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Die Arbeitsteilung im englischen Trainerteam

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Die Arbeitsteilung im englischen Trainerteam

Die Arbeitsteilung im englischen Trainerteam beschreibt Ronald Reng (FR 21.6.). „Noch vor ein paar Jahren, als Eriksson beim italienischen Erstligisten Sampdoria Genua arbeitete, machte er alles selber, sogar das Konditionstraining. Bei Lazio Rom, einer seiner folgenden Stationen, „hatte er dann erstmals einen Fitnessspezialisten, so einen Volleyballer“, sagt Grip. Heute konzentriert sich Eriksson auf die entscheidenden Entscheidungen: Wer spielt, in welchem System und auf welche Weise gespielt wird. Richtlinienkompetenz könnte man dazuanalog der Politik sagen. In ausländischen Zeitungen wird noch immer so getan, als habe Eriksson wie ein Magier den englischen Fußball aus der Steinzeit geholt. Eine lächerliche Annahme für alle, die ein bisschen näher hinschauen. An Englands defensiver Stärke bei dieser WM etwa hat Coach Steve McClaren einen größeren Anteil. McClaren, im Hauptberuf Cheftrainer beim Erstligisten FC Middlesbrough, hat quasi im Ferienjob das Stellungsspiel des englischen Teams in Defensivsituationen, von den Stürmern rückwärts, enorm verbessert. „Er macht das viel besser, als ich es jemals könnte“, gibt Eriksson gerne zu.“

Zur Situation des englischen Fußballs meint Peter Heß (FAZ 20.6.). „Ein paar hoffnungslose Romantiker sehen sich immer noch nach den guten alten Zeiten. Damals, als englische Nationalmannschaften rannten, ackerten und kämpften, bis ihnen das Blut in den Fußballstiefeln stand. Immer mit vollem Einsatz das Spielfeld rauf und runter – und doch nie am Ziel. Diesen Nostalgikern kommt gar nicht der Gedanke, dass der typisch britische Stil vielleicht der Grund für die anhaltende Erfolglosigkeit ist (…) Von den Ewiggestrigen zu den Fortschrittsgläubigen: Die meisten englischen Fußballbegeisterten sind von Sven-Göran Eriksson ganz hingerissen. Nicht, weil die Engländer seinen Fußball vom Reißbrett so sehr liebten. Sie lieben es zu siegen (…) Eriksson verhehlt nicht, Sohn eines schwedischen Bauern, dass die Zeit in Italien ihn taktisch geprägt habe. Dort führte er Sampdoria sowie die AS Roma und Lazio zu nationalen Meister- und Pokalehren, auf eine Art und Weise, wie sie die meisten italienischen Trainer pflegen: kein Risiko eingehen, Torchancen des Gegners vermeiden, auf den rechten Moment der eigenen Attacke warten.”

Peter B. Birrer (NZZ 13.6.) schreibt über den Support englischer Fans. „Jene Stadien, in welche die englischen Fußballer einlaufen, werden von zwei Farben in Besitz genommen, von der roten und der weißen, denjenigen Englands eben. Jede Stelle, die per Diktat des Weltfußballverbands Fifa nicht schon mit irgendwelchen Werbebotschaften zugekleistert oder sonst zur Sperrzone erklärt worden ist, wird mit Hunderten von Transparenten ausgestattet. Die Engländer lobpreisen ihre Fußballstars, sie intonieren auch die Nationalhymne wie niemand sonst, während des Rituals vor Beginn des Spiels – oder auch während dessen (…) Die Dankbarkeit kennt wenig Grenzen. Auch wenn sich England und Nigeria außerordentlich belanglos 0:0 trennen und während mehr als 90 Minuten keine Anstalten machen, mehr Tempo und auch nur ein bisschen mehr Unterhaltung zu bieten, sind in den Sektoren der Engländer keine Unmutskundgebungen auszumachen (…) Sie klatschen, wenn der Ball nur schon in die Richtung von Michael Owen fliegt; oder wenn Teddy Sheringham für Emile Heskey eingewechselt wird; oder wenn Paul Scholes im Mittelkreis einen harmlosen Zweikampf gewinnt; oder wenn Beckham temporär von der rechten auf die linke Seite hinüberrennt; oder wenn Torhüter David Seaman den Ball erst beim zweiten Mal fest in seinen Händen hält“

