Ballschrank
die Entstehung von Gelben und Roten Karten
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| Donnerstag, 25. März 2004
Christian Eichler (FAZ 1.6.) über die Entstehung von Gelben und Roten Karten. “Rudolf Kreitlein kann sich noch gut erinnern, wie der ganze Schlamassel begann. Vor ihm stand der riesige Argentinier Rattin, 32 Zentimeter größer als der Schneidermeister aus Stuttgart-Degerloch, und weigerte sich, den Platz zu verlassen. Sieben Minuten lang. Das war im Juli 1966, bei der WM in England. Noch am selben Abend sagte Schiedsrichter-Chef Ken Aston zu Kreitlein, so gehe es nicht weiter. Auch beim deutschen 4:0-Sieg gegen Uruguay hatte es Schwierigkeiten gegeben, zwei Südamerikaner vom Platz zu bekommen; der eine, Troche, ging erst, nachdem er Uwe Seeler noch eine Ohrfeige verpasst hatte. Beim Warten an einer Ampel hatte Aston die rettende Idee: Sie hieß gelb und rot und kommt seit der WM 1970 als leuchtender Karton zum Einsatz. Dass Fußball à la carte reichlich Anwendung finden würde, jedenfalls bei argentinisch-englischen Auseinandersetzungen, lag an der anderen Spätfolge jener verbissenen Partie – einem bleibenden bilateralen Fußball-Zerwürfnis. Während Kreitlein unter Polizeischutz vom Platz musste, verhinderte der englische Trainer Alf Ramsey noch auf dem Feld des Wembley-Stadions, daß seine Spieler vor den Augen der Königin ihre Trikots mit diesen Tieren tauschten. Die Südamerikaner fühlten sich ihrerseits verschaukelt, und das in kontinentaler Solidarität. In beiden Viertelfinalen gegen europäische Teams von europäischen Schiedsrichtern mit Platzverweisen bestraft, dazu Brasilien schon in der Vorrunde gescheitert, weil tretende Europäer Treibjagd auf Pelé gemacht hatten – so entstand 1966 eine lateinamerikanische Dolchstoßlegende, genauso zäh wie die der Deutschen mit dem Wembley-Tor.”
Thomas Kilchenstein (FR 28.5.) über die WM 98. “Wir können uns noch alle gut und mit einigem Grausen an diesen Auftritt erinnern. Damals, vor vier Jahren, als Hans-Hubert Vogts bei Waldemar Hartmann im Fernseh-Studio saß, der kleine Berti, Wut entbrannt, weil er nicht verlieren konnte und finstere Mächte am Werk vermutete. 0:3 hatte Deutschland bei der WM in Frankreich gerade gegen Kroatien verloren, und Vogts, persönlich beleidigt, wählte die folgenden, bald Kultstatus erlangenden Worte: „Vielleicht ist einigen der deutsche Fußball zu erfolgreich. Ich weiß nicht, ob es eine Anordnung gibt.““
Erik Eggers (Die Welt 27.5.) über die WM-Historie. „Dass irgendwann einmal die halbe Welt bei einer Fußball-Weltmeisterschaft mitfiebern würde war vor 72 Jahren eine wahrlich absurde, ja utopische Vorstellung. Als 1930 in Uruguay das erste WM-Spiel angepfiffen wurde, rangen nur 13 Nationen um den heute so begehrten Titel. Und mit Jugoslawien, Frankreich, Rumänien und Belgien reisten lediglich vier europäische Teams an, die gemeinsam mit einem Schiff kamen und im Vergleich zu Mannschaften wie Spanien, Italien oder England bestenfalls zweite Wahl darstellten. Und dennoch schäumte die Freude über im kleinen Staat Uruguay, als die Gastgeber vor 100.000 Zuschauern einen 4:2-Finalsieg über das große Argentinien feierten (…) Als 1930 das erste WM-Turnier tatsächlich anstand, hatte auch die Weltwirtschaftskrise viele europäische Mannschaften von einer strapaziösen Schiffsreise ins ferne Uruguay abgehalten. Die Südamerikaner inklusive des Titelverteidigers revanchierten sich vier Jahre später mit einem Boykott der WM 1934 in Italien, zu dessen Qualifikationen bereits 30 Nationen antraten. Das erste Mal nahm mit Ägypten eine afrikanische Mannschaft teil bei der WM, die vom faschistischen Italien als Propagandaveranstaltung missbraucht wurde. Als Italien dann Weltmeister geworden war, sprachen viele Beobachter von Manipulation und Schiedsrichterbestechung, wozu besonders die beiden Spiele gegen Spanien und das Finale gegen die Tschechoslowakei Anlass gaben (…) Das für 1942 in Deutschland geplante vierte Turnier verhinderte Hitlers Überfall auf Polen 1939. Die Entwicklung der Fußball-Weltmeisterschaft zu einem globalen Ereignis konnte aber auch der Zweite Weltkrieg nur bremsen, nicht mehr verhindern.“
