Ballschrank
Drei Zentner Elend
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| Donnerstag, 25. März 2004
Jan Christian Müller (FR 12.5.) fasst Leverkusener Reaktionen zusammen. “Schließlich schaffte es Premiere-Reporter Rolf Fuhrmann, unter Mithilfe von Sportdirektor Jürgen Kohler Nationalspieler Ramelow vors Mikrofon zu bekommen. Ramelow sah aus, als habe er soeben eine Karaffe Zitronensaft auf Ex herunterspülen müssen, stammelte was von absolute Katastrophe, an eigene Nase fassen, fasste sich dabei ans Ohr und sah bald zu, dass er Land gewann. Später kam sogar noch Reiner Calmund, dicke Schweißperlen auf der Stirn, rote Ränder um die Augen und die Hände in den Anzugsärmeln vergraben. Drei Zentner Elend. Calli präsentierte sich ungewohnt kurz angebunden. 40 Punkte sind noch realistisch, sagte Calmund zwei TV-Sendern und einer Radiostation. Dann torkelte er wie benommen von dannen (…) Hörster kann so schön traurig gucken wie ein Hush Puppie, den Frauchen allein zu Hause gelassen hat, und an diesem sonnigen Samstag hatte Hörster allen Grund zur Griesgrämigkeit. Aber er hat trotzdem versucht, nett zu sein und hat in einem seiner immer wiederkehrenden Anflügen von Naivität zum Beispiel gesagt, er habe in dieser Situation mit sich selbst am meisten zu tun, ganz ehrlich, denn: So sind wir nicht erstligareif. Nach dieser Leistung habe ich die Hoffnung eigentlich aufgegeben. Kein Wunder, dass es nach dieser Kapitulationserklärung am Sonntag eine Krisensitzung in Leverkusen gab. Ergebnis: Hörster behält die Verantwortung für die Aufstellung, Kohler führt Einzelgespräche und redet mehr mit denn je. Man darf das getrost als Misstrauensvotum gegen den heillos überforderten Übungsleiter interpretieren. Jürgen Kohler vermied es, Hörsters Aussagen zu kommentieren, doch man sah ihm an, was er davon hielt: wenig bis nichts. Kohler will sich an den Strohhalm klammern, solange der noch da ist. Aus Leverkusen verlautet, kein Scherz, der eilig vom DFB nach Leverkusen versetzte Haudegen berate sich unter anderem mit den Herren Udo Lattek, Klaus Schlappner und Berti Vogts.“
siehe auch Lage der Liga
Jörg Marwedel (SZ 12.5.) kritisiert die Außendarstellung von Bayer 04. „Man hat es mal wieder dem Aushilfstrainer Thomas Hörster überlassen, den Kopf hinzuhalten für alles, was sich in Leverkusen am Ende dieser Saison an Missständen angehäuft hat. Und auch diesmal hatte niemand Hörster geraten, wie man in so einer Situation zumindest verbal das richtige Maß findet zwischen Realismus und letztem Aufbäumen. Also sprach er gnadenlos ehrliche Sätze, die wie der Ruf nach Ablösung klangen: „Das war eine Vorführung. Nach der Leistung von heute habe ich aufgegeben.“ Oder, auf die Frage, ob er versucht habe, die Spieler aufzumuntern: „Was gibt es da aufzumuntern? Ich habe mit mir selbst am meisten zu tun, das zu verarbeiten.“ Ein Trainer darf so nicht reden, er muss auch Schauspieler sein. Es müssten Worte haften bleiben, die Hörster auch gesagt hat, die aber untergingen in seinen allgemeinen Widersprüchen. Zum Beispiel über seine Hoffnung, „dass wir immer zurückgekommen sind“ nach solchen Nackenschlägen, was ja stimmt und deshalb Therapie-tauglich wäre. Dass es der Mannschaft „an allen Ecken und Kanten fehlte“, wie Hörster zutreffend zu Protokoll gab, dafür kann der Coach indes nur bedingt etwas. Haben sein Vorgänger Klaus Toppmöller und die Führungsriege um Calmund doch zugesehen, wie das Team während der vergangenen Monate in seine Einzelteile zerfiel – in eine brasilianische Fraktion, in eine der deutschen Vize- Weltmeister und in jene der Jungprofis wie Simak, Balitsch oder Berbatov, schwankend zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln. Hörster kann auch nichts dafür, dass das Team den für den verletzten Jens Nowotny eingesprungenen Ramelow nicht als Führungsfigur akzeptiert, oder dass Schneider und Neuville bei Abstieg ablösefrei gehen können, während Ramelows Treuebekenntnisse wohl vor allem mit seinem Vertrag zu tun haben, der ihm selbst in der Zweiten Liga viel mehr garantiert, als ihm ein anderer Klub noch zahlen würde. So sahen 51.623 Augenzeugen in Hamburg das Sinnbild eines Zerfalls. Abwehrspieler wie Ojigwe, Juan und Placente, die ihren Gegenspielern jeden Raum für Tore und Vorlagen gestatteten; Stürmer wie Berbatov und Bierofka, die an Harmlosigkeit nicht zu überbieten waren; einen Weltmeister Lucio, der wirkte, als kämpfe er allein den Kampf des Don Quichotte.“
