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Effektivität ist mir lieber als Schönheit
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| Donnerstag, 25. März 2004VfB Stuttgart – Borussia Dortmund 1:0
Roland Zorn (FAZ 22.9.) analysiert den nüchternen Stuttgarter Erfolgs-Stil: „Die jungen Wilden aus der vorigen Saison präsentieren sich längst nicht mehr so angriffslustig wie im Jahr des Aufbruchs an die Spitze. Sechs Spiele, sechs Tore, null Gegentreffer, 14 Punkte – das ist eine Bilanz, die vor allem dem Schachspieler, Pokerface und Kosten-Nutzen-Rechner Magath Laune macht. Der Unterfranke, der einst im Dreß des Hamburger SV bei Branco Zebec lernte, wieviel Lohn Disziplin und die Besinnung auf das Wesentliche im Fußball abwerfen können, bekannte sich zum neuen Stil des VfB: Effektivität ist mir lieber als Schönheit, denn der Erfolg bleibt letztlich die Meßlatte. Und außerdem will doch in Stuttgart niemand mehr Zweiter werden. Den Zusatz hatte Magath ironisch gemeint, doch längst wissen auch die Münchner Bayern, daß ihnen im deutschen Südwesten allmählich ein veritabler Gegenspieler erwächst. Während der Titelverteidiger auf der langen Bundesliga-Rallye derzeit Punkte liegenläßt, sammeln die Stuttgarter mit einem oft schmucklos ausschauenden Fußball ein Guthaben an, das sich noch verzinsen könnte. Timo Hildebrand, der seit 645 Bundesliga-Minuten nicht mehr von einem Gegentor in die Bredouille gebrachte Torhüter, mußte am Samstag nur eine Flanke abfangen, um seinen Vereinsrekord auszubauen und nebenbei Rang drei der ewigen Bestenliste in der Liga zu erklimmen. Angesprochen auf die inzwischen geduldige, abwartende, lauernde Spielweise des VfB, sagte der Schlußmann: Die Bayern spielen schon seit Jahren so. Meister zu werden, wünscht man sich immer. Dafür spielt man Fußball.Manchmal reicht sogar ein Durchschnittskick gegen einen Mitfavoriten, um danach große Ziele ins Auge fassen zu können. So war es am Samstag, als Borussia Dortmund, der Champion von 2002, beim Stuttgarter Sieg dem VfB nicht weiter im Wege stehen wollte. Seit elf Auswärtsspielen hat der BVB auf Reisen nichts mehr gewonnen. Am Samstag erreichten die im hochsommerlich bestrahlten Daimler-Stadion ausgebrannt anmutenden Westfalen den vorläufigen Tiefpunkt ihrer Selbstbescheidung, zu Besuch bei der Konkurrenz bloß keine höheren Ansprüche geltend zu machen. Daß hier die am zweithöchsten dotierte Bundesliga-Mannschaft um wichtige Punkte kämpfen wollte, blieb neunzig Minuten lang unsichtbar.“
Effektivitätstheorie
Peter Heß (FAZ 22.9.) fügt hinzu: „Ja, ja, eine Tabellenführung bedeutet noch nicht viel nach sechs Spieltagen. Sicher, im Fußball kann viel passieren. Natürlich, das Pech lauert in der Bundesliga hinter jeder Ecke. Aber die Erfolgsserie des VfB Stuttgart wird von einer Basis getragen, die auf ein langes Haltbarkeitsdatum schließen läßt. Das Allerwichtigste: Die sportliche Substanz stimmt. Mit Kuranyi und Hleb stehen die aufsehenerregendsten jungen Spieler der Liga in den Reihen des VfB. Mit Soldo hat die Mannschaft einen unumstrittenen Chef auf dem Platz, und der Rest fügt sich diszipliniert in die strategischen Planspiele von Trainer Magath. Dies führt zum nächsten, entscheidenden Punkt: zu der sportlichen Leitung. Alles hört auf Alleinherrscher Magath, eine klarere Hierarchie kann man sich nicht denken. Solange der Trainer in der Einsamkeit seiner Macht die Bodenhaftung behält, wird sich keine Opposition regen. Paradiesische Zustände, von denen selbst Koryphäen wie Hitzfeld und Sammer nur träumen können. Bayern München und Borussia Dortmund verfügen zwar über die besseren Einzelspieler, aber Magath nutzt seine Sonderstellung in Stuttgart konsequent. Er hat eine Mannschaft geformt, deren Stärke höher zu bewerten ist als die Summe der Einzelleistungen der Spieler. 