Ballschrank
Ein Ultimatum oder die längste Trainerentlassung der Welt
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| Donnerstag, 25. März 2004
„die einen nennen es Ultimatum, für die anderen ist es die längste Trainerentlassung der Welt“ (BLZ) – Andreas Thom, Assistent und vorläufiger Nachfolger, „gilt als glänzender zweiter Mann, er ist der Harry. Für ein paar Spiele muss er nun den Derrick geben“ (BLZ) – “Berlin braucht Hertha nicht, aber Hertha braucht Berlin” (Tsp)– „Hertha und Huub, das hat einfach nicht gepasst“ (FR)
of Hertha BSC Berlin bekommt von Werder Bremen den Tarif bekannt gegeben (1:6) und entlässt Trainer Huub Stevens; was schreiben die Zeitungen? Die SZ hält die Entlassung für „das späte Eingeständnis eines Fehlers“: Berlins Manager Dieter Hoeneß hielt lange an seiner Wahl Stevens fest – trotz sportlichen Fehlschlag und trotz gegensätzlichen Ratschlägen der Presse. Die BLZ würde sich nun Besserwisserei gerne verkneifen: „Stevens, Hoeneß und Hertha BSC – die einen nennen es Ultimatum, für die anderen ist es die längste Trainerentlassung der Welt“ und vergießt Krokodilstränen über das „Ende keiner Ära“. Die FAZ erkennt bei der Pressekonferenz den dünnhäutigen Dickkopf wieder: „Daß Stevens in Bremen die Leistung seiner Spieler schönredete und einen Rücktritt ausschloß, paßt ins Bild des Mannes mit steinerner Fassade: Er wollte keine Schwäche zeigen. Unter seinem Scheitern wird der verkniffene Ehrgeizling, der als Trainer noch nie vorzeitig aus einem Vertrag entlassen wurde, noch Monate zu leiden haben.“
Wer wird Nachfolger Stevens’ bei Hertha? Die NZZ meint, dass dem Klub beim Verfassen der Stellenanzeige die Feder geführt werden muss: „Der Mann soll den Erfolg zurückbringen, er muss nicht auf dem Ku‘damm singen.“ Den Berlinern wird nachgesagt, beim Vorstellungsgespräch auf Redekunst, Scheitel und Garderobe zu achten, auf Maßanzug, Seidenkrawatte und rahmengenähte Schuhe.Vorläufig hat man Assistent Andreas Thom auf die Trainerbank gezerrt – oder wie Thom meckert: „mit der Aufgabe konfrontiert“. Die BLZ fühlt mit ihm: „Thom gilt als glänzender zweiter Mann, er ist der Harry. Für ein paar Spiele muss er nun den Derrick geben.“
Berlin braucht Hertha nicht, aber Hertha braucht Berlin
Sven Goldmann (Tsp 5.12.) schreibt ein Soziogramm der Hauptstadt: „Der Berliner leidet nicht, der Berliner arrangiert sich. Seine Ideologie ist der Pragmatismus. In Berlin wird ein schwuler Bürgermeister nicht nur akzeptiert, sondern geschätzt, ja hofiert. Berlin lebt gut mit den Nachfolgern der Mauerbauer in der Regierungskoalition und mit seinem zurzeit so erfolglosen Fußballverein. Niederlagen bringen hier niemanden um den Schlaf. Der Gelsenkirchener schließt seine Schalke-Mannschaft ins Abendgebet ein, der Berliner rührt bei Siegen anerkennend die Hände zum Beifall. Bedingungslose Loyalität ist ihm fremd, spätestens seit dem Bundesligaskandal in den siebziger Jahren, als Herthas Profis sich für Niederlagen bezahlen ließen. In Kaiserslautern würde der Bürgermeister zur Not sein Büro als Umkleidekabine zur Verfügung stellen. Wann hat man Klaus Wowereit zuletzt auf der Ehrentribüne des Olympiastadions gesehen? Herthas Manager Dieter Hoeneß ist Schwabe, und er hat die Distanz der Berliner wechselweise als Herzlosigkeit und Undankbarkeit interpretiert. Hoeneß hat für Hertha in den vergangenen sieben Jahren ein deutsches Spitzenteam zusammengekauft, er hat dem Verein ein seriöses Image gegeben und ein runderneuertes Stadion, es wird im kommenden Jahr fertig. Und wie wird es ihm gedankt? Mit freundlicher Zustimmung in Zeiten des Erfolges, mit Häme und