden, keine Neudefinition eines modernen Selbstbildes als Team; bisher nur eine allzu jugendliche Wankelmütigkeit von Leistung und Selbsteinschätzung.“
Über den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft heißt es bei Frank Ketterer (taz 8.6.). „Kantig und manchmal heftig aufbrausend zwar – aber eben auch einer, der Fehler zugeben kann, auch wenn er das, zumindest was sein Wirken auf dem Fußballplatz anbelangt, nur äußerst selten tun muss. Außerdem kann man gefahrlos alles Geld der Welt darauf setzen, dass Kahn der Letzte wäre, der etwas tun würde, das die Erfolgsaussichten der Mannschaft auch nur im Geringsten schmälern könnte. Und wenn tatsächlich Harmonie das große Plus dieser deutschen Nationalmannschaft sein sollte, wie die DFB-Kicker immer wieder und mehr oder weniger im Chor behaupten, dann wäre Kahn der Erste, der sich für die Rolle als Harmonator hergeben würde.“
Philipp Selldorf (SZ 8.6.) kommentiert die Debatte um die „deutsche Chefsehnsucht“. „Die Deutschen sind gern Liebhaber des demokratischen, kooperativen Stils, solange er genehme Ergebnisse liefert. Aber wenn etwas nicht geklappt hat, wird spontan das Verlangen nach einem Anführer laut, der die Probleme für die angeblich herrenlose Gruppe löst.“
Über die Außendarstellung Michael Ballacks schreibt Michael Horeni (FAZ 8.6.). „Michael Ballack reagiert mitunter seltsam auf persönliche Fragen. Er antwortet so distanziert und ruhig, als würde da über einen Fremden gesprochen oder über jemanden, den er nur von ferne her kennt. Nach dem 1:1 gegen Irland wurde Ballack immer wieder dazu gedrängt, sich der Kritik von Franz Beckenbauer zu stellen, sie zu kontern, zu widerlegen. Beckenbauer hatte beklagt, dem deutschen Team fehle der Chef auf dem Platz – und das sind Sätze, die nachhallen, wenn in letzter Minute die sicher geglaubte Qualifikation entgleitet. Ballack aber bleibt ruhig, cool könnte man sagen. Er hebt auf dem Podium weder die Stimme, noch lässt er sich zu Protesten hinreißen. Er sagt vollkommen unaufgeregt, was er seiner Meinung nach sagen muss. Er benutzt dabei nicht ein einziges Mal das Wort ich. Er spricht stets von „wir“, von der Mannschaft, und viele meinen zu erkennen, diese Antworten im Kollektivbewusstsein seien das letzte Erbe der DDR, das aus dem in Görlitz geborenen und in Sachsen aufgewachsenen deutschen Ausnahmeprofi spricht.“
Alexander Osang (Spiegel 3.6.) über das Image des deutschen Kapitäns. „Er ist jetzt so weit oben, dass er fallen kann. Journalisten regen sich bereits über seinen Ferrari auf. Bei manchen gilt er als abgehoben, weil er nicht mehr mit jedem redet. Seine staatstragenden Bemerkungen auf Pressekonferenzen werden schon belächelt. Einige nehmen ihm übel, was sie aus ihm gemacht haben (…) Axel Kahn (Olivers Bruder, of) spielt in der Landesliga Fußball. Bei Auswärtsspielen bewerfen sie ihn mit Bananen, um sich an seinem Bruder zu rächen. Sie rufen ihn Olli. Sie denken, wenn sie ihn schlagen, schlagen sie den FC Bayern.“
Stefan Hermanns (Tsp 4.6.) kommentiert die harmonische Stimmung im deutschen Lager. „Ein wenig scheint es in diesen Tagen und Wochen, als habe das japanische Grundbedürfnis nach Harmonie auch den Tross des DFB ergriffen. Und der Sieg gegen Saudi-Arabien zum Auftakt der Weltmeisterschaft hat das allgemeine Wohlbefinden nur noch verstärkt.“