14 Punkte, 6:0 Tore lautet die Zwischenbilanz, die alles verrät. Wie verhält sich der Aufwand zum Ertrag? Schachspieler Magath unterwirft ein Fußballspiel der Effektivitätstheorie. Und die lautet ganz einfach: Je weniger Gegentore ich hinnehme, desto weniger Treffer muß ich erzielen, um zu siegen. Es ist interessant, wie schnell die jungen Spieler das verinnerlicht haben. In der vergangenen Saison verrannten sich die Stuttgarter noch so manches Mal in ihrem jugendlichen Drang.“
Kommerz mit Herz
Jan Christian Müller (FR 22.9.) kritisiert die Dortmunder Führung: “Als sie sich dazu entschieden, Fußballerbeine und Stadionsteine an der Börse feil zu bieten, haben sie sich beim Ballspielverein Borussia Dortmund einen wunderschönen Slogan ausgedacht: Kommerz mit Herz. Die Unternehmensphilosophie ist bewusst schlicht gehalten, damit sie auch ganz oben auf der Südtribüne noch kapiert wird. Denn es war ja nicht nur ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, fett in Fußballerwaden zu investieren, um den Bayern an der nationalen Spitze mit langem Atem auf den Leib zu rücken. Natürlich fürchteten die findigen Macher des westfälischen Fußball-Unternehmens, dass der Geist vom Borsigplatz durch das Prinzip des Geldanschaffens an der Börse zerstört werden könnte. Mit allergrößtem Einfühlungsvermögen wurden die Kuttenträger auf Kurs gebracht und akzeptierten bald, dass eine hohe Investitionsbereitschaft seitens der Clubführung in der Regel sportliche Erfolge nach sich zieht. Nun droht das filigrane Gebilde zu zerbrechen. Ein erklecklicher Teil der Anhängerschaft tut seine Meinung mit dem Hosenboden auf der Straße kund, blockiert die Abfahrt des Mannschaftsbusses und lässt die Verantwortlichen somit wissen, dass Kommerz und Herz sich derzeit nicht mehr die Waage halten. Die Unternehmensphilosophie hat Schlagseite. Einerseits, weil die Profis auf dem Fußballplatz zu wenig Herz zeigen, andererseits aber auch, weil die Clubführung um den Geschäftsführer der Borussia Dortmund GmbH Co. KG auf Aktien, Michael Meier, die öffentliche Diskussion mit dem völlig falschen Kommerz-Thema besetzt hat. Über Steuererleichterungen für Fußballprofis, die in der Spitze brutto in einer Saison doppelt so viel verdienen wie ein Stahlkocher bei Thyssen-Krupp in seinem ganzen Leben, lässt sich keine Debatte führen, die nicht auch eine Debatte über Moral ist.“
Martin Hägele (FR 22.9.) kommentiert den Protest der BVB-Fans: „Matthias Sammer hatte die Höchststrafe über sein Team verhängt. Er schwieg es einfach tot. Wie Kinder das tun, wenn sie der beste Freund enttäuscht oder verraten hat. Ich kann zu meiner Mannschaft nichts sagen, weil ich nichts gesehen habe.“ Vielleicht ahnte er, dass sich vorm Daimler-Stadion ein Prozess zusammenbraute, der weit mehr bewirken könnte als die Schmährede oder ein Tobsuchtsanfall des Chefs in der Kabine. Mit den Worten Matthias, du bist ’ne ehrliche Sau, aber schick uns mal die Versager raus, empfing ihn draußen ein Sprecher jener gelb-schwarzen Fan-Brigade, die mit einem Sitzstreik die Abfahrt des Mannschaftsbusses blockierte. Die Bilder von diesem modernen Tribunal sind auf allen Fernseh-Kanälen geflimmert. Es waren groteske Szenen, mit einer Jury aus Kuttenträgern, vielen jugendlichen Menschen in Trikots, T-Shirts, Jeans und Turnschuhen, 250 Mann und fast alle auf dem Boden. Stehend die Angeklagten in dunklen Clubanzügen mit weißen Hemden und