Walther Lücker (FR 27.5.) über die WM 94 in den USA. “Vier Jahre nach der fantastischen WM in Italien notierten die Chronisten schon bald nach dem Schlusspfiff in den USA eher gelangweilt: großartige Veranstaltung, aber unter dem Strich vergleichsweise arm an wirklichen Höhepunkten, kaum sportliche Fortentwicklung. Und dennoch, die WM im Niemandsland des Fußballs hatte etwas. Mag die Zeit die Erinnerung auch ausbleichen, es gab zwischen West- und Ostküste der USA genug geschichtsträchtige Höhepunkte. Die Amerikaner, zumeist nicht einmal des Regelwerkes kundig, machten Fußball zu einem Happening, zu einer riesigen Barbecue-Party. Viele feierten noch vor den Stadien, als drinnen längst der Ball gespielt wurde. Egal, Hauptsache die Hot-dogs platzen nicht.
Dieter Hochgesand (FR 25.5.) war bei Deutschlands letztem WM-Titel 1990 in Italien vor Ort. „Der dritte Titelgewinn für ein DFB-Team nach 1954 und 1974 war für Beckenbauer besonders süß, weil er manifestierte, dass der einstige Kicker auch als Macher den Olymp zu besteigen in der Lage ist. Er hatte erstaunt, manche gar brüskiert mit der ständigen Behauptung mir persönlich ist der WM-Titel völlig egal. Aber er hatte diese seiner oft so eigenwilligen Aussagen auch dankbar interpretieren lassen. Ja, Weltmeister werden schon, sogar mit allen Fasern seines Herzens, aber eben für die Mannschaft, für den DFB, die deutschen Fans usw. usw. Beckenbauer als der selbstlose, gute Mensch, der reine Altruist? Keineswegs. Nur: Sein Image, seinen Marktwert, sein Ego glaubte er nicht vom Titelgewinn abhängig machen zu müssen.“
Dieter Hochgesand (FR 24.5.) erlebte die WM 86 al Autor der Journalist vor Ort mit. “Ab nach Mexiko mit Trallala (Mexiko mi amor …) und der von Beckenbauer ausgegebenen Parole: Durchsetzungsvermögen. Der Mann, dünnhäutig und feinfühlig, reiste im Bewusstsein, dass es im deutschen Fußball fünf vor zwölf ist, die Öffentlichkeit dennoch von ihm ohne Wenn und Aber den Erfolg fordert. Dazu gab es Zoff im Quartier La Mansion Galindo, draußen bei Queretaro, dem Vorrundenspielort. Wo der Conquistador Cortez einst seine Geliebte Malinche verwöhnte, fühlten sich Beckenbauer, Rummenigge und Co. drangsaliert, nachdem der mexikanische Journalist Hirsch eine Handvoll Marketenderinnen gesichtet hatte und Bild die Sex-Nachricht schlagzeilte. Beckenbauer drohte Hirsch an den Hals zu gehen, Rummenigge verkündete den allgemeinen Presseboykott, ungerührt des Einwandes, dass nur aus jenem Verlagshaus so Unkeusches vermeldet wurde, bei dem er sich als Kolumnist ein Zubrot verdiente. Erst dem DFB-Delegationsleiter Egidius Braun war es nach intensiven Schlichtungsbemühungen inklusive eigenhändig zur Beruhigung intoniertem Klavierkonzert um Mitternacht zu verdanken, dass der Boykott zurückgenommen wurde (…) Halbfinale gegen Europameister Frankreich, der in einem mitreißenden Match Brasilien ausgeschaltet hatte. Wieder Frankreich, wie 1982 in Spanien. Wieder ein Sieg für die Deutschen. 2:0. Verdient, überzeugend aber gegen gehemmte Franzosen glanzlos. Beckenbauer war über den Berg. Seine durch Versagensängste genährte Aggression legte sich. Er näherte sich behutsam der Fähigkeit, zu differenzieren und sein Verhalten kritisch zu reflektieren. Dass da kaum Platz im Team für Ästhetik war, wurde ihm durch Erfolg erträglicher. Er wusste zu diesem Zeitpunkt sehr wohl, dass er dabei war, vieles zu lernen, von dem er nicht geahnte hatte, dass er es noch lernen muss.”