Die öffentliche Erwartungshaltung in Deutschland erahnt Sven Goldmann (Tsp 2.6.). „Die Deutschen werden Völlers Mannschaft in Fernost viel verzeihen, sofern sie sich sympathische repräsentiert sehen. So, wie sie selbst gerne sein würden. Ein gewisses Maß an Ästhetik. Zwei, drei schöne Spielzüge. Alles, nur kein Rückgriff auf Tendenzen, mit denen die Deutschen 1954 in der Schweiz Weltmeister wurden. Heute hört es kein Deutscher mehr gern, wenn diese Tugenden typisch deutsch genannt werden. Damals hat sich die junge Bundesrepublik grätschend und Rasen pflügend den Weg aus der Isolation erarbeitet. Die Deutschen von 1954 wollten Respekt, die von 2002 wollen Zuneigung. Gestern haben sie dafür schon mal acht Gründe geliefert.“
Michael Horeni (FAZ 1.6.) über Teamchef Völler. „Völler wirkt in diesen Tagen relativ entspannt. Es war in Mimik, Gestik und Tonfall in den Tagen der Vorbereitung in Miyazaki kein Unterschied zu erkennen zu einem gewöhnlichen Länderspiel. Der Teamchef führt seine Mannschaft auf eine angenehm beiläufige Art. Völler hält auch jetzt nichts von großen Ansprachen, lieber nimmt er sich auf dem Trainingsplatz mal einen Spieler zur Seite und erklärt, wie die Sache auf dem Spielfeld laufen soll. Oder er setzt sich beim Essen zu einem Spieler, um ihm en passant auf Dinge aufmerksam zu machen, die zu verbessern sind. Die Spieler schätzen es, wie es Völler versteht, solche Sachen ohne Tamtam auf den Punkt zu bringen.“
“Wenig Stars, viele Stripes” heißt es zum Zustand der deutschen Mannschaft und in Anspielung auf Christian Zieges schwarz-rot-goldene Haar-Streifen in Repubblica (1.6.): “Im Gegensatz zu Kanzler Schröder, der einen Prozess gegen eine deutsche Zeitung gewonnen hat, die ihm unterstellte, sich die Haare zu färben, hat sich Ziege mit seiner neuen Haartracht stolz den Fotografen gestellt.”
Jörg Kramer (Spiegel 27.5.) ist ob der deutschen WM-Aktien skeptisch. “Dass die DFB-Novizen ein Entwicklungspotenzial besitzen, das für die WM in vier Jahren in Deutschland Hoffnung macht, steht außer Frage. Ob die Vertreter dieser Generation 2006 jedoch in der Lage sind, schon 2002 die Kohlen aus dem Feuer zu holen, ist zweifelhaft. (…) Rudi Völler weiß Frechheit zu schätzen, solange sie überschaubar bleibt. Querelen muss er in Asien nicht fürchten. So sind Diadochenkämpfe, mit denen bei der WM 1994 alternde Leitfiguren wie Brehme, Thomas Berthold und Lothar Matthäus das Publikum unterhielten, beim bevorstehenden Event kaum zu erwarten.”
Ludger Schulze (SZ 29.5.) beschreibt die deutsche Mannschaftshierarchie. „Oliver Kahn genießt die absolute Ausnahmestellung, die ihm Fans, Medien und auch die Mannschaftskollegen zubilligen. Er repräsentiert das DFB-Team beinahe allein. Kahn ist nicht nur Kapitän, sondern Bundespräsident, Kanzler und Außenminister des deutschen Fußballs in einer Person. Im Gegensatz zu früheren Zeiten gebe es glücklicherweise, hat er neulich gesagt, in dieser Mannschaft „keine Primadonnen mehr“. Wie sollte sich auch im Schatten eines solch mächtigen Baumes eine außergewöhnliche Pflanze entwickeln?“
Peter Heß (FAZ 29.5.) übersetzt den Stellenwert Kahns in politische Kategorien. „Es mag ja ganz nett sein, was andere aus dem Team so zu erzählen haben: Wenn Kahn spricht, ist das wie eine Rede zur Lage der Fußball-Nation. Der einzige deutsche Weltklassespieler – so DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder – steht für die Nationalmannschaft wie Kanzler Kohl jahrzehntelang für die CDU stand.“