Die Anteilnahme der englischen Öffentlichkeit beim Erfolg gegen Argentinien beschreibt Christian Eichler (FAS 9.6.). „Am Morgen danach strahlte David Beckham von allen Kiosken ein Volk an, das einen solchen Feiertag lange nicht mehr erlebt hatte. Auch sein Vorgänger als Charismatiker des englischen Fußballs, Paul Gascoigne, trug das Trikot mit den drei Löwen – er hatte sich unter Tausende feiernde Fans auf dem Londoner Trafalgar Square gemischt. Am Freitag Mittag war England praktisch zum Erliegen gekommen, hatten sich zwanzig Prozent der Arbeitnehmer frei genommen, siebzig Prozent das Spiel während der Arbeitszeit angeschaut und die meisten anderen sich krank gemeldet. Volkswirte befürchteten bis zu vier Milliarden Mark (sic!) an Produktivitätsverlust, aber das wäre nichts gegen den nationalen Gefühlsgewinn, den das 1:0 gegen Argentinien bedeutete.“

Über die Methoden von Englands Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson berichtet Christian Eichler (FAZ 23.5.). „Konsequent ließ er alle Spieler zu Hause, die disziplinarische Probleme hatten, und davon gibt es in England genug; so verzichtete er auf Graeme Le Saux, obwohl der die Probleme auf der linken Abwehrseite hätte lösen können. Das Resultat ist, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten von einer englischen Auswahl keine größere Gefahr für die Hotel- und Flugzeugeinrichtungen ausgeht als von einer Pilgergruppe auf dem Weg nach Lourdes. So konnte Eriksson es sogar wagen, beim Trainingslager in Dubai sieben Spielern Ausgang nach dem Abendessen zu gewähren. „Mindestens zwei“ davon seien Antialkoholiker, rechnete der „Daily Telegraph“ aus, „die höchste Quote der englischen WM-Geschichte“. Selbst Elfmeter lässt Eriksson üben, anders als Glenn Hoddle bei der letzten WM, der meinte, der Ernstfall lasse sich nicht trainieren. Aus dem Scheitern im Elfmeterschießen 1990 und 1998, dazu bei der EM 1996 ist in der Fußball-Folklore so etwas wie ein Aberglaube des unabwendbaren Penalty-Schicksals entstanden – Teil zwei des englischen Fußball. Teil eins hieß: Gegen Deutschland kann man nicht gewinnen. Das ist seit dem 5:1 von München vorbei.“

Martin Pütter (NZZ 14.5.) hat in Englands Öffentlichkeit eine eigenartige und zugleich typische Erwartungshaltung beobachtet. “In England herrscht wieder Hochbetrieb der ganz besonderen, alle vier Jahre wiederkehrenden Art – und es ist ein Hochbetrieb wie fast nur im Mutterland des Fußballs. In den teilweise vehement geführten Diskussionen unter den Fans geht es dabei nicht darum, die Selektion von Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson für die WM in Japan und Südkorea als gut oder schlecht zu bezeichnen. Es wird auch nicht darüber gestritten, wie weit Englands Team, das in der so genannten “Todesgruppe” (Eriksson) mit Argentinien, Schweden und Nigeria ist, an diesem Turnier kommt. Es wird vielmehr, in Zusammenarbeit mit den Medien, nach der besten Entschuldigung dafür gesucht, dass es weiterhin nur bei einem Gewinn eines WM-Titels bleibt (…) Eriksson lieferte zuletzt auch Punkte, welche Fans und Medien als Entschuldigungen bei einem Scheitern anführen können. Seine Mannschaft sei nur Außenseiter, selbst wenn das in England viele anderes sehen mögen, sagte der Schwede im vertrauten Kreis. Er habe eine der jüngsten Mannschaften des Turniers, und seine Spieler seien noch viel zu jung, eine WM zu gewinnen. Doch dann fügte Eriksson als geschickter Psychologe noch einen kurzen Nachsatz hinzu, der in England Optimismus bringen kann: “Diesmal.” In vier Jahren dann, an der WM in Deutschland, kann dann allerdings die Suche nach Entschuldigungen vor Turnierbeginn wieder von neuem losgehen.”

