Bundesliga
Das Wunder von Bern und die Macht der Bilder
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| Donnerstag, 25. März 2004In der Bundesliga gibt man Millionen für Spieler aus, an der Sprache wird gespart.
Jens Kitzler (taz 14.10.) lobt ein Deutsch-Lehrbuch für ausländische Fußballer: „Von Berlins Mittelfeldstar Marcelinho wurde letzte Saison berichtet, er habe auf einer Feier des Vereins einen Redebeitrag halten sollen. Sag, wie es dir in Berlin gefällt, hatte ihm wohl ein Kollege geraten, bevor der Brasilianer ans Mikrofon gegangen war und ‚Wie es dir in Berlin gefällt‘ in die ratlose Festgesellschaft sprach. Für Lacher war gesorgt, doch ob es auch Marcelinho lustig fand? Eher nicht. Und wer sich sprachlich in seiner Umgebung nicht wohl fühlt, der bringt auch auf dem Platz keine Höchstleistung – glaubt jedenfalls der Dortmunder Linguist Uwe Wiemann. Sprache, Integration und Arbeit hängen ja zusammen, sagt er. Doch darum kümmere man sich bei den Vereinen zu wenig. Wiemann: In der Bundesliga gibt man Millionen für Spieler aus, aber an der Sprache wird gespart. Wie könne es sonst sein, dass Lizarazu nach vier Jahren in Bayern immer noch kein Deutsch spricht? Und dass Sammer seine Anweisungen lange via Dolmetscher an Evanilson weiterbrüllen lassen musste? Um die pädagogische Lücke etwas zu schließen, entwickelt Wiemann derzeit mit zwei Kollegen ein Sprachlehrbuch für Fußballprofis. Den Praxistest übernehmen dabei die ausländischen Spieler von Bayer Leverkusen und deren Betreuer Frank Ditgens. So haben die Linguisten bereits Feedback von Lucio, Franca, Placente und Juan bekommen: Die Spieler hatten sehr viel Spaß damit, freut sich Uwe Wiemann. Das ist keineswegs selbstverständlich, sagt er, denn hoch bezahlte Stars seien didaktische Sonderfälle und müssten mit den richtigen Themen an Deutsch herangeführt werden. Das richtige Thema: Fußball. Das falsche: Haushalt. Man kann Fußballern, die fürs Lernen ohnehin wenig motiviert sind, nicht mit Sockenstopfen kommen, sagt Wiemann. Von den gängigen Lehrmaterialien hatte dann auch Lucio irgendwann genug – er wollte sich nicht mehr von den Kollegen auslachen lassen, wenn er über Näharbeiten radebrechte.“
Omnipotenter Strippenzieher
Andreas Morbach (NZZ 14.10.) beglückwünscht Otto Rehhagel zu seinem „ungewöhnlichsten Triumph“: “Die schier endlose Erfolgsschleife in Bremen, die Meisterschaft mit Aufsteiger Kaiserslautern – alles schön und gut, aber eben in der Heimat erreicht. Jetzt jedoch arbeitet Rehhagel in Griechenland. In einem Land, dessen Sprache er nicht versteht, dessen Bewohner das Leben im Gegensatz zu ihm gerne scharf an der Grenze zur Anarchie absolvieren, und das dem Nationalteam etwa mit so viel Begeisterung begegnet wie ein Eiswürfel der Sonne. Schwierige Umstände. (…) Geschafft hat er es wieder einmal mit der zentralistischen Methode: Rehhagel als omnipotenter Strippenzieher, der in erster Linie gute Vasallen braucht. In Griechenland ist dies sein Assistent und Dolmetscher Ioannis Topalidis, der „ganz nahe bei der Mannschaft ist, während ich den Oberchef mache“, wie Rehhagel das System erklärt. Und Präsident Vassilis Gagatsis fügt bei: „Er hat mir vom ersten Tag an jegliche Unterstützung zukommen lassen.“ Gagatsis macht, was Rehhagel sagt, sagen die Griechen.“