Holger Gertz (SZ 27.5.) kritisiert das Profil der deutschen Nationalmannschaft. „Wofür steht die Mannschaft von 2002? Die Fußballergesichter, die jetzt, wie vor jeder WM, aus den Schokoriegeln und Sammelbildertüten purzeln, sehen nett aus: Rehmer, Neuville, Linke, Bierhoff. Sie könnten in einer Bank arbeiten oder in einem Medienunternehmen. Die jüngeren, Metzelder oder Frings, könnten in einer dieser Boygroups mitmachen, denen nichtseinfällt, als Hits der Siebziger praktisch unverändert nachzusingen. Die Gesichter sind austauschbar, und wenn man sich fragt, ob man von einem der Spieler jemals etwas Bemerkenswertes gehört hätte, in einem der hundert Interviews, die sie gegeben haben, fällt einem nichts ein. Brave Jungs, reiche Männer, nichtssagend wie eine Tischfußballfigur, träge wie das Land, für das sie spielen (…) Es ist etwas Uninspiriertes im Land wie in seiner Mannschaft, etwas Leidenschaftsloses.“
Ludger Schulze (SZ 27.5.) sieht das nicht ganz so kritisch. Er beschreibt einen Protagonisten der deutschen Elf, der zudem ihre Geisteshaltung repräsentiert. „Abwehrchef! So wie früher Beckenbauer, Augenthaler, Matthäus oder Sammer. Eine mächtige Position, aber man fragt sich, passt Carsten Ramelow, semmelblond und winterblass, da hinein? Wo er doch wirkt wie ein kleiner Beamter, der mit Stollenschuhen herumläuft statt mit Ärmelschonern? Der Berufsfußballer aus Leverkusen ist die Korrektheit in Person, pflichtbewusst und anständig. Keiner, um den sich Agenturmenschen rissen, damit er Werbung mache für Aktienfonds oder Haarshampoo. Carsten Ramelows Image ist in einem Wort: langweilig (…) Wie doch die Dinge manchmal täuschen. Bei seinen Kollegen ist Ramelow äußerst beliebt, im Kreis der Nationalmannschaft gilt er als ausgesprochen witzig und unterhaltsam. Unter seinen bisherigen Trainern (z. B. Reinders, Daum, Vogts, Völler) gibt es keinen, der nicht über strategische Fähigkeiten, Zweikampfstärke und Mannschaftsdienlichkeit Carsten Ramelows ins Schwärmen geriete. Und charakterlich bekommt er ohnehin von allen, die ihn kennen, eine glatte Eins.“
„Über Ethik und Ästhetik des deutschen Spiels“ betreibt Dirk Schümer (FAS 26.5.“) Philosophie. „Die deutschen Fußballfans wollen gar nicht mehr mit Gewürge und Glück bis ins Finale vorstoßen. Sie wollen sich nicht mehr an den Stränden und auf den Campingplätzen dieser Welt für hässliche Siege schämen müssen. Vorbei soll er sein der minimalistische Hoeneß-Fußball, der nach dem Vorbild von Bayern München auf dem Platz die Spielmacher des Gegners und hinterher die Pokale abräumt (…) Die Deutschen haben viel gelernt. Vor allem, dass sie nicht immer gewinnen müssen. Sie haben vom Fußballgott in den in den vergangenen zwei Jahren jeweils eine Mannschaft beschert bekommen, die berauschend, stellenweise schmerzlich schön gespielt hat, die mit verrückten Ideen und Kombinationen, die wie eine Mozartmelodie flossen, die Hässlichkeit und Banalität des Lebens kurzfristig zu widerlegen schien: Erst Schalke, dann Leverkusen. Natürlich sind beide Traumteams niemals deutscher Meister geworden, natürlich musste das schmerzhaft heroische Leverkusen gegen beschämend öde Madrilenen sogar die Champions League verspielen.“
Auf der Suche nach der verlorenen Glorie wähnt die spanische Sportzeitung As (24.5.) Deutschlands Elf bei ihrer Mission in Fernost. „Die Deutschen haben in dieser Weltmeisterschaft die Gelegenheit zu beweisen, dass sei zu denjenigen Teams gehören, die allseits gefürchtet werden. Seit Anfang der 90er Jahre, als Deutschland die Weltmeisterschaft in Italien gewann, durchläuft der deutsche Fußball eine Dekadenzphase. Die Nachwuchsspieler haben nie das Niveau der ehemaligen Cracks Matthäus und Klinsmann erreicht. Nur Oliver Kahn, der Alma Mater der aktuellen Mannschaft, bewegt sich auf dieser Höhe. Talente wie Ballack oder Jeremies haben einen gewissen Ruf in der internationalen Szene, aber sie sind weit entfernt von den realen Möglichkeiten, die ihnen ihr Talent eigentlich bietet. Die fehlende Kontinuität ist das große Manko der deutschen Nationalmannschaft. Die Fans wissen, dass diese Weltmeisterschaft entscheidend ist, um auf die Zukunft optimistisch zu sehen oder um zu akzeptieren, dass früher alles besser war und sie ab jetzt nostalgisch auf die Vergangenheit zurück blickend leben müssen.“