Vereinskrawatten, von denen die meisten nicht wussten, was sie mit ihren Händen tun sollten. In solchen Momenten hilft es, wenn man sich an einem Kulturbeutel festhalten oder wie der alte Kapitän Stefan Reuter die Stimmung an der Basis ablesen kann. Der hat als erster gemerkt, dass hinter dem Protest und den Parolen (wir arbeiten für unser Geld – und was gebt ihr uns zurück?) trotz allem noch viel Zuneigung steckt. Eine dreiviertel Stunde lang standen die Herren Millionäre mit gesenkten Köpfen da und mussten sich die Vorwürfe von unten anhören. Einige haben sich entschuldigt, ein paar haben auch davon gesprochen, dass sie sich schämten, und Manager Zorc hat den harten Kern der BVB-Freunde sogar gelobt dafür, dass sie diese dritte Halbzeit und die öffentliche Debatte im Daimler-Stadion erzwungen hatte. Ich finde es gut, dass die Mannschaft euren Unmut spürt, das kann ihr in der Zukunft helfen. Nach diesem Schlusswort wurde die Zufahrt zur Mercedesstraße freigegeben, es dauerte allerdings noch eine Weile, bevor sich die Blockade endgültig auflöste. Weil nun die Autogramme der Versager gefragt waren.“
Freddie Röckenhaus (SZ 22.9.) ergänzt: „In den friedvollen Sonntagmorgen am Rabenloh, dem Trainingsgelände von Borussia Dortmund, mischten sich Vokabeln, die man aus der Geschichte des gewaltlosen Widerstands kennt: BVB-Manager Michael Meier schwärmte vom zivilisierten, zivilen Ungehorsam, erinnerte an seine eigenen Studenten-Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen bei den Kölner Verkehrsbetrieben und zitierte Gandhi, Christian Wörns sprach von einer „Blockadesituation in den Köpfen“, Sportdirektor Michael Zorc begrüßte, „dass die Spieler das mal ohne Filter von den Fans gehört haben“. Und selbst der in der Montagsdemo-geprüften DDR aufgewachsene Matthias Sammer konnte sich an Protest solcher Art nicht erinnern, fand aber, dass „die Leute wohltuend sachlich und logisch argumentiert“ hätten. Dazu schien die Sonne, es duftete nach frischem Rasen, und alles war wie immer. Einen halben Tag nach der Sitzblockade von Stuttgart, bei der 200 bis 300 Fans den Mannschaftsbus fast zwei Stunden lang à la Mutlangen an der Abfahrt gehindert hatten, war der kleinste Konsens schnell erreicht: Niemand weiß, wie man noch mit der mysteriösen Auswärts-Katastrophe umgehen soll. „Du kannst sagen, was du willst,“ fasste Michael Zorc zusammen, „es geht bei der Mannschaft offenbar zum linken Ohr rein und zum rechten wieder raus.“ Nein, man sei auf keinen Fall „ohnmächtig“ – man wisse nur nicht mehr, was man noch versuchen solle. „Die Wende muss aus der Mannschaft selbst kommen.“ Die Aktion fand Christian Wörns in Anspielung auf die vielen nicht-deutschen Mannschaftskameraden, war „mal was Außergewöhnliches, wo du als Spieler nicht mal jedes Wort verstehen musst“. Den nach Stuttgart mitgereisten BVB-Fans war es kein Trost. Bei der elften sieglosen Auswärtspartie seit Dezember 2002 brachte es Dortmunds verletzungsgeschwächte Startruppe fertig, nicht ein einziges Mal auf das Tor von VfB-Keeper Timo Hildebrandt zu schießen. Hildebrandt musste lediglich einen verunglückten Flankenball abfangen. Nach dem Stuttgarter Tor durch Kevin Kuranyi wartete Dortmunds Anhang fast eine halbe Stunde lang vergebens auf irgendeine Reaktion.“
Bayern München – Bayer Leverkusen 3:3
Es könnte eine fruchtbare Zusammenarbeit werden