Heinz Stadler (NZZ 24.4.) über die Vorbereitungen der englischen Öffentlichkeit auf die christlichen Anstoßzeiten der Fußball-WM. “Am 2. Juni, am Sonntagmorgen um 10 Uhr 30 GMT, spielt England in der fernöstlichen Stadt Urawa gegen Schweden sein erstes WM-Spiel. Die englischen Brauereien raten den Wirten, sich darauf einzustellen und die Pubs schon morgens um sieben Uhr zu öffnen. Nach vorsichtigen Schätzungen wird mit einer Umsatzsteigerung in der Höhe von neun Millionen Pfund gerechnet. Die anglikanische Kirche, die den Kampf gegen die Ersatzreligion Fußball schon verloren glaubte, macht sich die Zeitverschiebung zunutze und will nicht nur das erste Englandspiel in die Gotteshäuser übertragen lassen, sondern sogar erlauben, Bier mitzubringen. Das Rauchen, Fluchen und die verbale Beschimpfung der Gegner Englands sind dagegen untersagt. Ob die Pfarrherren für den Fall durchaus möglicher Verstösse mit roten und gelben Karten ausgerüstet werden, ist bisher nicht bekannt.”

Schweden

Ronald Reng (SZ 14.6.) über schweidsche Tugenden. “Geradezu besessen sind die Schweden als Nation davon, bodenständig zu sein. An niemandem lässt sich das besser festmachen als an ihren Sportlern. Dass sie sich in einer Vorrundengruppe mit England, Argentinien und Nigeria als Tabellenerster für das Achtelfinale gegen Senegal qualifizierten, bewegte Trainer Tommy Söderberg allerdings doch; wenngleich auf andere Art, als man hätte annehmen können. Er entschuldigte sich: „In meinem Herzen fühle ich mit Argentinien.“ Gefragt nach den Qualitäten seiner Elf antwortete Olof Mellberg, rechter Verteidiger: „Wir hatten Glück.“ Doch das schwedische Glück hat schon seit Jahren System. Schweden ist die Mutter all dieser kleinen Teams wie Dänemark, Irland oder USA, die bei der WM die Favoriten entzauberten. Es sind keine Siegermannschaften. Bloß Teams, die hart zu schlagen sind.”

Die NZZ (3.6.) portraitiert den schwedischen Trainer Englands. „Eriksson ist auch auf der Insel und während der Weltmeisterschaft derjenige geblieben, der er schon immer war: der kühle Schwede, der Anständige und nie Ausfällige, der Korrekte, leise und kontrolliert Sprechende, der auch im größten Trubel nicht aus der Fassung zu bringen ist. Eriksson ist der Diplomat im Scheinwerferlicht, er entspricht dem Klischee des kühlen Nordländers in geradezu perfekter Art und Weise.“

Christian Eichler (FAZ 1.6.) über “die Schweden, gegen die England seit 33 Jahren nicht mehr gewonnen hat. Sie beschäftigen gleich zwei Trainer. Beide haben gerade ihre Verträge verlängert und tragen Namen, die nach Knäckebrot klingen: Söderberg und Lagerbäck. Bei ihnen weiß man immer, was kommt: disziplinierte Langeweile und eine Abwehr aus Schwedenstahl. Ein vergleichsweise bunter Vogel ist noch Torwart Magnus Hedman, der schon mit 23 mit seiner eigenen Textilfirma die erste Million verdiente, mit einer der hübschesten und erfolgreichsten Popsängerinnen Schwedens verheiratet ist und offenbar nur zum Spaß Fußball spielt. Seit Jahren ist Hedman der am schwersten zu schlagende Schlussmann der Welt: Von den letzten 50 Länderspielen blieb Schweden 29 Mal ohne Gegentor; die Durchschnittsquote von 0,6 Gegentreffern seit 1998 bedeutet Platz eins der Hinten-dicht-Weltrangliste.”