Dieter Hochgesand (FR 23.5.) erinnert sich an den Auftritt der Deutschen bei der WM 82. “Das 4:1 gegen Chile und selbst das als Nichtangriffspakt in die Annalen eingegangene 1:0 gegen Österreich, bei dem die Erzrivalen in der zweiten Halbzeit penetrant alles taten, um sich nicht weh zu tun und zu Lasten der belämmerten Algerier in die zweiten Finalrunde einzogen, setzte neue Energien frei: harscher Kritik wurde mit Hohn und Unverständnis begegnet, wütenden Fan-Protesten vor dem Hotel damit, dass Spieler von ganz oben mit gefüllten Plastiktüten warfen. Was nach überstandener Zwischenrunde folgte, war nicht nur für die DFB-Mannschaft der absolute Höhepunkt dieser WM: das Halbfinale in Sevilla gegen Frankreich. Mit seiner fast unerträglichen Spannung und Dramatik erreichte es den Erregungsgrad des Jahrhundertspiels bei der WM 1970 in Mexiko gegen Italien (3:4). Doch diesmal hatten die Deutschen das bessere Ende für sich. Französische Spielkunst gegen deutschen Kampfgeist ergaben einen höchst aufregenden Mix.”
Über die politischen Hintergründe der WM 78 berichtet Dieter Hochgesand (FR 22.5.). “Aus politischer Sicht war diese Weltmeisterschaft wohl die bedeutsamste. Eingepflanzt in eine Zeit, in der in Argentinien die Menschen von einer Militärjunta rücksichtslos unter Druck gestzt wurden, wo für Ansätze demokratischen Denkens und Handelns kein Platz war, wo Angst und Gewalt mit staatlich organisierter Folter und Mord dominierten, sollte nach dem Wunsch und dem Willen der Herreschenden der im Volk geliebte Fußball der Welt Normalität vortäuschen und den Beherrschten im gebeutelten Land ein Stück Lebensfreude als Beruhigungsmittel injiziert werden. Zumindest Letzteres gelang für eine Weile durch den enthusiastisch gefeierten argentinischen Titelgewinn (…) Während der WM schlugen dann die Wogen noch einmal hoch, bis hin in den Bundestag, als bekannt wurde, dass der ehemalige Nazi-Kampfflieger Oberst Rudel, damals noch bekennender und als solcher agierender Rechtsextremist, im deutschen Quartier zu Gast war. Die DFB-Offiziellen versuchten sich hinter der Behauptung zu verstecken, Rudel sei als Gast der argentinischen Luftwaffe aufgetaucht, die er Jahre zuvor hatte ausbilden helfen. So oder so blieb es eine immense politische Peinlichkeit, die weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus für Aufsehen sorgte.”