Daniel Pontzen (Tsp 22.9.) erklärt den Wandel von Bayer Leverkusen und den Einfluss Augenthalers: „Der ewig deprimierte Zweite scheint allmählich das Selbstbewusstsein des erfolgreichsten Bundesliga-Spielers aller Zeiten zu adaptieren. Das 3:3 war ein erster Beleg dafür, nachdem Augenthaler die frühen Saisonsiege als bloße Pflicht eingeordnet hatte. Endlich hatte Bayer die lähmende Ehrfurcht vor dem Rivalen abgelegt. „Die rennen da mit dem Autogrammblock rum, um eine Unterschrift von Matthäus zu bekommen“, hatte Geschäftsführer Reiner Calmund nach einer der ernüchternden Dienstreisen gezischt, bei denen Bayer so verlässlich versagte, dass Calmund schon das Stadionheft hätte mitnehmen müssen, um München nicht mit leeren Händen zu verlassen. Doch diesmal holten sie nicht nur den ersten Punkt seit einem Jahrzehnt, sie traten von Beginn an auf, als würde nach Abpfiff der Meister gekürt (…) Nun den Titelkampf für eröffnet zu erklären, wie es womöglich einigen seiner Vorgänger passiert wäre, kommt für Augenthaler nicht in Frage. „Der Auge hat mit seiner bayerischen Ruhe und Fachkompetenz genau das bei uns reingebracht, was wir brauchen“, sagt Calmund, der registriert hat, dass sich die in den Wirren des Abstiegskampfes gefundene Eillösung als zukunftsträchtiges Modell entpuppt. Es könnte eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit werden. Wie ernst Augenthaler die Sache ist, zeigt der geplante Umzug seiner Familie nach Leverkusen. Die ersten 45 Jahre seines Lebens hat Augenthaler in bayerischer Vorstadtidylle verbracht, selbst nach Graz und Nürnberg, seinen ersten Stationen als Trainer, ist er gependelt. Augenthaler weiß die Vorzüge Münchens zu schätzen. Seit Sonnabend gilt das auch für den Rest seines Vereins.“
Die Dramaturgie genügte höchsten Ansprüchen
Detlef Dresslein (FAZ 22.9.) ist vom Spiel begeistert: „Keiner gewonnen, alle zufrieden – im Verdrängungswettbewerb Fußball-Bundesliga kommen solche Spiele selten vor. Das 3:3 des FC Bayern München gegen Bayer Leverkusen machte alle Liebhaber des Fußballsports froh. Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern AG, sprach für sie, als er meinte, ein außergewöhnlich gutes Fußballspiel gesehen zu haben. Bayer-Trainer Klaus Augenthaler fragte gar: Fußballherz, was willst du mehr? Die Dramaturgie genügte höchsten Ansprüchen, verlief (aus Bayern-Sicht) so: Rückstand, Ausgleich, Elfmeter verschossen, Rückstand, Rote Karte kassiert, zu zehnt ausgeglichen und in Führung gegangen, Ausgleich. Sechs Tore, viel Spannung, so konnten Fans und Verantwortliche beider Teams genug Positives finden, um den angebrochenen Tag ohne Kummer auf dem soeben eröffneten Oktoberfest fortzusetzen. Die Leverkusener hatten die letzten neun Spiele in München verloren und dabei stets erbarmungswürdige Darbietungen geliefert, selbst wenn sie als Tabellenführer angereist waren. Diesmal war alles anders, vielleicht auch deshalb, weil ihr Trainer Augenthaler mehr als zwanzig Jahre lang beim FC Bayern fußballerisch sozialisiert wurde.“
Marc Schürmann (FTD 22.9.) fügt hinzu: „Das war ein traumhaftes Fußballspiel, mit blassblauem Himmel und warmer Luft und Luftballons in Bierkrugform und oktoberfestlich heiteren Zuschauern, mit einer Marschkapelle aus Pfaffenhofen und sechs Toren; dazu eine rote Karte und ein verschossener Elfmeter, und lustig war’s auch noch, denn Oliver Kahn sah hinter seinem schwarzen Stirnband aus wie eine Aerobic-Trainerin mit zu viel Testosteron. Ob Kahn in einer anderen Verfassung die Leverkusener Tore verhindert hätte? Beide Mannschaften hatten mit famosen Weitschüssen viel Glück. „Fußballherz, was willst du mehr?“, fragte Leverkusens Trainer Klaus Augenthaler. Für den ist die Zeit nun wohl vorbei, in der er sich auf Bayers Schmach der vergangenen Saison ausruhen konnte. Bei einer Niederlage in München hätten sich die Leverkusener weiter hinten eingereiht – jetzt gelten sie wieder als Spitzenmannschaft. Aber den Preis dieses neuen Erwartungsdrucks wird Augenthaler gern zahlen, denn natürlich war dieser Auftritt bei den Bayern ein besonderer, dort, wo er selbst so oft gespielt hat. Augenthalers Ehrgeiz ist sicher groß. Das Unentschieden schien ihm schließlich „ein gerechtes Ergebnis“. In der Tat war die Fehlerquote ebenso ausgeglichen wie die Fußballkunst.“