Argentinien

Romeo Rey (FR 13.6.) über den Stellenwert des Fußballs in der argentinischen Bevölkerung. „Fußball: für Millionen Argentinier das einzige, was ihnen in dem Jammertal des politischen, sozialen und ökonomischen Zerfalls noch Glücksgefühle vermitteln konnte (…) Mitten in der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise der Geschichte Argentiniens hatte in diesen ersten 13 WM-Tagen ein kurzer, aber heftiger Boom eingesetzt. Das Nachtleben von Buenos Aires, das die jahrelange Rezession gnadenlos ausgelöscht hatte, flackerte zur Geisterstunde plötzlich wieder auf. Der Lärm in den Kneipen wollte bis in den Morgengrauen nicht verstummen. Schlaftrunken trollten sich die Unverwüstlichen nach den Spielen der Vorrunde vom Morgenkaffee in der Bar geradewegs zur Arbeit. Nach Monaten, gar Jahren der Dürre hatte mancher Gastwirt beim Kassensturz endlich wieder einmal Grund, sich die Hände zu reiben. Dank der WM (…) Fußball ist für den Südamerikaner eine ungleich demokratischere Angelegenheit als alle zivile Politik. Die Regeln sind für jedermann gleich. An Sieg und Niederlage haben alle gleichermaßen teil. Die Reichen können den Armen, wie ansonsten immer und überall in dieser ungerechten Welt, den schönsten Happen nicht wegschnappen. Und auch die Frustration wird gleichmäßig verteilt. Demokratisch auch, weil ihre Länder auf dem Rasen wie nirgendwo sonst mithalten können: auf gleicher Höhe mit der Ersten Welt (…) Das Stückchen Stoff verkörperte bis Mittwoch früh die Hoffnung, dass die Nation, die wirtschaftlich und finanziell am Ende ist, der ganzen Welt ein weiteres Mal den Meister zeigen würde.“

Die argentinische Tageszeitung Clarín (13.6.) zum selben Thema. „Die Tränen von Batistuta berührten sogar die Großmütter, die sich um ihre Rente sorgen. Die Familienväter fragten sich, wie sich die nationale wirtschaftliche Situation verändern soll, wenn noch nicht mal der Kopfball von Sorín den Weg ins Tor findet. Die Mütter bemerkten, dass die Nationalmannschaft – wie ihr Haushalt – nicht bis zum Ende des Monats ausreichen wird. Die Jugendlichen, in Zeiten, in denen sie von der Furcht vor der Unsicherheit und Geldmangel geprägt sind, verstanden, dass sie ab jetzt noch nicht mal die Illusion der Weltmeisterschaft haben werden.“

Cesar Luis Menotti (FR 25.5.). “Die Kassen des Staates sind so leer wie die der Vereine. Schuld tragen die Leute, die die Macht an sich gerissen haben, die Klubvorstände und die regierenden Politiker. Diese herrschende Klasse hat nicht das geringste Empfinden für die Wünsche und Hoffnungen der Menschen und wittert überall nur einträgliche Geschäfte – natürlich nur solche, von denen allein sie profitiert und bei dem die wichtigsten Sektoren der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Diese Machthaber haben den Fußball pervertiert, von einem Fest zu einer kriegerischen Handlung. Fast überall in Lateinamerika werden neuerdings die Austragungsorte in militarisierte Zonen verwandelt. Es kommt immer häufiger zu Gewaltexzessen auf den Tribünen und rund um die Stadien. Für uns Lateinamerikaner ist das ein sinnfälliger Ausdruck unserer tragischen Realität. Aber die politische Klasse und die Präsidien der Vereine leugnen die Ursachen dieser Gewalt. Sie machen alle Fußballanhänger dafür verantwortlich, obwohl jeder weiß, dass der Radau von kleinen Randgruppen ausgeht, deren Drahtzieher bekannt sind. In Lateinamerika erleben wir das, was man Globalisierung nennt, anhand solcher Entwicklungen: Wir erleben in einer von ökonomischen Machtinteressen diktierten Welt eine unfassbare Abwesenheit des Staates. Er kommt seiner Funktion nicht mehr nach, den gesellschaftlichen Institutionen – wie etwa Fußballvereinen – einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sie sich entwickeln können. Und er organisiert nicht mehr die lebenswichtigen Bereiche wie Erziehung, Gesundheit und Sicherheit. Der Staat überlässt das Feld jenen, die sich an keine Regeln mehr halten. Das zerstört die Gesellschaft – und den Fußball. So erweist sich die Großartigkeit des Fußballs auf beklemmende Weise: Indem wir seinen Niedergang beobachten, erinnert uns der Fußball daran, dass wir, geblendet vom Glanz einer WM, nicht den Zustand der Welt aus den Augen verlieren dürfen.“

