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Debatte um den italienischen Fußball nach dem Einzug von Juve, Milan und Inter ins Halbfinale der Champions League

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Debatte um den italienischen Fußball nach dem Einzug von Juve, Milan und Inter ins Halbfinale der Champions League

„Ein Gespenst geht um in Europa, es ist der Catenaccio.“ Dieses Zitat aus der heutigen Süddeutsche Zeitung beschreibt die Diskussion über das Missverhältnis fußballästhetischer Soll- und Istwerte, die immer dann aufkommt, wenn der italienische Fußball in die Schlagzeilen gerät. So auch diese Woche, als zum ersten Mal in der Geschichte der Champions League drei Klubs der Serie A (Juventus Turin, AC Mailand, Inter Mailand) ins Halbfinale einzogen, was sodann die entsprechenden Reaktionen auslöste.. „Die Spaßverderber sind zurück“ titelt die taz, die Financial Times Deutschland sah die „Perfektion des Riegelfußballs“ (FTD), die SZ (einen Tag zuvor) noch eine „gigantische Catenaccio-Nummer“.

Insbesondere die ihren Ruf des schlechten Verlierers bestätigenden spanischen Medien ließen sich nach zwei direkt verlorenen Duellen auf heimischem Boden (Valencia und Barcelona) gegen die mediterrane Konkurrenz nicht lumpen. So bezeichnete das linksliberale Blatt El País den Auftritt von Inter beim 1:2 in Valencia als „Negation schönen Sports“, die Madrider Tageszeitung ABC sah „scheußlichen Fußball“. Das Zustandekommen dieser übertriebenen und im Grunde ungerechten Urteile deutet die FTD: „Italiens Fußball hat sich zurückgemeldet und die Vorherrschaft der spanischen Klubs gebrochen. Noch vor einem Jahr hatten die Sportkommentatoren in Spanien die vermeintliche Beerdigung des verhassten Catenaccio gefeiert. Nun müssen die selbst ernannten Fußballästheten mit Schrecken der Wiederauferstehung des Defensivspiels beiwohnen.“ Die Neue Zürcher Zeitung ruft dabei folgendes in Erinnerung: „Spanische Blätter werfen mit Schlamm nach den Resultat-Dieben vom Stiefel. Der Mensch vergisst schnell. Erst zwei Jahre ist es her, als sich der FCBayern und Valencia im San Siro einen Endlos-Match an der Mittellinie um die Champions-League-Siegesprämie lieferten und das Publikum erst beim Penaltyschiessen weckten.“

Letztendlich bleibt den Italienern nach Jahren sportlichen Abschwungs eine eindrucksvolle Bilanz. „Die Frage, wie gut die Italo-Spitzenklubs wirklich sind, bleibt unerheblich. Die Kunst der Effizienz ist zurückgekehrt (…) Das Land, dessen fussballerisches Selbstwertgefühl seit dem schmählichen Ausscheiden an der WM 2002 in Asien und wegen einer weitgehend hausgemachten Existenzkrise erschüttert ist“ (NZZ). Die Kommentare in der italienischen Presse klingen folglich stolz: „Alle Verleumder unseres Fußballs müssen nun endlich zugeben, dass die falsch lagen!“, antwortetCorriere della Sera den Unkenrufern.

Vielleicht verstärkten sich die harschen Urteile über das italienische Defensivprimat durch einen Kontrast. Im Schatten des diesjährigen Highlights musste alles andere Geschehen nämlich blass wirken. Dabei besiegte Manchester United in einem „Lustspiel ohne Verlierer“ (FAZ) Real Madrid mit 4:3.

Den Ball vor dem Gegner verstecken

Peter Hartmann (NZZ 25.4.) verteidigt anschaulich und vehement italienischen Fußballstil. „Im Calcio von heute spiegeln sich wie eh und je Narzissmus, der Hang, eine „bella figura“ abzugeben, vom Fallrückzieher bis zur Bilanzfälschung hochstaplerischer Präsidenten, und die Nationaltugend des „Furbismo“, schlauer sein zu wollen als alle andern. Den Ball vor dem Gegner zu verstecken, wie das die „alte Dame“ Juventus hervorragend beherrscht. In dieser Art Fussball erkennt sich jeder Italiener. Doch das Ende der Verschwendung führt zu einem Paradigmenwechsel. Der Dünkel von der „schönsten Meisterschaft der Welt“ ist verflogen. Mannschaften wie Chievo, die einen heiteren britischen Fussball spielt, oder die Desperados von Lazio Rom, die unbezahlt, aber auch frei von doktrinären Fesseln unter Trainer Roberto Mancini das attraktivste Spiel zeigen (und dennoch untergehen könnten), haben neue Erwartungen geweckt. Es stimmt, Inter hat sich in Valencia vor dem eigenen Strafraum eingegraben – aber erst nachdem Vieri nach sieben Minuten das Führungstor gelungen war. Dann hypnotisierte der Inter-Keeper Toldo die gegnerische Mannschaft. Er ging in seinem Furor Gigi Di Biagio an die Gurgel, weil sein Mitspieler vor einem Freistoss Valencias mit dem Schiedsrichter zu palavern begonnen hatte, statt in die Mauer zu stehen, und aus dieser Lässigkeit entstand die Szene, in der Toldo wie unter Strom vier, fünf Bälle abwehrte. Und plötzlich war wieder klar, dass Italien die besten Torhüter der Welt herausbringt, obwohl, selbst in Italien, niemand darüber redet. In der hysterischen Serie A stehen immer nur die Irrtümer und Fehler der Schiedsrichter im Mittelpunkt, obwohl auch sie, wie Collina in Manchester mit seiner unauffälligen, pragmatischen Spielleitung bewies, Weltklasse sind. Buffon, der letzte Mann der „alten Dame“, hielt in Barcelona seinen Verteidigern den Rücken frei. Mehr als Toldo und Buffon kann ein Torhüter nicht leisten. Aber weshalb leisten sich, beispielsweise, Barcelona und ManU nicht bessere Torhüter?“