Mit Hinblick auf das Wunder von Bern kommentiert Malte Oberschelp (SZ 14.10.) die Macht der Bilder: „Fünf Tage nach dem Finale kam der Film „Fußballweltmeisterschaft 1954“ von Sammy Drechsel in die Kinos, und er war geschnitten wie ein ran-Spielbericht: wenig Fußball, viel Kulisse. Nach der vergebenen Chance gab es mitfiebernde Zuschauer zu sehen, nach dem nächsten Spielzug den skeptischen Trainer – ein als Dokumentation verbrämter Spielfilm. Aus dem wiederum bedienten sich die Fernsehsender und sendeten jahrzehntelang die immer gleichen Szenen. Der künstliche Charakter der Bilder wurde dabei noch verstärkt, indem man sie mit Herbert Zimmermanns legendärer Rundfunkreportage unterlegte – eine Kombination, die es nie gegeben hatte. Durch die Nachsynchronisation wirkte das Ganze wie moderne Sportberichterstattung, mit der historischen Realität hatte es immer weniger zu tun. Als Rahn in der 84. Minute aus dem Hintergrund schießen müsste, gab es gar den Vorwurf, ein Teil des Materials stamme aus ganz anderen Szenen des Spiels. Der Sportjournalist Dieter Kürten berichtet in seiner Autobiografie „Drei unten, drei oben“, wie kein geringerer als Bundestrainer Sepp Herberger beim Studium der Bilder stutzig wurde: „Stopp! Das ist nicht das Tor vom Boss!“ Tatsächlich ist ausgerechnet das 3:2 schlampig inszeniert: Gerade als Rahn mit dem Ball am Fuß in den Strafraum eindringt, wird von Totale auf Nahaufnahme umgeschnitten. In der sieht man vom Spieler aber bestenfalls noch den Arm am linken Bildrand. Wir alle sind am 4. Juli 1954 Weltmeister geworden, aber wir haben Helmut Rahn nie wirklich schießen sehen. Das änderte sich erst, als die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor dem 50. WM-Jubiläum nach anderen Aufnahmen zu suchen begannen. Zum Pokalfinale der vergangenen Saison präsentierte die ARD vorab Farbaufnahmen, die das 3:2 in einem Rutsch zeigen. Aber auch die neuen Bilder irritierten: War der Rasen nicht viel zu grün, um echt zu sein? Warum sahen die roten Trikots der Ungarn fast schwarz aus? Sollte man nachkolorieren? „Wenn das ganze Spiel noch auf Film vorhanden wäre, wäre es nicht so ein Mythos geworden“, sagt der Sammler Johann Schlüper, der aus Archiven in Deutschland, Ungarn und der Schweiz mittlerweile 35 Minuten des Berner Finales rekonstruiert hat. Aber weil es davon immer nur so wenige Ausschnitte zu sehen gab, haben die vermeintlich authentischen Bilder längst die gleiche irreale, märchenhafte Qualität gewonnen, mit der Sönke Wortmann das Wunder von Bern im Zeitalter digitaler Postproduktion nun erneut aufgeführt hat.“
Evi Simeoni (FAZ 11.10.) erzählt: “Es war kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Stadion in Ismailia in Ägypten. Eine Mannschaft deutscher Kriegsgefangener spielte gegen die Sieger aus Großbritannien. Das war eine Atmosphäre! So begeistert wie damals habe er, der selbst zu den Gefangenen, aber nicht zum Team gehörte, nie wieder ein Fußballspiel verfolgt. Die Besiegten wollten natürlich unbedingt gewinnen. Und das taten sie dann auch. 3:2, das weiß ich noch genau. Sie hätten sogar einen Nationalspieler dabeigehabt. Er hieß Ma . . ., Ma . . . ach, es ist zu lange her. Die britischen Truppen hätten sie übrigens ihre Niederlage nicht büßen lassen. Die Engländer, das sind Sportsleute. Über solche Fußballspiele wird zwangsläufig immer weniger gesprochen. Doch keines außer dem Finale von 1954 hat für deutsche Zuschauer wohl je wieder eine solche Bedeutung gehabt wie diese Begegnungen ohne Titel und Pokale, die wahrscheinlich bis heute die Wurzeln der deutschen Fußballbegeisterung bilden. Nur noch im Archiv stößt man auf das legendäre weihnachtliche Match 1915 in der Nähe des nordfranzösischen Städtchens Lavantie zwischen einem bayerischen und einem walisischen Regiment während des grauenvollen Stellungskriegs im Ersten Weltkrieg. Da soll es plötzlich zaghaft aus den britischen Schützengräben gerufen haben: Hello, Fritz! Und aus den deutschen antworteten sie: Hello, Tommy! Wenig später wurde gekickt, und die Feinde balgten sich spielerisch im Schnee. 50 gegen 50, so ungefähr, das Ergebnis blieb unbekannt. Das Spiel wurde von einem englischen Offizier rüde beendet. Der Spaß durfte auf keinen Fall Schule machen. Das hätte die Wehrkraft zersetzt. Ein bitterer Gedanke.“
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