Delikates offenbarte der argentinische Internationale Diego Simeone der englischen Tageszeitung Observer (19.5.), indem er nun zugab, die Rote Karte für David Beckham beim WM-Match 1998 absichtlich provoziert zu haben: „Ich verwickelte ihn in einen Zweikampf, und wir gingen beide zu Boden. Als ich versuchte aufzustehen, trat ihr mich von hinten. Und ich denke jeder hätte versucht, in diesem Spiel daraus Kapital zu schlagen. Wenn man nicht jede Gelegenheit nutzt, die sich einem bietet, hat man verloren. Abgesehen von der politischen Geschichte, ist es das Verlangen aller Länder, England zu schlagen. Das Spiel ist ein Klassiker. Und wir spielen es auch als Klassiker, da wir uns alle bewusst sind, wie glücklich wir unser Land mit einem Sieg machen können.“

Uwe Marx (FAS 12.5.) portraitiert den Stürmerstar Gabriel Batistuta: “Dieser unersättlich witternde Torjäger hat auch in den Einsätzen für sein Land nachzählbat Maßstäbe gesetzt. Batistuta hängte in den vergangenen Jahren jeden anderen Spieler, von Mario Kempes bis Diego Maradona, in der Torstatistik locker ab. Und das, obwohl er unter Nationaltrainer Daniel Passarella mal ein ganzes Jahr nicht spielen durfte. Passarella wollte, dass er sich die Haare schneiden lässt. “No!”, sagte Batistuta empört. Das würde er nur tun, wenn ihn seine Frau Irina darum bitten würde. Tat sie aber nicht, also wartete Batistuta, bis Passarella gehen musste. Danach spielte und traf er wieder. Bis heute 56mal in 75 Partien.”

Jorge Valdano (FAZ 8.5.) – argentinischer Ex-Nationalspieler, Weltmeister 1986 sowie heutiger Generaldirektor von Real Madrid – über den Stil der argentinischen Mannschaft: “Argentinien ist keine typisch südamerikanische Mannschaft, vielmehr eine europäische Mannschaft mit südamerikanischen Spielern. Diese haben sich in den besten europäischen Mannschaften weiter ausgebildet und werden in der Nationalelf eine europäische Mannschaftsdisziplin haben. Es ist eine sehr kompakte Gruppe von Spielern, die schon in der Angriffsreihe starke Pression auf den Gegner ausüben. Außerdem fühlen sie sich ihrem Land sehr verpflichtet. Sie wollen ihren Landsleuten in deren schwieriger Situation jetzt eine Freude machen.”

Markus Deggerich (Spiegel Online 19.4.) hat in Argentinien hautnah Fußballeuphorie erlebt. “Nach dem Sieg über Deutschland kann Argentinien die WM kaum erwarten”. Doch hat dieser Sport auch eine politsche Bedeutung: “Gerade jetzt in der Krise gilt Deutschland vielen Argentiniern als ein Vorbild. Ihr seid doch auch wieder hochgekommen ist eine Standardformel und dass das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder einherging mit dem ersten deutschen WM-Sieg 1954 in Bern gilt den Argentiniern als Symbol. Der vorsichtige Hinweis, dass der Vergleich mit dem von den westlichen Siegermächten politisch und ökonomisch gewollten (west-)deutschen Kraftwerk im Kalten Krieg mit dem zur Zeit ziemlich nackt und allein dastehenden Argentinien etwas hinken könnte, wird hier weggewischt. Für das geschundene Selbstbewusstsein kommt die WM gerade recht. Der Favorit Argentinien soll den Menschen Zuhause das Gefühl zurückgeben: Wir sind noch wer (…) Am Tag des Spiels demonstrierten wieder Tausende in der Innenstadt vor den Banken lautstark gegen ihre Regierung. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn löste sich der Zug auf, sie tauschten ihre Protestplakate gegen die Nationalfahne (…) Am Tag des Spiels saßen, egal ob im Büro oder in der Kneipe, arm und reich und rechts und links gemeinsam vor dem Fernseher (…) Argentinien sehnt sich nach der WM. Bereits in der Vorrunde erwartet die Südamerikaner eine besonders pikante Auseinandersetzung mit England, seit dem Falkland-Krieg von 1982 mit Großbritannien ein Reizwort im Pampa-Staat. Die geschundene nationale Seele erhofft sich beim Kreuzweg durch die aktuelle Krise Linderung durch ihre Lieblingsdroge.“