Gleichgültigkeit in der Krise. Warum nur wird seine Zuneigung zu dieser Stadt nicht erwidert? Berlin heischt nicht um Liebe und Bewunderung, Berlin setzt beides als Selbstverständlichkeit voraus. Wenn jemand der Stadt seine Zuneigung versagt, reagiert Berlin nicht beleidigt, sondern gleichgültig, im besten Fall verwundert oder mitleidig. Selbst schuld. Wer hier nicht gut genug ist, der fällt durch. Als vor ein paar Jahren das SchillerTheater geschlossen wurde, heulten die Künstler und Feuilletons in ganz Deutschland auf. Den Berlinern war es herzlich egal. Hingegangen ist eh keiner mehr. Genauso sieht es mit Hertha BSC aus. Sollen sie halt besser spielen, die Herrschaften, dann werden die Berliner Fußballfans auch wieder ins Olympiastadion kommen. Berlin braucht Hertha nicht, aber Hertha braucht Berlin (…) Es kommt nicht von ungefähr, dass in Berlin so viele Bayern-München-Fans wie in keiner Stadt außerhalb Bayerns leben. Der Berliner bewundert die Münchner Eleganz und Fußballkunst. Im Fußball, da darf München ruhig die Hauptstadt sein.“
Wer soll neuer Trainer bei der Hertha werden? Ein Tsp-Aufruf zur Abstimmung
Martin Hägele (NZZ 5.12.) kommentiert die Entlassung Stevens’: „Nach anderthalb Dienstjahren in Berlin wurde aus Huub Stevens jetzt doch der „fliegende Holländer“; endlich und viel zu spät, wie viele Zeitungen in der Hauptstadt das Ende des Hertha-Coaches kommentieren. Aus den Nachrufen auf den 50-jährigen Fussball-Lehrer lässt sich neben viel Erleichterung und mancher Häme auch jene Erkenntnis herauslesen, dass es einfach nicht funktioniert hat zwischen dem knurrigen und introvertierten Niederländer und dem Berliner Gemüt, das so gern aus sich rausgeht und mehr aus sich macht. Auf Schalke, dem ehemaligen Arbeitgeber, hatte die Chemie gestimmt zwischen dem Publikum und der Leitfigur Huub, doch einer wie Stevens kann nicht einfach raus aus dem Trainingsanzug, eine Krawatte umbinden und sich vorm Spiegel in jenen internationalen Fussballchef verwandeln, wie man sich ihn vorgestellt hatte bei dem ganz auf Champions-League-Denkart ausgerichteten Klub aus der Hauptstadt. Die Schalker sind übrigens die Lieblingsgegner der Hertha-Fans, und die mögen die Berliner auch nicht. Manager Hoeness muss nun aufpassen, dass es beim nächsten Stühleräumen nicht auch ihn erwischt – denn Hoeness hatte bis zuletzt geglaubt, dass es nach mehreren Abreibungskämpfen am Ende doch zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führen könnte. Stevens war sein Mann, war seine Idee gewesen – und ein Hoeness kämpft für seine Überzeugung auch gegen eine Übermacht an. Nach den drei jüngsten Niederlagen konnte auch Hoeness keine Argumente oder Emotionen mehr liefern für Stevens; schliesslich hat man in Berlin ein warnendes Beispiel aus dem letzten Winter vor Augen, als Bayer Leverkusen durchgereicht wurde bis in die Abstiegszone und es viel zu lange dauerte, ehe sich der Konzernklub von dem in dieser bedrohlichen Situation psychisch aufgebrauchten Coach Toppmöller trennte.“
Den vertrauensvollen Kontakt zur Außenwelt verloren
Peter Heß (FAZ 5.12.) tröstet: “Stevens hatte alles versucht. Der Einsatz von 23 Feldspielern zeigt, wie sehr der Trainer rotierte. Die Abwärtsentwicklung beschleunigte er dadurch nur. Die Rolle des coolen, überlegten Fußballstrategen, sein Markenzeichen, spielte Stevens schon länger nicht mehr überzeugend. Weder in der Öffentlichkeit, wo er als übelgelaunter Gesprächspartner die Medien verschreckte, noch vor der Mannschaft, die er durch seine Sprunghaftigkeit in der Personalwahl verunsicherte. Daß er ausgerechnet Nationalstürmer Fredi Bobic aus disziplinarischen