Dass Franz Beckenbauer schon in jungen Jahren ein „Grantel-Meister“ gewesen ist, belegt der Rückblick von Hans Eiberle (FR 18.5.) auf das legendäre Halbfinale der Deutschen gegen Italien bei der WM 1970: „Viel später erst war vom Spiel des Jahrhunderts die Rede. Wer das in die Welt gesetzt hat? Die Presse, steht in Franz Beckenbauers Buch Einer wie ich, ihr Urteil sei übertrieben, wie so oft. Weshalb schwärmen die Freunde des Fußballspiels noch 32 Jahre danach von diesem dramatischen Duell der Deutschen gegen die Italiener bis zum bitteren Ende im Semifinale der WM 1970 – und Beckenbauer nicht? Mag sein, dass der Perfektionist am Ball nicht begreifen mochte, wie zwei Dutzend der besten Fußballer in zwei Stunden mehr Fehler machen konnten als das ganze Jahr über. Vor allem aber: Ein Spiel ohne Beckenbauer – das beste des Jahrhunderts? So einen Blödsinn konnte nur einer der zahllosen ahnungslosen Journalisten erfunden haben. Ohne Beckenbauer? Der geniale Fußballkünstler, schon damals Inbegriff der Leichtigkeit des Seins auf dem Rasenrechteck, hat zwar mitgespielt, aber in der Verlängerung einer Schulterverletzung wegen mit am Körper fixiertem rechten Arm die Hand aufs Herz gelegt. Der Gentleman am Ball als Behinderter, grausam abgestraft vom Schicksal, das sich des Italieners Giacinto Facchetti bedient hatte. Fast tatenlos musste er mit ansehen, wie der Gegner immer noch eins drauf setzte.“
Der ehemalige TV-Kommentator (u.a. WM-Finals 1966 u. 1982) Rudi Michel (FR 17.5.) über die Verhältnisse bei der WM 66: “Mit dem Begriff Fairness sind andere auf dem Platz leichtfertig umgegangen. Fairplay schien ein Relikt aus einer anderen Zeit zu sein. Der Uruguayer Horacio Troche verpasste Uwe Seeler eine schallende Ohrfeige und musste deshalb vorzeitig in die Kabine. Der Argentinier Albrecht spielte Wolfgang Weber so übel mit, dass er ebenfalls früher zum Duschen durfte. Brutale Tritte der Portugiesen trafen Pelé, der schließlich mit einem Umhang als Robe am Spielfeldrand saß und sich schwor: Nie wieder Weltmeisterschaften. Das Aus für Pelé war gleichbedeutend mit dem Aus des Weltmeisters Brasilien. Tumulte gab es beim Spiel England – Argentinien (1:0), als der deutsche Schiedsrichter Kreitlein den Südamerikaner Antonio Rattin vom Platz schickte. Rattin verlangte nach einem Dolmetscher, weil er den Schwaben nicht verstand. Acht Minuten Zwangspause, Debatten in mindestens drei Sprachen. Londoner Bobbies geleiteten schließlich den Mann aus Buenos Aires in die Kabine; Taktvoll und mit Abstand, wie sich das gehörte.”