1. FC Köln – VfL Wolfsburg 2:3
Milan Pavlovic (SZ 22.9.) sah ein offenes Spiel: “Deutschland ist süchtig nach unverbrauchten Show-Formaten, und unverhofft haben die Akteure des 1. FC Köln und VfL Wolfsburg eine spannende Idee geliefert: Die Bundesliga sucht den naivsten Fußballer. Das klingt gemeiner als es gemeint ist, Naivität kann ja auch kunstvoll sein. Henri Rousseau etwa, der wohl berühmteste naive Maler des 19. Jahrhunderts, wurde gelobt, seine Arbeit sei kindlich und märchenhaft, und er habe uns „bunte exotische Eindrücke“ hinterlassen. Die Profis in dem von Licht durchfluteten Stadion schienen denn auch ein Plädoyer für Fußball à la Rousseau liefern zu wollen. Das Ergebnis (2:3) gibt nur unzureichend wieder, was auf dem Platz passiert war. Das Spiel hätte 9:5 oder 6:11 ausgehen können, und so viele Großchancen wie in diesen 93 Minuten (27) wird es anderswo wohl in der ganzen Saison nicht geben (…) Die traurige Wahrheit über den 1. FC Köln lautet: So ansehnlich die Mannschaft in dieser Saison nach vorne spielt, so mitreißend sie von Andrej Woronin angetrieben wird, so unzulänglich ist die Abwehrarbeit.“
Jörg Stratmann (FAZ 22.9.): „Die Last, die Fußballtrainer an der Außenlinie bewältigen müssen, wird oft unterschätzt. Natürlich wissen wir, daß sie leiden, wenn die Profis nicht so spuren wie abgesprochen. Und nicht jeder kann den Streß so kanalisieren wie der Wolfsburger Jürgen Röber. Der läßt die Wut schon mal am Mobiliar aus. Daran hat man sich gewöhnt. Sein Kollege Friedhelm Funkel vom 1. FC Köln dagegen erlebte am Samstag eine völlig neue Zumutung. Nachdem er seine Stimme erhoben hatte gegen Entscheidungen des Schiedsrichters Markus Schmidt, sah sich Funkel vom mißtrauischen vierten Schiedsrichter Matthias Anklam in Manndeckung genommen – und so traute er sich kaum noch, mit gewohnter Wortgewalt dagegen anzukämpfen, daß seine Mannschaft den Wolfsburgern 2:3 unterlag. Anschließend hatte sich zumindest Röber schnell wieder in der Gewalt. Nur noch die strapazierten Stimmbänder erinnerten an das unnötige Auf und Ab, mit dem sein spielerisch besseres Team nach schneller 2:0-Führung den Sieg fast noch aus der Hand gegeben hätte.“
Werder Bremen – 1860 München 2:1
Wie eine Flipperkugel
Zur Bedeutung des knappen Bremer Siegs liest man von Frank Heike (FAZ 22.9.): „Manchmal ist ein sogenannter Arbeitssieg mehr wert als ein 4:0. Er gibt nämlich Hinweise darauf, daß eine Mannschaft bereit ist, sich auch einmal durch ein Spiel gegen einen unangenehmen, gleichwertigen Gegner zu quälen. Daß sie nicht die Geduld verliert, wenn es nicht von Anfang an vorzüglich läuft und auch nach überraschenden Gegentreffern konzentriert weiterspielt. Diese Qualitäten zeigte der SV Werder Bremen beim 2:1 gegen den TSV München 1860. Zunächst war der Fußball vor 32 000 Zuschauern im Weserstadion wie eine Flipperkugel durchs dichtbesetzte, von den Münchnern passabel zugestellte Mittelfeld gesprungen. Die ersten Pfiffe kamen nach 26 Minuten. Dann vergab Ailton drei große Chancen kurz vor der Pause. Nach seinem 1:0 aus elf Metern in der 48. Minute dann – Torben Hoffmann hatte Angelos Charisteas gefoult – wurden die Bundesligaprofis von Werder aber nicht sicherer, sondern fahriger; sie