Christof Kneer (BLZ 25.4.) hat weniger gute Erinnerungen an Italiens Fußball. “Überhaupt wollen wir darauf hinweisen, was wir alle dem italienischen Fußball verdanken. Hat sonst irgendein Fußball auf der Welt einen Begriff geprägt, der es bis ins Fremdwörterlexikon geschafft hat (catenaccio : Verteidigungstechnik im Fußball, bei der sich bei einem gegn. Angriff die Mannschaft kettenartig vor dem Strafraum zusammenzieht)? Weitere unvergessliche Momente gehen auf unseren Mandanten zurück: Italien schenkte der Welt die Trapattoni-Rede, Dino Zoffs grauen Pullover und 1982 die schlechteste Vorrundenelf, die je Weltmeister wurde. In Person des Verteidigers Gentile erfand unser Mandant zudem die Blutgrätsche sowie das One-Hit-Wonder (mittelmäßige Stürmer wie Rossi oder Schillaci, die ein Turnier lang überragten und dann wieder mittelmäßig wurden). Und unser Mandant hat ein großes Herz: Hat er nicht Carsten Jancker aufgenommen? Wir plädieren auf Freispruch, hohes Gericht. Nur eine einzige Strafe würden wir akzeptieren: die Versetzung des FC Bayern in unsere Liga. Und jetzt haben wir fertig.“

Nur hitzköpfige Barbaren pflegen den Mythos des offenen Visiers

Birgit Schönau (SZ 25.4.) rückt die Diskussionen um das Wesen des „calcio“ zurecht. „Der Catenaccio ist eine Lebensform. Es geht halt nicht immer nur nach vorn, wenn man etwas erreichen will. Nur hitzköpfige Barbaren pflegen den Mythos des offenen Visiers. Welten liegen zwischen Siegfried und Odysseus, dem Offensiv-Heros der Germanen und dem listigen Helden Homers. Italiens Tifosi gehen nicht mit dem Anspruch ins Stadion, für ihr Geld möglichst viel Spektakel zu sehen. Was nützt die ganze Rennerei, wenn am Ende eine auf den Platz geworfene Getränkebüchse das Match entscheidet – wie im richtigen Leben? Davon abgesehen, wird in Italien neuerdings durchaus wieder Fußball gespielt. Nach den Exzessen der 90er Jahre, in denen pünktlich zum Saisonbeginn der Coach und womöglich auch die halbe Mannschaft ausgetauscht wurden, haben sie jetzt aus der Not eine Tugend gemacht. Der Transfermarkt steht still, die Trainer dürfen ihre Verträge erfüllen, und plötzlich entstehen wieder gewachsene Teams. Spieler wie Nedved, Vieri und Inzaghi entfalten sich nach Jahren des Wartens, Trainer wie Ancelotti und Cuper müssen sich nicht mehr von einem Sonntag zum nächsten zittern.“

Ronaldo ist bloß einer, wir sind elf

Rückblickend fasst die SZ (25.4.) zusammen. „Wer hätte das gedacht. Drei von vier – nur Spanien hatte das geschafft im Frühjahr 2000. Die Italiener, mit 40 europäischen Trophäen absolute Champions vor England (34), Spanien (32) und Deutschland (19), hatten seit Gründung der Champions League 1992/93 bislang höchstens einen Halbfinalisten gestellt, zuletzt Juventus Turin 1999. Danach kamen bittere Jahre, Selbstanklagen, große Debatten über das Ende des calcio all’italiana. Während die Spanier sich am Donnerstag noch die Wunden leckten („Triumph des Antifußballs“, schrieb El Diario de Valencia), schwelgten die Italiener im Rausch. „Es gibt eben Leute, die unseren Fußball immer schlecht machen müssen“, sagte Juve-Trainer Marcello Lippi. „Und wir Italiener sind nachtragend.“ Luciano Moggi, Manager des Rekordmeisters Juventus Turin und angeblich mächtigster Mann im italienischen Fußball, hatte für Halbfinal-Gegner Real Madrid nur ein sarkastisches Bonmot: „Ronaldo ist bloß einer, wir sind elf.“ Die Gazzetta dello Sport malte ein „nationales Meisterwerk“ an die Wand und trat gegen die Spanier mächtig nach: „Sie haben uns beschrieben, als wenn wir im Schweinestall unterm Mist gewühlt hätten.“ Alles vorbei: „Bevor das Semester der italienischen EU-Präsidentschaft beginnt, haben wir erst einmal einen italienischen Fußball-Mai.“ Ein kräftiges „Forza Italia“ hätte noch gefehlt, aber darauf hat Milan-Patron Silvio Berlusconi, der ab Juli die Präsidentschaft in der EU übernimmt, bekanntlich schon das Patent angemeldet.“

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