Till Schwertfeger (Spiegel Online 17.4.) über den öffentlichen Erwartungsdruck in Argentinien: “Durch den souveränen Durchmarsch in der südamerikanischen WM-Qualifikation – nur eine Niederlage in 18 Spielen (gegen Brasilien) – ist die Erwartungshaltung auf den Straßen von Buenos Aires und Mar del Plata für die Titelkämpfe in Japan und Südkorea aber jetzt erst recht wieder enorm hoch. In dem Land, in dem das Wirtschafts- und Finanzsystem zusammengebrochen und die politischen Verhältnisse wacklig sind, ist der Fußball das Opium fürs Volk und das Spiel der Seleccion der größte Kick.”

Michael Horeni (FAZ 17.4.) über Leverkusener Dominanz in der deutschen Nationalelf: “Die bayerische Dominanz, die noch bei der vergangenen und vollständig missratenen Europameisterschaft vorherrschte, hat sich vor dem letzten und wichtigsten Testspiel vor der Nominierung des WM-Kaders jedenfalls verflüchtigt. Wir Leverkusener haben dieselbe Rolle wie die Spieler von Bayern, Dortmund und Bremen, sagt Nowotny in über Jahre erlernter Bayer-Bescheidenheit. Tatsächlich steht aber allein Kapitän Kahn noch für den Münchner Machtanspruch, der in der Nationalelf über Jahre hinweg ganz selbstverständlich erschien. Der unauffällige Verteidiger Thomas Linke, der nach neunmonatiger Verletzungspause noch nicht recht in Tritt gekommene Mittelfeldspieler Jens Jeremies sowie der Null-Tore-Stürmer Jancker sind gegen Argentinien die letzten Vertreter des erfolgreichsten deutschen Klubs, der noch vor einem Jahr als FC Deutschland gefeiert wurde – und ob der zuletzt verletzte Mehmet Scholl, die kreative Bayern-Kraft, bis zur WM in Form kommt, ist die Frage.”

Christoph Kieslich (taz 17.4.) erläutert den argentinischen Stil am Beispiel des Matches gegen Kamerun: “Der 2:1-Führungstreffer gegen Kamerun steht stellvertretend für den Hochgeschwindigkeitsfußball der Südamerikaner. Keine zehn Sekunden benötigte der Ball von der eigenen Strafraumgrenze über Veron, Claudio Lopez und Caniggia bis zum Torschützen Pablo Aimar (…) Gleichzeitig blieb beim Spiel gegen den Afrika-Cup-Sieger nicht verborgen, wo der Kern der Probleme liegt: Fast traditionell geben die Torhüter keine überzeugende Figur ab. Bielsa testete in der Qualifikation nicht weniger als vier Schlussmänner. Derzeit besitzt German Burgos von Atlético Madrid die besten Karten im Trauerspiel.”

Diego Placente, argentinischer Nationalspieler in Diensten Bayer Leverkusens, in einem Interview mit der FAZ (17.4.) über Fußball-”Festtage” in Argentinien: “Manchmal mussten wir vor den Abendspielen einen Mittagsschlaf halten. Die Zimmer waren in meinem damaligen Verein River Plate im Stadiontrakt, und man konnte keine Auge zumachen. Die Fans waren teilweise vier Stunden vor dem Anpfiff da und machten so einen Lärm, dass die Wände in den Zimmern wackelten. Diese Stimmung nahmen wir ins Spiel mit. Wenn wir dann auch noch drei oder vier zu null führten, begannen wir mit Beinschüssen bei den gegnerischen Spielern. Wenn die meisten gelangen, war man für die restliche Woche der Champion.”