ließen Andreas Görlitz von rechts flanken und Markus Schroth in der Mitte zum Ausgleich treffen. Derselbe Spieler hätte nach einem Fehler von Andreas Reinke im Bremer Tor die Führung für die Löwen erzielen müssen. Das tat er aber nicht. Statt dessen raffte sich der im zweiten Durchgang starke Johan Micoud trotz seines kaum ausgeheilten Rippenbruchs auf und schaffte nach einem schönen Lauf vorbei an Hoffmann und Wiesinger das 2:1. Mehr gab es nicht zu sehen im Weserstadion, wo sonst manchmal der schönste Fußball der Liga gespielt wird, das in den vergangenen beiden Rückserien aber zum Selbstbedienungsladen für die vermeintlich Kleinen der Liga verkommen war.“
Hannover 96 – Borussia Mönchengladbach 2:0
Richard Leipold (FAZ 22.9.) berichtet die Entlassung Lienens: “Borussia Mönchengladbach trug am Sonntag mit dem ersten Trainerwechsel der jungen Saison am meisten dazu bei, daß es nicht langweilig wird in der Fußball-Bundesliga. Knapp vierundzwanzig Stunden nach der Niederlage in Hannover entließ der rheinische Traditionsverein seinen Cheftrainer Ewald Lienen und ernannte Holger Fach zu dessen Nachfolger. Die Entscheidung für Fach war am Sonntag vormittag gefallen. Wir haben uns gemeinsam entschieden, diesen Wechsel vorzunehmen und die Reißleine zu ziehen, sagte Vereinspräsident Adalbert Jordan, der sich zuvor mit seinen Präsidiumskollegen und Sportdirektor Christian Hochstätter abgestimmt hatte. Der Vorstand sei davon überzeugt, eine sehr gute Lösung gefunden zu haben. Fach sei ein analytisch und logisch denkender Trainer. Der Fußball-Lehrer, der noch keine Erstligamannschaft trainiert hat, erhielt einen Vertrag bis zum Ende der Saison. Er wird an diesem Montagmorgen zum erstenmal das Training am Bökelberg leiten. Der ursprünglich vorgesehene freie Tag wurden den zuletzt erfolglosen Profis gestrichen. Über seine Arbeitsweise sagte Fach, er sei kein Trainer, der sich über Systeme auslasse. Den Fans sei letztlich egal, wie die Mannschaft spiele, ob modern oder unmodern. Man müsse nur wieder Erfolg haben. Er wolle aber attraktiven Fußball anbieten, soweit die Qualität der Mannschaft es zulasse. Lienen bekam bei einem Treffen in einem Mönchengladbacher Hotel mitgeteilt, daß er ab sofort von seinen Aufgaben freigestellt sei. Er habe die Nachricht enttäuscht, aber professionell aufgenommen, verlautete aus dem Präsidium. Obwohl er die Borussia in der vergangenen Saison vor dem Abstieg gerettet hatte, endete Lienens Dienstzeit am Bökelberg nach nicht einmal sieben Monaten. Lienen war am 4. März als Nachfolger Hans Meyers verpflichtet worden. Die Verantwortlichen des Klubs haben ihm nicht mehr zugetraut, die vor Saisonbeginn formulierten Ziele zu erreichen.“
VfL Bochum – Hertha Berlin 2:2
Danke dafür
Christoph Biermann (SZ 22.9.) sah starke Gäste: „Huub Stevens war in den Mannschaftsbus von Hertha BSC verschwunden und starrte von seinem Platz aus auf einen unbestimmten Punkt in die Ferne. Wenige Schritte entfernt, jenseits eines Absperrgitters, forderten zwei Dutzend Fans aus Berlin unablässig seinen Rauswurf und teilten ihm mit: „Wir sind Herthaner und du nicht.