Auf der Suche nach der verlorenen Glorie vermutet die spanische Sportzeitung As (24.5.) Deutschlands Elf bei ihrer Mission in Fernost. „Die Deutschen haben in dieser Weltmeisterschaft die Gelegenheit zu beweisen, dass sie zu denjenigen Teams gehören, die allseits gefürchtet werden. Seit Anfang der 90er Jahre, als Deutschland die Weltmeisterschaft in Italien gewann, durchläuft der deutsche Fußball eine Dekadenzphase. Die Nachwuchsspieler haben nie das Niveau der ehemaligen Cracks Matthäus und Klinsmann erreicht. Nur Oliver Kahn, der Alma Mater der aktuellen Mannschaft, bewegt sich auf dieser Höhe. Talente wie Ballack oder Jeremies haben einen gewissen Ruf in der internationalen Szene, aber sie sind weit entfernt von den realen Möglichkeiten, die ihnen ihr Talent eigentlich bietet. Die fehlende Kontinuität ist das große Manko der deutschen Nationalmannschaft. Die Fans wissen, dass diese Weltmeisterschaft entscheidend ist, um auf die Zukunft optimistisch zu sehen oder um zu akzeptieren, dass früher alles besser war und sie ab jetzt nostalgisch auf die Vergangenheit zurück blickend leben müssen.“
Die kroatische Zeitung Vecernji List (25.5.) befasst sich mit der Erwartungshaltung der Deutschen. “Die Deutschen sind große Realisten und erwarten nicht, solch einen Vorstoß bis zum Finale zu schaffen. „Alles über dem Achtelfinale wäre ein Erfolg“ meint der Kaiser, Franz Beckenbauer. Allerdings betont er, dass die Deutschen gerne die anderen bis zu den Sternen loben, während sie die eigenen Fähigkeiten gerne verschweigen. Der Kaiser erinnert daran, dass die deutsche Elf auch 1986 eine durchschnittliche Mannschaft hatte und trotzdem das Finale erreichte. Die Qualifikation verlief mühseliger als zunächst angenommen. Die große Niederlage gegen den„Blutfeind“ England (5:1) in München erschütterte grundlegend das Vertrauen, Völlers Jungs in Japan und Südkorea zu sehen. Am Ende dominierte dann doch die deutsche Tugend: Hartnäckigkeit. Das endgültige Ticket wurde mit dem Sieg gegen die Ukraine in der Relegation geholt.”
„Über Ethik und Ästhetik des deutschen Spiels“ betreibt Dirk Schümer (FAS 26.5.) Philosophie. „Die deutschen Fußballfans wollen gar nicht mehr mit Gewürge und Glück bis ins Finale vorstoßen. Sie wollen sich nicht mehr an den Stränden und auf den Campingplätzen dieser Welt für hässliche Siege schämen müssen. Vorbei soll er sein der minimalistische Hoeneß-Fußball, der nach dem Vorbild von Bayern München auf dem Platz die Spielmacher des Gegners und hinterher die Pokale abräumt (…) Die Deutschen haben viel gelernt. Vor allem, dass sie nicht immer gewinnen müssen. Sie haben vom Fußballgott in den in den vergangenen zwei Jahren jeweils eine Mannschaft beschert bekommen, die berauschend, stellenweise schmerzlich schön gespielt hat, die mit verrückten Ideen und Kombinationen, die wie eine Mozartmelodie flossen, die Hässlichkeit und Banalität des Lebens kurzfristig zu widerlegen schien: Erst Schalke, dann Leverkusen. Natürlich sind beide Traumteams niemals deutscher Meister geworden, natürlich musste das schmerzhaft heroische Leverkusen gegen beschämend öde Madrilenen sogar die Champions League verspielen.“