Rudi Michel (FR 16.5) beschreibt seine Eindrücke von der WM 62 in Chile: “Sportlich erlebte Südamerika ein Turnier der Taktiker – und Treter. Verstärkte Defensive lautete die Devise der Europäer. Schweizer Riegel und Italiens Catenaccio fanden auch bei den Deutschen lernfähige Nachahmer. Daraus resultierte schematischer Sicherheitsfußball, der die Schönheiten des technischen Spiels verdrängte (…) Zum Tiefpunkt des Turniers war die Treterei Chile – Italien
Rudi Michel (FR 15.5.) erinnert sich und uns an das Semifinale des WM-Turniers von 1958 zwischen Gastgeber Schweden und Deutschland sowie den Nachwirkungen: “18 Minuten vor Schluss verlor Erich Juskowiak beim Stand von 1:1 die Nerven, trat gegen Hamrin nach und flog vom Platz. Die Atmosphäre schien vergiftet, auf den Rängen rasten tobten die Zuschauer, auf dem Feld häuften sich die Fouls. Die 1:3-Niederlage der Deutschen war absehbar. Herberger ließ im Radio-Interview keinen Zweifel an der Berechtigung des Feldverweises und wurde danach von den Schweden als Gentleman-Trainer geachtet. Erst als das Mikrofon ausgeschaltet war, klagte er mir sein Leid im vertrauten Gespräch: Er hat mich um den Erfolg von vier Jahren Arbeit gebracht – in einer unbeherrschten Sekunde. Ressentiments führten nach dem Halbfinale zu einem bisher nicht gekannten Pressekrieg, der eskalierte, als die deutsche Expedition nach dem Spiel um den dritten Platz gegen Frankreich (3:6) sofort abreiste und auf das Fifa-Bankett verzichtete. Ein dunkler Punkt in der DFB-Chronik. Schwedische Medien sparten aber auch nicht mit Selbstkritik. Stockholm Tidningen schrieb entsetzt über ein Publikum, das überhitzt und überpatriotisch war durch einen planmäßig aufgeputschten Fanatismus. In Deutschland brach so etwas wie eine nationale Hysterie aus. Dümmlich und lächerlich die Reaktionen: Schwedenplatte von der Speisekarte gestrichen – Reifen von Autos mit schwedischen Kennzeichen zerstochen – Schwedens Fahne beim Reitturnier in Aachen zerfetzt (…) Fünf Jahre hat es gedauert, bis sich der deutsche und der schwedische Verband entschlossen, ein Länderspiel in Freundschaft auszutragen.”
Harald Maass (FR 13.5.) erinnert an die erste WM-Teilnahme Koreas 1954 in der Schweiz: “In ein paar Wochen beginnt in Korea und Japan die Fußball-WM. Zum ersten Mal wird das Turnier auf asiatischem Boden ausgetragen. Beide Länder haben Milliardenbeträge in die Veranstaltung investiert. Hochmoderne Fußballarenen erwarten die Sportler, für die Funktionäre und Journalisten stehen Luxushotels bereit. Zwischen den Spielstädten reisen die Teams mit Charterflugzeugen. Geschätzte 42 Milliarden Menschen werden das Spektakel im Fernsehen miterleben. Kaum einer davon wird sich vorstellen können, wie vor einem halben Jahrhundert Fußball in Asien aussah. Wir hatten kein Geld. Die Anzüge mussten wir auf Pump beim Schneider anfertigen lassen, erzählt Hong (damaliger Torwart des Teams, of) über die Reise in die Schweiz. Mehrere Tage waren sie unterwegs. In Kalkutta mussten sie einen Tag warten, bis der Propeller an dem Flugzeug repariert war. Als die Koreaner schließlich auf dem letzten Zwischenstopp in Rom landeten, waren sie bereits das Gesprächsthema der WM. Völlig erschöpft standen die jungen Asiaten in zerknitterten Anzügen da. Ob sie denn wüssten, wann die WM losgehe, fragte spöttisch ein italienischer Journalist. Sie wussten es nicht. Erst zehn Stunden vor dem Anpfiff ihres ersten Spiels erreichten die Koreaner Zürich.”