Pure Verzweiflung
Zur misslichen Lage des Werksklubs liestman bei Frank Heike (FAZ 12.5.). „Und dann steckten sie auch noch im Stau fest. Nur fort von hier war die Devise der Fußballprofis von Bayer 04 Leverkusen nach dem schlimmen 1:4 beim Hamburger SV. Schon um kurz nach sechs am frühen Samstag abend rollte der Bus mit den getönten Scheiben aus dem Keller der AOL-Arena. Doch die Flucht endete nach 500 Metern. Feststeckend im zähen Fluß der abreisenden Fans, stand der Bayer-Bus auf Höhe der Müllverbrennungsanlage Stellingen, das Stadion im Rücken, als ein auf der Überholspur vorbeifahrendes Auto mit HSV-Fans hielt. Das Fenster wurde runtergekurbelt und ein Laken ausgebreitet: Kopf hoch, Bayer, in der 2. Liga reicht auch Platz zwei. Erst langsam löste sich der Stau auf, das Gefährt rollte auf die Autobahnauffahrt, heim nach Leverkusen. Doch im Gepäck waren nicht nur der Spott der Hamburger Fans und die Tränen der eigenen Anhänger, sondern auch berechtigte Zweifel daran, ob das kleinste verbleibende Ziel eines Klubs, der im Vorjahr mit seinem Fußball begeistert und dreimal Zweiter geworden war, der Klassenverbleib nämlich, überhaupt noch zu erreichen sei. Wenn wir uns so präsentieren, werden wir es nicht schaffen, sagte Carsten Ramelow. Gesichtsausdruck und Körpersprache des Nationalspielers (einer von elfen aus sechs Ländern in der Startformation) deckten sich mit denen seines Trainers Thomas Hörster. Ratlos, hilflos, aber leider auch hoffnungslos zeigte sich Hörster nach dem Spiel. Wo Aufmunterung und Kampfeslust vor den letzten beiden entscheidenden Spielen gegen keinesfalls übermächtige Gegner – München 1860 und 1. FC Nürnberg – hätten stehen müssen, bot der Coach seinen Profis nur pure Verzweiflung an: Nach dieser Leistung habe ich die Hoffnung aufgegeben. Es fehlte an allem.“
Er hat sich dem dahinwabernden Verbal-Mainstream der Fußball-Bundesliga noch nicht angepasst
Andreas Lesch (BLZ 12.5.) zeigt Mitleid mit Leverkusens Coach. „Er hätte lügen können. Hätte sagen können, dass er die Leistung seiner Mannschaft so schlecht gar nicht fand. Er hätte sich hinter Floskeln verstecken können: Über den Kampf müsse man wieder zum Spiel finden, es sei nun wichtig, die Leidenschaft bei den Spielern neu zu entfachen und aufgeben dürfe man sowieso schon mal gar nicht. Doch was sagte Thomas Hörster, der Trainer von Bayer Leverkusen, nach dem desaströsen 1:4? Erstens: Nach dieser Leistung, muss ich sagen, habe ich aufgegeben. Und zweitens: Ich hab mit mir selbst am meisten zu tun – das zu verarbeiten . Hörster ist noch nicht lange im Geschäft, er hat sich dem dahinwabernden Verbal-Mainstream der Fußball-Bundesliga noch nicht angepasst, und so erschreckt er die Branche Woche für Woche mit einer Ehrlichkeit, die so entlarvend ist wie naiv. Hörsters Aussagen gewähren tiefe Einblicke ins Seelenleben seines Vereins. Das gestaltet sich zurzeit, freundlich ausgedrückt, ein bisschen kompliziert. Die Leverkusener haben immer noch eine realistische Chance, den Abstiegskampf freudvoll zu beenden. Für ihre verbleibenden Gegner, den TSV 1860 München und den 1. FC Nürnberg, geht es um nichts mehr in dieser Spielzeit. Aber tapfer wehren sie sich, an diese Chance zu glauben und vergraben sich lieber in der eigenen Resignation.“
Gewinnspiel für Experten