Christian Bahr (FR 16.4.) über das Gewaltproblem: “In den Knochen steckt der Fußballnation noch immer der Schrecken des blutigen Wochenendes zu Beginn der Liga-Rückrunde. Drei Tote am Rande von drei Spielen in Buenos Aires, durch Kopfschüsse oder Flaschenwürfe getötet, alarmierten den argentinischen Präsidenten Eduardo Duhalde. Die Regierung drohte, die Saison abzubrechen, falls der nationale Fußballverband Afa nicht die Gewaltexzesse an den Wochenenden in Griff bekomme. Auflagen für die Sicherheit wurden verschärft, Eintrittspreise schließlich drastisch gesenkt. Doch erst als der 14-jährige Sebastían Garibaldi, Anhänger des Clubs Estudiantes in La Plata, nicht mehr aus dem Koma erwachte und an den Folgen einer Schlägerei starb, vollbrachten die argentinischen Fußballprofis ein nationales Wunder. Die Kicker der beiden Erzrivalen aus Buenos Aires, Boca Juniors und River Plate, ließen sich vor ihrem Lokalderby gemeinsam fotografieren. Die weltberühmte Mannschaft des Armenviertels Boca und die Meisterelf der Millionäre aus dem wohlhabenden Norden riefen vereint zum Frieden in den Stadien auf, Arm in Arm, auf einem Plakat vereint. Seitdem ist es ruhiger geworden in den Stadien.”

Martín E. Hiller (Tsp 16.4.) über die wirtschaftlichen Probleme der Klubs: “Im Sport ist es nicht anders als in der Politik: Die Klubs erzielen zwar hohe Einnahmen aus TV-Geldern und vor allem Spielertransfers. Aber auch bei den Vereinen fließt das Geld in erster Linie in die Taschen der Drahtzieher. Und das sind Entdecker, Vermittler und Vereinsbosse.”

Michael Wulzinger (Spiegel 15.4.) über den Ausverkauf argentinischer Fußballer nach Europa: “Wie kein anderer Club im Land lebt River Plate vom Verkauf seiner unzähligen Talente – allein seit Anfang 1999 flossen auf diese Weise mehr als 160 Millionen Dollar. Freilich: Auch für die anderen Vereine hat sich der Export begabter Kicker nach Europa zu einem profitablen Geschäftszweig entwickelt. Eine große Nachwuchsabteilung zu unterhalten kann in Zeiten des globalisierten Fußballs so einträglich sein wie eine Diamantenmine (…) Besonders bei den Spitzenclubs in England, Italien und Spanien gelten die Edelkräfte vom Río de la Plata als erste Wahl. Denn einerseits bestechen die Spieler durch Ballfertigkeit, körperliche Robustheit und einen ausgeprägten Sinn für taktische Finessen. Andererseits finden sie sich, im Gegensatz zu den oft kapriziösen Brasilianern, weit weg von Südamerika leicht zurecht – viele der Fußball-Emigranten haben europäische Wurzeln. Dass die Clubs aus Buenos Aires, Córdoba, Rosario oder Mendoza ihre Spieler selbst bei durchschnittlichen Angeboten aus dem Ausland nicht halten können, ist in vielen Fällen selbst verschuldet. Denn Misswirtschaft, Korruption und Durchstechereien in den Vorstandsetagen haben viele Vereine an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht (…) Vermittler führen schwarze Konten in Uruguay, fälschen für ihre Kicker EU-Pässe, lassen die Eltern Minderjähriger sittenwidrige Knebelverträge unterzeichnen und unterhalten enge Verbindungen in die Politik. Die Schattenwelt des argentinischen Fußballmarktes hat zahlreiche Facetten. In vielen Fällen besitzen nicht die Clubs die Transferrechte an den Spielern, sondern windige Berater oder private Investoren – meist haben sie die Spieler mit läppischen Beträgen geködert.“

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