In der internen DFB-Geschichtsschreibung bezüglich der deutschen WM-Teilnahme 1938 vermisst Christoph Albrecht-Heider (FR 11.5.) kritische Töne: “Was in offiziellen DFB-Annalen wie auch noch in einem WM-Band von 1954, das ein Vorwort des Bundespräsidenten Theodor Heuss ziert, über die WM 1938 geschrieben ist, steht für die skandalöse Ignoranz, mit der im Nachkriegsdeutschland der Faschismus behandelt wurde. Nicht mal die Begriffe Faschismus, Nationalsozialismus oder NSDAP tauchen auf. Das faschistische Deutschland hatte sich Österreich 1938 einverleibt. Die Nazis befahlen daraufhin, dass in der deutschen Mannschaft bei der WM jeweils sechs Deutsche und fünf Österreicher spielen mussten. In besagtem WM-Buch werden die Nazifunktionäre nebulös mit parteigelenkten Kräften umschrieben. Fürs erste Spiel – die WM wurde im K.o.-System ausgetragen – gegen die Schweiz mischte Sepp Herberger, der 1936 Nerz als Reichstrainer abgelöst hatte, ein Sextett der berühmten Breslauer Elf mit einem Wiener Quintett. Der beste Österreicher seiner Zeit, Matthias der Papierne Sindelar, hatte sich geweigert, für die Nazis zu spielen. Er starb vor Ausbruch des Krieges zusammen mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Camilla Castagnolla unter nie geklärten Umständen – Selbstmord oder sogar ein Verbrechen? Am 4. Juni 1938 bestritten die Deutschen im Pariser Prinzenparkstadion vor 40.000 Zuschauern ein Auswärtsspiel. Eier, Flaschen, Tomaten flogen aufs Feld, nachdem die spielenden Repräsentanten des verhassten Nazi-Deutschland vor dem Anpfiff mit Heil Hitler gegrüßt hatten.”
Rudi Michel (FR 14.5.) über die deutschen Aussichten im Vorfeld des WM-Turniers 1954: “Anekdoten müssen nicht immer der Realität entsprechen, aber diese tut es: Als die DFB-Expedition mit dem Schnellzug Karlsruhe – Basel – Bern die Grenze passierte, stellten deutsche Zöllner bei der Passkontrolle hämisch die Frage: Was wollt ihr denn bei der WM in der Schweiz ? Die Fußball-Nationalmannschaft hatte damals kaum Kredit im eigenen Land und bei den Londoner Buchmachern konnte man keinen Penny auf West-Germany setzen. Das Minimalziel lautete damals wie auch 2002 wieder: Die Vorrunde überstehen und dann weitersehen (Trainer Sepp Herberger). Qualifiziert hatte sich die DFB-Auswahl eigentlich problemlos, aber ohne Glanz und Gloria, gegen Norwegen und das autonome Saarland, das mit seinem Verband 1950 noch vor dem DFB als selbstständiges Fifa-Mitglied zugelassen worden war. Ein kleines Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.”
Stefan Behr (FR 18.4.) über das Spiel Deutschland-Polen (1:0) bei der WM 1974, welches wegen der sintflutartigen Regenströme im Vorfeld als “Wasserschlacht von Frankfurt” in die Annalen einging. Ein bisschen Kalter Krieg war auch dabei. “Es hatte nichts genutzt, dass die damalige Achse des Bösen – sprich der Warschauer Pakt – im Vorfeld des Spieles alles getan hatte, um den Klassenfeind in die Schranken zu weisen. DDR-Beratung für Polen? fragten sich die Gazetten unter Berufung auf höchst vertrauliche und dementsprechend unüberprüfbare Informationen aus Ost-Berlin. Es war davon die Rede, dass eine so genannte Beobachtergruppe aus Ostdeutschland dem polnischen Trainer Kazimierz Gorski ein Brevier überreicht haben sollte, das die Achilles-Fersen der westdeutschen Kicker schonungslos offen legte. Der Beweis für die Existenz eines solchen Breviers: der 1 0-Sieg der DDR-Elf gegen das BRD-Team – Jürgen Sparwasser hatte in der Vorrunde der Bundesrepublik eine Art fußballerischen Sputnik-Schock versetzt (…) Der kruden kommunistischen Verschwörung hatten die Kapitalisten-Kicker um Kapitän Beckenbauer einiges entgegen zu setzen, beispielsweise die berüchtigte Frankfurter Flügelzange Grabowski / Hölzenbein. Und das Wetter, das als natürlicher Verbündeter den perfiden Plan absaufen ließ: Wie die Westdeutschen im Wasserballett zu schlagen sind, stand wohl im DDR-Papier nicht drin.”