“ Noch waren nicht alle Spieler eingetrudelt, noch konnte der Bus nicht abfahren und noch gaben die Krakeeler keine Ruhe, als Stevens wie eine Muräne aus dem Bus nach draußen vorstieß. Dort tippte der Trainer einem Berliner Journalisten auf die Schulter, sagte mit verzerrtem Grinsen „Danke dafür“, und deutete auf seine grölenden Kritiker. Dann schoss Stevens so schnell wie er gekommen war wieder in den Bus zurück und starrte weiter geradeaus. Vor seinem geistigen Auge mochte auch die Szene wenige Minuten nach Abpfiff erscheinen, als er von seiner Trainerbank einige Schritte auf die Ecke im Ruhrstadion zugegangen war, wo die Berliner Fans standen, um ihnen mit den Händen über dem Kopf zu applaudieren. Doch aus der Ferne schallten ihm nur die schon vertrauten Rufe „Stevens raus“ entgegen. Das Verhältnis zwischen dem Coach und einem Teil der Fans von Hertha scheint inzwischen den Zustand der Neurose erreicht zu haben. „Fußballfans können das keine sein, oder sie haben ein anderes Spiel gesehen“, sagte Dieter Hoeneß bei seinen Moderationsversuchen am Bus. Das 2:2 der Berliner in Bochum, die dabei gezeigte Leistung und die Reaktionen des Publikums standen jedenfalls in nur sehr losem Zusammenhang.“
Richard Leipold (FAZ 22.9.) porträtiert den zweifachen Berliner Torschützen: „Mit seinem Auftritt in Bochum hat er sich wieder einmal zurückgemeldet. Neuendorf wurde schon oft durch Verletzungen zurückgeworfen. Doch seine Hartnäckigkeit zeichnet ihn aus, nicht nur auf dem Fußballplatz, auch gegenüber der Bürokratie. Neuendorf hat durchgesetzt, daß er in der Bundesliga offiziell als Spieler Zecke auflaufen und mit diesem Spitznamen auch die Nackenpartie seines Trikots beflocken darf. Seit er als Profi von Bayer Leverkusen bei einem Waldlauf von einer Zecke gebissen wurde, nennen ihn Freunde, Kollegen, Reporter so. Und es gefällt ihm. Aber er hat eine Weile kämpfen müssen für sein Namensrecht. Und dabei die Kreativität gezeigt, die ihm fehlt, um im offensiven Mittelfeld einen Ausnahmespieler wie den brasilianischen Ballkünstler Marcelinho auf Dauer gleichwertig zu ersetzen. Nachdem die Deutsche Fußball Liga seinen Antrag zunächst abgelehnt hatte, fragte Neuendorf, wo der Unterschied sei zu Marcelinho, der doch auch einen Künstlernamen führen dürfe. Das Einwohnermeldeamt der Liga riet ihm, bei den staatlichen Behörden einen Künstlernamen zu beantragen. Dort wurde ihm bedeutet, nur richtige Künstler hätten Anspruch auf so einen Namen. Seine Fußballkunst reichte den Beamten offenbar nicht aus. So nahm sich Neuendorf zwei Leinwände, bemalte sie mit geometrischen Figuren und versteigerte sie für einen guten Zweck. Der Künstler war geboren. Eines seiner Werke hängt inzwischen in der Redaktion einer seriösen Berliner Tageszeitung. Auch die Behörden und auch die Frankfurter Ligazentrale ließen sich von der Kunst überzeugen.“
SC Freiburg – FC Schalke 04 2:1
Zum Totlachen
Nina Klöckner (FTD 22.9.) ärgert sich über die Berichterstattung über Glieder, Schalker Neuzugang aus Österreich: „Eduard Glieder, 34-jähriger Österreicher. Allein das wirkt auf die Branche belustigend. Im ZDF-Sportstudio wunderten sie sich am Samstagabend, dass der Gast in Jeans und Sakko erschien. Und nicht in Lederhosen, Filzhut und Trachtenjanker. Schließlich ist er Österreicher und jeder in der Branche weiß doch, wie Österreicher sind. Langsam, schwer von Begriff, irgendwie anders. Das wird beim Glieder Edi nicht anders sein, auch wenn der Glieder Edi beispielsweise längst erklärt hat, dass ihn in Österreich kein Mensch Glieder Edi nennt, sondern Edi Glieder. Vor- und Nachnamen vertauscht man nur in Bayern. Jetzt nennen sie ihn Alpen-Cobra, in Anlehnung an den ehemaligen Stürmer Jürgen Wegmann, der durch seine Tore berühmt wurde, aber auch durch seine Weisheiten. „Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“ Immerhin analysierte Edi Glieder seinen ersten 90-minütigen Einsatz im Schalker Trikot mit dem Satz: „Ich habe einige gute Chancen vorgefunden.“ Nicht schlecht für einen, der das Fußballspielen beim SC St. Margarethen gelernt hat und den die Schalker bei einem Klub mit dem lustigen Namen SV Pasching oder SV Superfund entdeckt haben. Wahrscheinlich isst der Edi Glieder morgens zum Klang von Alpenhörnern eine Riesenportion Kaiserschmarren. Bevor er mit seinem uruguayischen Kollegen Gustavo Varela im Training das Toreschießen übt. Dessen Heimatverein heißt übrigens El Tigre. Der von Jens Jeremies Motor Görlitz. Der von Miroslav Klose SG Blaubach-Diedelkopf. Zum Totlachen. Und die Lederhosen trugen am Samstag die brasilianischen Spieler von Bayer Leverkusen. Auf dem Oktoberfest.“