Gründen ausmusterte, wirkte auch nicht belebend auf den Rest der Mannschaft. Der einsame Streiter, der nach eigenen Angaben gerne eine Mauer um sich zieht, hatte den vertrauensvollen Kontakt zur Außenwelt weitgehend verloren. Deswegen ist Huub Stevens kein schlechter Trainer, er gehört sogar zu den besseren, das hat er oft bewiesen. Die Station Hertha wird für den Niederländer kein Wendepunkt zum Schlechteren in der Karriere werden. Ein bißchen Ruhe und Abstand gewinnen, ein bißchen zu sich selbst zurückfinden: dann geht es schon weiter – und wenn Stevens sich nicht mehr so einmauert, um so besser.“
Sven Goldmann (Tsp 5.12.) zählt die Narben: „Am Ende gibt es nur Verlierer: Huub Stevens, weil er über Wochen in aller Öffentlichkeit vorgeführt wurde als ein Mann, der trotz aller erdenklicher Unterstützung ein sportliches Problem nicht in der Griff bekommen hat. Die Mannschaft, weil sie mittlerweile so stark verunsichert ist, dass aus dem anfänglichen Kokettieren mit dem Abstiegskampf längst Wirklichkeit geworden ist. Und Dieter Hoeneß, weil er seinen Verein beharrlich und resistent gegen jede Form von Beratung in die Krise manövriert hat.“
Hertha und Huub, das hat einfach nicht gepasst
Reinhard Sogl (FR 5.12.) schreibt Dieter Hoeneß ins Stammbuch: „Hertha und Huub, das hat einfach nicht gepasst. Nicht an Stevens so lange festgehalten zu haben, war ein Kardinalfehler, sondern die Verpflichtung des Niederländers als solche. Dass Stevens ein Mann vom Fach ist, steht außer Frage. Doch ebenso, dass er vom ersten Tag an seines Engagements in Berlin einen überaus schweren Rucksack zu tragen hatte, weil er nicht nur den erfolgreichen Interimstrainer Falko Götz ablöste, sondern für die nicht als zimperlich bekannten Hertha-Fans als langjähriger Coach von Schalke 04 gewissermaßen das Böse verkörpert hatte, der sich dazu noch mit den Galionsfiguren anlegte. Die latente Gefahr unterschätzt zu haben, dass Stevens schneller als andere Trainer Volkes Zorn zu spüren bekommen würde, muss sich Hoeneß vorwerfen lassen. Jetzt steht auch der Manager in der Kritik, der eine Machtfülle besitzt wie kaum ein Zweiter in der Liga. Vielleicht sollte die Firma Hoeneß BSC, wie der Berliner Bundesligist von den Hauptstadtgazetten bezeichnet wird, künftig auch in der Geschäftsstelle mehr das Mannschaftsspiel pflegen.“
Christof Kneer Michael Jahn (BLZ 5.12.) stellen uns Andreas Thom wor: „Es hat eine gewisse Ironie, dass nun ausgerechnet Andreas Thom mit den vorübergehenden Reparaturarbeiten beauftragt worden ist. Auch an seiner Person lassen sich die personellen Verwirrungen ablesen, die im Laufe der Jahre über Hertha gekommen sind. Als Thom im Januar 1998 für 900 000 Mark von Celtic Glasgow zu Hertha kam, gehörte das zur Oststrategie des Vereins; mit Spielern wie Thom, Herzog, Wosz, Tretschok oder später Rehmer wollte der Klub in beiden Teilen der Stadt ankommen. Nur wurde die Ostphase kurz darauf von der Wir-sind-jetzt-ein-Weltklub-Brasilien-Phase abgelöst, worauf die Wir-kaufen-jetzt-übrigens-Typen-Phasen folgte. Nun ist es an Thom, das schwer Mischbare vorübergehend zu mischen. Man muss wohl aus dramaturgischen Gründen hoffen, dass Thom mindestens bis übernächsten Sonnabend auf Herthas Bank Platz nimmt. Dann kommt der TSV 1860 mit Falko Götz, mit dessen Schicksal das Schicksal des Andreas Thom stets eng verbunden war. Als Götz und Dirk Schlegel 1983 in Belgrad in den Westen flohen, rückte stattdessen ein 17-Jähriger in den Kader des BFC Dynamo: Andreas Thom.“
sid-Interview mit Dieter Hoeneß
Die Antrittsrede Andreas Thoms Tsp
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