Karl Jocha (NZZ 30.3.) über den 75. Geburtstag der ungarischen Stürmerlegende. “Gefeiert wird an diesem Ostermontag jener Fußballer, der am 25. November 1953 im Wembley dank seiner brillanten Leistung und zwei herrlichen Toren zum 6:3-Sieg der ungarischen Wunder-Elf beitrug. Es war die erste Heimniederlage der englischen Auswahl seit 90 Jahren. Sie machte die Magyaren zu einem großen Favoriten an der Weltmeisterschaft in der Schweiz. Der Jubeltag gibt auch Anlass, zurückzudenken an diese für Ungarn schwere Epoche, als Puskás nach dem verlorenen WM-Endspiel von Bern 1954 und der tragischen ungarischen Revolution von 1956 fern der Heimat ein neues Lebens-Kapitel aufschlug.”
Anekdoten
Christian Eichler (FAS 2.6.) über die Medienevolution des Fußballs. „Irgendwie ist sie ziemlich kompliziert geworden, die Medienwelt, seit jener ersten WM 1930 in Montevideo, als Europa erst auf die Rückkehr von Herrn Langenus per Dampfschiff warten musste, ehe es Details zum Turnierverlauf erfuhr. Herr Langenus war Schiedsrichter des Endspiels und zugleich dessen Reporter. Er hatte wohl immer eine gute Presse. Und Fußball im Fernsehen brauchte kein Mensch.“
Ludger Schulze (SZ 25.5.). „Die längste Woche des Jahres: schon immer reine Nervensache. 1958 bei der WM in Schweden tauschte Bundestrainer Sepp Herberger kurzerhand die Zimmermädchen gegen männliches Personal aus, um seine Leute nicht in Versuchung zu führen. Vier Jahre später in Chile zertrümmerte Torwart Hans Tilkowski das Mobiliar seines Zimmers in einer Militärakademie, als er erfuhr, dass ihn der junge Wolfgang Fahrian im ersten Spiel ersetzen würde. 1974 vertrieben sich Franz Beckenbauer und Paul Breitner die Zeit in einem anhaltenden Prämienpoker, der die DFB-Funktionäre an den Rand des Wahnsinns brachte. Und 1982 übten die Spieler tagsüber Flachpass und Direktschuss, nächtens aber ertränkten sie ihre Kondition in spanischem Rotwein. Derlei Ausschweifungen muss Rudi Völler nicht fürchten. Verglichen mit früheren Generationen muten sie an wie ein Seminar von Klosterschülern. Brave Kerle mit erstklassiger Berufsauffassung.“
Jürgen Roth (FR 25.5.). “Toni Schumachers Selbstentlarvungswerk Anpfiff enthüllte Details, die keineswegs einen gerüttelten Anschiss von Trainer Prost, ich bin der Jupp Derwall provozierten. Ohne Konsequenzen blieben die wüsten Ausschweifungen unter der Schirmherrschaft des Leithammels Paul Breitner. Eike Immel pokerte schon wie ein Süchtiger, stöhnte Schumacher, andere bumsten bis zum Morgengrauen und kamen wie nasse Lappen zum Training gekrochen. Wieder andere gossen reichlich Whisky in sich rein, schlimmer als Quartalssäufer. Campingplatz-Exzesse unermesslichen Ausmaßes. Toni ermattet: Das ist das größte Chaos, das ich überhaupt je gesehen habe” (…) Das Unheil der 80er schritt voran, und 1994 in den USA hätte Spielerfrauenfeind Berti Vogts gut daran getan, einen Rat des Kölschtrinkers Schumacher aufzugreifen. Der empfahl dem DFB wegen der psychischen und sexuellen Kasernierung vor und während der Turniere, künftig käufliche Schöne, die unter medizinischer Kontrolle stehen, in der Hotellobby zu offerieren. Stefan Effenbergs Gattin wäre jener Direktive gemäß einfach daheim, das Nervenchaos aus- und uns die bulgarische Schmach erspart geblieben. So aber traf Effe erst seine Martina außerhalb des tristen Mannschaftshotels, dann schleppte er sie zum Mannschaftsessen an, dann ab, dann gab’s Stunk, und es folgte der entsprechende Finger. Fürchterlich, fürwahr.“