Für die deutsche Nationalmannschaft gibt es neben Kamerun, Irland und Saudi-Arabien einen weiteren gefährlichen Gegner: den Lagerkoller im Vorfeld des Turniers. Ludger Schulze (SZ 25.5.) berichtet von der „längsten Woche des Jahres“. „Wie viele seiner Kollegen sucht der Leverkusener Bernd Schneider harmlose Zerstreuung bei Computerspielen und an der Playstation, scheiterte aber an technischen Unzulänglichkeiten: „Keinen Anschluss gefunden, das macht uns Kopfzerbrechen.“ Schließlich hat nicht jeder eine Bibel dabei wie Gerald Asamoah oder gleich fünf Bücher wie Marco Bode.“
Ein Blick in die ausländische Berichterstattung über den deutschen Fußball ist immer aufschlussreich. Mit der Frage nach dem Kopf der Mannschaft befasst sich A. Buskulic von der kroatischen Tageszeitung Vecernji List (23.5.). Er kommt zu einer eindeutigen Antwort. “Seitdem Matthäus, Völler, Klinsmann, Hässler, Effenberg u.a. im Ruhestand sind, ist die deutsche Elf ohne wahre Stars. Vielleicht erinnert einzig der strenge Blick und die Stimme des Torwarts Olivera Kahn an diesen Status. Bedeutet dies also, dass einen deutschen Erfolg im fernen Osten einzig ein Kollektiv ohne herausragende Einzelspieler liefern kann?Allerdings weisen alle Experten auf die Frage, welcher Spieler die deutsche WM charakterisieren wird, auf einen Mann hin: Michael Ballack. Er ist der Motor von Bayer, der Mannschaft, die in dieser Saison den schönsten Fußball spielte – auch weit ueber die Grenzen Deutschlands hinaus, allerdings jedoch stets Zweiter geworden ist. Ballack hat keine Lust mehr, im Finale zu weinen. In der nächsten Saison werden wir ihn im Bayern-Trikot spielen sehen. In der Mannschaft hat ihm Trainer Völler die Führungsrolle zugewiesen, nachdem Scholl ausgefallen ist. “Er ist ein Spieler, der die Führungsrolle übernehmen kann”, meint Völler. Die Fans nennen ihn nicht umsonst den “kleinen Kaiser”, mit Blick auf den “großen” Kaiser Franz Beckenbauer. Auch Pele spekuliert nicht grundlos: “Ballack könnte der Spieler der vorstehenden WM werden!” Zurecht, denn gerade seine brillanten Spiele in der Relegation gegen die Ukraine führten Deutschland zur WM. Erst jetzt beginnen die Etiketten abzufallen, die ihm die Medien anhefteten: Talentiert, aber unausgebaut, arrogant und eher an seinem Aussehen interessiert als an den Geschehnissen am Spielfeld! Aber das “Mannequin”fing an, ernst zu machen und zeigte es ihnen. “Ballack ist talentiert wie Fritz Walter, Uwe Seeler oder Franz Beckenbauer. Er hat alle Voraussetzungen, Franz zu übertreffen, und sein Stil erinnert an Johann Cruyff. Er spielt mit dem Kopf, ist zweikampfstark und hat einfach keine Schwächen! Er ist immer am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Er ist eine wahre Führungspersönlichkeit! Er kann sogar der beste europäische Spieler werden”, kann Bayer-Trainer Klaus Toppmöller seine Begeisterung kaum verbergen. Zeigt er auch nur einen Teil dieser Begabungen in Japan und Südkorea, wird er ein neues Etikett erhalten:Volksheld.”
Die Forderung an den Teamchef, Jörg Böhme statt Jörg Heinrich nachzunominieren, wurde immer lauter. Nun hat Heinrich selbst Völler die Entscheidung abgenommen.
Peter Heß (FAZ 23.5.) dazu. “Völler begründete noch einmal, warum er die in der Öffentlichkeit umstrittenste Personalentscheidung eigentlich zugunsten des Dortmunders getroffen hatte. Ich war auf Heinrich so fixiert, weil er ein dankbarer Spieler ist. Er ist in der Dreier- und Viererabwehrette auf jeder Position einsetzbar und dazu noch im defensiven Mittelfeld. Heinrichs Rückzieher nannte der Teamchef ungewöhnlich und mutig. Man muss Jörg Respekt entgegenbringen. Sein Ersatzmann Jörg Böhme hat mit dem Dortmunder nur den Vornamen gemeinsam. Der 28 Jahre alte Schalker ist ausschließlich für die linke Mittelfeldseite tauglich, und seine Stärken liegen vor allem in der Offensive.