Nadeschda Scharfenberg (SZ 22.9) erklärt den Unterschied zwischen Sieger und Verlierer: „Trainer Jupp Heynckes bittet um Geduld, er müsse neue Spieler einarbeiten und ein neues System üben. Sportdirektor Andreas Müller sagt, dass man es zu Saisonbeginn mit Top-Teams aus Dortmund, Bremen und Stuttgart zu tun hatte und nach ein paar Siegen gegen schwächere Gegner alles anders aussehe. Und die Fans, die im Breisgau wie die Fischer-Chöre auftraten, hielten die Hoffnung bis zuletzt durch Gesang am Leben. Half alles nichts, von Besserung war wenig zu sehen. Die Schalker wirkten wie diese Windkraft-Räder, die auf dem Rosskopf jenseits der Dreisam empor gezogen werden: Steif und nicht in der Lage, zu wirbeln – den Rädern fehlen noch die Flügel. Einen Schritt nach links angetäuscht, den Ball nach rechts gelegt, und vorbei waren die Freiburger an den starren Schalkern – Sanou, 19, Jim-Knopf-Gesicht und schnellster Mann auf dem Platz; oder Coulibaly, der trotz Blasenentzündung beinahe jeden Gegner überholte. Früh drückte Bajramovic einen Kopfball ins Tor Heynckes fand: „Hier und da hatten wir Probleme gegen die lebendigen Freiburger Angreifer.““
Zur Situation von Trainer Heynckes heißt es bei Tobias Schächter (taz 22.9.): „Ein Messias arbeitet nicht. Das hartnäckige Studieren wissenschaftlicher Zusammenhänge, das Absolvieren einer schnöden Ausbildung, sich in schweißtreibender Maloche dem Gelingen der profanen Alltagsdinge widmen – nein, das ist nicht die Sache eines Messias. Ein Messias legt Hand auf. Und alleine dadurch werden Blinde sehend und Lahme gehend. Ja, mit lässiger Leichtigkeit führt ein Messias die Menschen aus ihrem Jammertal, erlöst sie von ihrem Leid. Jupp Heynckes ist kein Messias. Das dämmert spätestens seit Samstag den Menschen in Gelsenkirchen, Ortsteil Schalke. Heynckes ist kein Messias, der den Spielern einfach die Hand auflegt und dann spielen alle gut, bemerkte der Leiter der Lizenzspielerabteilung des Fußball-Bundesligisten Schalke 04, Andreas Müller, nach der bitteren 1:2-Niederlage beim Aufsteiger SC Freiburg lapidar. Gerade mal sechs Punkte stehen auf dem Konto der Ruhrgebietler nach sechs zumeist alarmierend schwachen Spielen. Die Geschichtenwende lässt auf sich warten, tief drin im Revier. Dabei dichteten sie dem 58-jährigen Heynckes in Schalke messianische Züge an. Der unsichtbare Neubarth, der Möchtergern-Trainer Wilmots: Sie wirkten plötzlich wie Gestalten aus einer dunklen, fernen Zeit (…)Es hätte also ein Debakel werden können für die Schalker, von denen ihr Manager Rudi Assauer nach wie vor träumt, sie als dritte Kraft hinter Bayern und Dortmund in Fußball-Deutschland zu positionieren. Doch davon sind sie so weit entfernt wie Heynckes davon, mit ein paar saloppen Formulierungen Wasser in Wein zu verwandeln. Assauer verließ den kleinen Presseraum des Dreisamstadions wortlos und Heynckes analysierte gewohnt steif: Wir haben wegen des UI-Cups eine Vorbereitung mit atypischen Bedingungen absolviert.“
morgen auf indirekter-freistoss: die Sonntagsspiele in Frankfurt und Hamburg
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