Eine „Geschichte des Verstummens“ erzählt Andreas Höll (Die Zeit 16.5.): „Zum ersten Mal seit 28 Jahren tritt die deutsche Nationalelf ohne eigenes Lied bei der Fußball-WM an. Mit der Bierzelthymne Fußball ist unser Leben war 1974 bei der ersten WM im eigenen Land, eine (west-)deutsche Tradition begründet worden. Dieser „Laienchor hoch bezahlter Profis“, darunter auch der bereits aus dem Jahre 1966 schlagererprobte Franz Beckenbauer (Gute Freunde kann niemand trennen), holte später den Pokal, für die Zukunft jedoch „wollte sich der Deutsche Fußball Bund nicht mehr allein auf die Sangeskraft seiner besten Spieler verlassen.“ Aber weder die Unterstützung von Udo Jürgens für die WM 1978 in Argentinien, noch die von Michael Schanze für die Spiele 1982 in Spanien und auch nicht die von Peter Alexander für die WM 1986 in Mexico brachte sportlichen Erfolg (… Im Jahr 2006) müsste auch Franz Beckenbauer wieder mitsingen, dieses Mal als Präsident des Organisationskomitees. Denn statistisch betrachtet spricht alles dafür, dass Deutschland mit dem singenden Franz Beckenbauer – wie 1974 und 1990 – wieder Weltmeister wird.“
Philipp Selldorf (SZ 14.5.) vergleicht das diesjährige – von Absenzen geprägte – Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft im Schwarzwald mit solchen aus der Vergangenheit: “Für ein derart holpriges Programm hätten sich Völlers Vorgänger Helmut Schön und Berti Vogts ganz sicher nicht begeistern können. Das geschlossene Trainingslager war Pflicht bis in die 90er Jahre hinein. Beim Stichwort Malente, Inbegriff deutscher Fußballkasernenkultur, schaudert es Völler noch heute; in Malente war er – damals noch aktiver Torjäger – 1994 vor dem Turnier in den USA zwei Wochen lang aufs Eintönigste mit dem Nationalteam eingesperrt. Schon wenn sie um acht Morgens zum Dauerlauf durch die holsteinische Landschaft starteten, standen stets dieselben Feriengäste am Straßenrand. Nichts passierte – außer dem, was immer passierte, und bald ging man sich gepflegt auf den Geist. Auf die Frage nach seiner Lieblingsepisode aus Malente antwortet Völler: „Das ist ja gerade das Problem: es gab keine Episoden in Malente.“ Zumindest kamen sie erst später heraus: Etwa, dass Franz Beckenbauer und Sepp Maier 1974 aus Malente nächtens ins Hamburger Nachtleben flüchteten, oder dass sich vor der WM 1982 unter Paul Breitners Führung der Schluchsee in Südbaden durch derbes Trinken der Fußballer den Namen „Schlucksee“ verdiente.”
Im sensiblen Sozialsystem Nationalmannschaft hat Michael Horeni (FAZ 18.5.) einen entscheidenden Wandel ausgemacht: „Die einst wohlgeordnete deutsche Fußball-Welt ist ziemlich durcheinandergeraten. Über Jahrzehnte hinweg standen Namen und Begriffe wie Malente oder WM-Trainingslager für eine äußerst freudlose bis asketische Zeit, in der die Tage und Wochen eines Fußballprofis von morgens um 7 bis zur Bettruhe klar geregelt waren. Da lebte eine Fußballfamilie zwangsweise unter einem Dach, und es schien, als wäre dieser Mikrokosmos ein Abbild der patriarchalischen Gesellschaft, in der Familie nur sein konnte, wo der Bundestrainer war und herrschte. Doch im Jahr 2002 unter Teamchef Rudi Völler, der seine leidvollen Erfahrungen mit dieser Vorbereitung alten Stils hinter sich hat (Ich bin auch Malente-geschädigt), erinnert die deutsche Nationalmannschaft vielmehr an eine neudeutsche Patchwork-Familie, in der Familie nur noch danach definiert wird, wo sich an Leib und Seele gesunde Fußballprofis befinden.“
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