Philipp Selldorf (SZ 22.5.) schreibt zu diesem Thema. „Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, dass da jemand ohne Zwang zur Einsicht in das einzig Richtige gelangt ist. Insofern ist Jörg Heinrich als Meister der Selbstbescheidung ein Held der Weltmeisterschaft, obwohl er gar nicht an ihr teilnimmt. (Zunächst) schien es so, dass Böhme auch deshalb als Ersatzlösung für Sebastian Deisler schlechte Chancen hatte, weil Völler und Skibbe den Eindruck verhindern wollten, sie ließen sich nach der Laune der Öffentlichkeit einen Kandidaten einreden. Zumal da der Schalker, gern als schwierig verschrien, schlecht ins gängige Schwiegersohnschema passt.“
Berries Bossmann (Die Welt 22.5.) bemerkt dazu kritisch. „Völler ist in erheblichem Maß mitverantwortlich für die aktuelle Situation. Er ist bei der Nominierung seines vorläufigen Kaders ein Risiko eingegangen, er holte zahlreiche angeschlagene Spieler wie Sebastian Deisler, Christian Wörns, Jörg Heinrich, Christian Ziege, Marco Bode und Marko Rehmer. Völler hat hoch gepokert – und verloren. Nun muss er sich fragen lassen, ob es nicht besser gewesen wäre, gleich auf die Wackelkandidaten zu verzichten, um möglichst schnell zu einer Stammformation zu finden.“
Die Kommentatoren befassen sich weniger mit dem arg enttäuschenden Auftritt der deutschen Nationalmannschaft in Wales denn mit den Reaktionen darauf; insbesondere mit der Auseinadersetzung zwischen Teamchef Rudi Völler und Günter Netzer. Dieser hatte harsche Kritik an der Leistung geübt und Völler zur Vorsicht gemahnt, “dass er nicht auf der Strecke bleibt für eine Mannschaft, die ihm die Gefolgschaft verwehrt”. Darufhin konterte Völler, “man darf nicht so schwarz sehen”, und er werde sich gegen Angriffe zu wehren wissen.
Jan Christian Müller (FR 16.05.02) über die Netzers Rolle als TV-Kritiker: “Wenn die ARD überträgt, ist Günter Netzer ganz Deutschland. Mit Völler hat er gemein, dass er konsequent konservativ zu einer Frisur steht, wegen der man andere Menschen akuten Realitätsverlusts zeihen würde. Auch wenn die Haarlänge also geblieben ist, wie sie immer schon war, scheint sich Netzer weniger an seine eigenen Erfahrungen als Fußballprofi erinnern zu können als Kollege Völler. Derzeit spielt Netzer seine Rolle als mediengerecht formulierender Populist ähnlich perfekt, wie er früher Freistöße über die Mauer zirkelte. Wäre er nicht der allseits geschätzte Fachmann mit dem staubtrockenen Humor, man wäre fast versucht, ihm Stammtischniveau zu unterstellen.”
Philipp Selldorf (SZ 16.05.02) hat typisch britische Wahrnehmungsmuster registriert: “Auf der Suche nach Gelegenheiten, die Deutschen zu demütigen, werden die Briten täglich fündig. Die Belustigung über den gesunkenen Titanen, dessen 1:5 gegen England auf der Insel erinnerlich ist wie der Morgen des frischen Tages, ernährt inzwischen eine Industrie: in der Souvenirproduktion; in der Werbung, die kaum andere Motive mehr kennt als die Anzeigetafel aus dem Olympiastadion mit dem Zahlenverhältnis 1:5; in den Medien, die ständig neuen Spott ersinnen (…) So meldete der Beobachter der Irish Times erschüttert nach Hause, dass er sich die Augen gerieben habe, als er d i e s e Deutschen sah. Ein bisschen Zweifel aber bleibt: „Schreibt niemals die Deutschen ab!“, heißt es in Irland und Britannien. Ein Rest des Mythos lebt noch.”
Michael Horeni (FAZ 16.05.02) über Rudi Völlers Pressekonferenz: “Bei der Aufzählung all der entlastenden Argumente für seine meist uninspirierte, lauffaule und kampfscheue Auswahl verstieg sich der Teamchef zu der Behauptung, dass es doch keine Schande sei, in Wales zu verlieren. Er erinnerte an das 1:1 von Argentinien (ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um eine Mannschaft handelte, die mit dem WM-Team kaum etwas zu tun hat) sowie an die Schwierigkeiten auch anderer Teams auf der Insel. Diese Schutzbehauptung forderte auf der Pressekonferenz allerdings hartnäckigen britischen Widerspruch heraus. Völler musste sich belehren lassen, dass Wales in den vergangenen drei Jahren nur zwei Heimspiele gewinnen konnte: gegen Weißrußland und gegen Katar. Völler beharrte trotzdem ärgerlich auf dem 1:1 von Argentinien. Er kam damit aber nicht durch und gab gegenüber dem Experten in walisischer Sache – der noch hätte anfügen können, dass Wales von den letzten fünfzehn Spielen nur eines gewann und daher auf der Weltrangliste in Richtung Nummer 100 abstürzte – als schlecht informierter Verlierer schließlich wie seine Mannschaft klein bei.”
Frank Ketterer (taz 16.05.02) sah in der Leistung der Deutschen kein indiz für überschäumende WM-Hoffnungen: “Bei der ganzen Konstellation mit angeschlagenen und fehlenden Spielern sowie den diversen Endspielen wussten alle, dass es nicht funktionieren würde in diesen Spielen, hat Rudi Völler am späten Dienstagabend deshalb gesagt – und das hat, zumindest aus Teamchefsicht, durchaus was für sich. Andererseits kann es nur Schlimmstes befürchten lassen, dass Völler sich mit einem ebenso ersatzgeschwächten wie angeschlagenen wie ausgelaugten Kader, der zudem so gut wie nicht eingespielt ist, nach Asien zum großen Fest aufmachen muss (…) Hinzu kam der offensichtlich fehlende Wille, aus einem Testspiel auch einen wirklichen Test werden zu lassen, obwohl man sich doch zur WM-Vorbereitung eigens ein dem britischen Fußball frönendes Team – als Einstimmung auf WM-Vorrundengegner Irland – ausgewählt hatte sowie eine überdachte Spielwiese, wie man sie zum WM-Auftakt im Sapporo-Dome vorfinden wird. Die Mühe hätte man sich auch noch sparen können.”
Demnächst stoßen die Leverkusener Spieler zum Kader hinzu. Ob damit viel Hoffnung zu verbinden sei bezweifelt Markus Hesselmann (Tsp 16.05.02): “Was sollen die vier Leverkusener ausrichten, wenn bei der Mehrzahl der Mannschaftskollegen die Einstellung nicht stimmt? Wenn einfach keiner da ist, der das Spiel rumreißen kann? Nicht das Ergebnis von Cardiff dämpft die Hoffnungen auf ein einigermaßen erträgliches Ergebnis bei der WM, sondern die schnöselige Art, mit der die Deutschen dort antraten (…) Der Abend von Cardiff muss Völler wehgetan haben. Der Weltmeister von 1990 setzte sich und seine Elf dem Spott aus. „Konnten Sie erkennen, welche dieser beiden Mannschaften zur WM fährt?“, fragte der walisische Stadionsprecher süffisant nach dem Spiel. Dann sangen die Beatles „Ticket to Ride. Die Deutschen haben das Ticket für die Fahrt nach Fernost. Die Waliser nicht. Doch die Nummer 96 der Fifa-Weltrangliste dominierte an diesem Abend. Und ein Länderspiel-Debütant von einem drittklassigen Klub, Cardiff Citys Robert Earnshaw, wurde als Torschütze auf Kosten der deutschen Abwehr zum Helden.”
Ob ein Fluch die Niederlage der Deutschen verursachte? Christian Eichler (FAZ 14.05.02) hegte bereits im Vorfeld Befürchtungen: “Seit die herrliche Arena für die Rugby-WM 1999 errichtet wurde, hat bei ernsthaften Wettkämpfen regelmäßig das Team verloren, das in der Südkabine einquartiert wurde. Vor zwei Monaten beauftragte der englische Fußballverband, der seit Schließung des Wembley-Stadions vor zwei Jahren seine Pokalfinals und Aufstiegsspiele in Cardiff austrägt, einen Feng-Shui-Experten, um den Fluch zu beenden. Der Mann verteilte Weihrauch und Meersalz in der sonst eher schweißfußgesättigten Kabinenluft, gruppierte Möbel um, entzündete Kerzen, ließ buddhistische Gesänge erklingen. Sechs Wochen später zog das Team des FC Chelsea in den von bösen Schwingungen befreiten Raum. Es verlor das Pokalendspiel gegen Arsenal 0:2 – der zehnte Verlierer in Folge aus der Südkabine.”
Ralf Wiegand (SZ 19.4.):“Die deutsche Nationalmannschaft hat sich abgesichert gegen Angriffe aus der internationalen zweiten Liga, sie kann an mäßigen Tagen die USA mit Mühe schlagen, an guten Israel deklassieren und an sehr guten gegen Spanien, Italien, England bestehen. Blamagen der Preisklasse Ribbeck sind nicht zu befürchten. Andererseits: Argentinien, Frankreich, wahrscheinlich auch Brasilien, sind für diese Deutschen inzwischen Prüfungen wie das Staatsexamen für einen schüchternen Juristen; eine Übung, die alle Konzentration erfordert und deren Ausgang von vielen Variablen abhängt. Von Glück, Form, von Einsatzbereitschaft, vielleicht Leidenschaft.”
Ludger Schulze (SZ 19.4.) sieht das ähnlich: “Man könnte sich leicht in die Tasche lügen mit dem Argument, dass im Daimler-Stadion zwei Reserveteams gegeneinander antraten, denn aus Völlers Stuttgarter Besetzung sind lediglich Nowotny und Ballack unumstritten. Dennoch blieb das Niveaugefälle an Ballfertigkeit und Gedankenschnelle unübersehbar. Unter Teamchef Völler haben sich die Deutschen gefestigt, aber zur internationalen Spitze, wie sie Argentinien, Frankreich, Portugal oder Brasilien repräsentieren, bestenfalls um Millimeter genähert (…) Mit dem Eifer eines Hündchens, welches das Bällchen apportiert, bis die Zunge raushängt, trugen sie die Kugel immer wieder in Gegners Hälfte, nur zu welchem Zweck? So oft sie kamen, so oft verhedderten sie sich im eng geknüpften Netz der Südamerikaner, ein hoffnungsloser Fall.”
Michael Horeni (FAZ 19.04.02) vernimmt ein “klares Bild” vom Leistungsstand der deutschen Nationalelf: “Von der sportlichen Mittel- und Unterklasse haben sich die Deutschen abgesetzt, Zugang zu den ersten Adressen haben sie noch immer nicht. Immerhin hat die Mannschaft aber gegen Argentinien angedeutet, dass die Konkurrenzfähigkeit auch gegen einen WM-Favoriten möglich ist (…) Tatsächlich aber leidet die Nationalelf wie vor vier Jahren vor allem darunter, noch nicht einmal ansatzweise auf eine eingespielte Mannschaft vertrauen zu können. Was vor der WM in Frankreich mangelnder Entschlußkraft des Trainers geschuldet war, ist vor der asiatischen Sommertour unvermeidliche Folge personeller Not.”
Außerdem sieht er seine “sportlichen Vorurteile über den aktuellen Stand des argentinischen und deutschen Fußballs bestätigt”:
“In der ersten Viertelstunde eines Testspiels mit Wettkampfcharakter wirkten die Deutschen noch ziemlich mutig. Ein Kopfball von Thomas Linke an den Pfosten blieb deutlichstes Resultat der Bemühungen, wieder mit der Weltspitze konkurrieren zu wollen. Aber wenn die Argentinier, die ebenfalls ohne zahlreiche Stars wie etwa Veron, Batistuta oder Ayala antraten, aufs Tempo drückten, waren die deutschen Leichtgewichte aus der zweiten Reihe schnell ausgemacht. Der Schalker Jörg Böhme bemerkte beispielsweise wie schon im vergangenen Spätsommer im Duell mit David Beckham, daß die Welt weit größer ist als die Schalker Arena. Auch Frank Baumann staunte nach seiner Einwechslung, mit welcher Geschwindigkeit man sich dem Ball nähern kann, als er in aller Ruhe die Flanke von Gustavo Lopez abfangen wollte – und ihm Sorin rasend schnell dazwischen kam und mit dem Kopf das 1:0 in der 48. Minute erzielte. Nach dem Rückstand bekamen Völlers verbliebene WM-Kandidaten bestätigt, was sie heimlich schon befürchtet hatten: daß zu ihren Fähigkeiten auch noch glückliche Umstände kommen müssen, um gegen einen spielerisch, taktisch und mannschaftlich erstklassigen Gegner zu bestehen.”
Für realistische Erwartungen beim WM-Turnier plädiert Thomas Kilchenstein (FR 19.04.02) angesichts der deutschen Unterlegenheit gegen den WM-Favoriten: “Die Erfolge gegen die Kleinen mögen fürs Selbstvertrauen, mögen für die Stimmung und fürs Binnenklima im Team ganz wichtig sein. Weit kommt man damit aber nicht, wenn mindestens gleichwertige Gegner auf dem Feld stehen. Dazu sollte man sich daran erinnern, dass die Spiele gegen die wirklich Großen im Weltfußball in den letzten Jahren verloren gingen: Frankreich (0:1)