Nachschuss
ein Amerikaner der den Fußball liebt
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| Donnerstag, 25. März 2004
In diesem Buch versucht ein Amerikaner, der den Fußball liebt, zu erklären, warum die Amerikaner den Fußball nicht lieben. Die Herzen des Autors, Andrei S. Markovits, und seines Ko-Autors sind geräumig genug, um auch American Football, Baseball, Basketball und Eishockey einzuschließen. Das Buch ist also, wie Markovits leidenschaftliches, um Toleranz werbendes Vorwort unterstreicht, ein Buch von Sportliebhabern für Sportliebhaber. Es ist aber auch ein Buch von Soziologen für soziologisch Interessierte. Es vergräbt sich in der Frage, warum der Fußball in der Sportkultur der USA nur eine marginale Rolle spielt, trägt dazu eine Fülle historischer und empirischer Informationen zusammen und schreckt auch vor mutigen Erklärungen nicht zurück. Eine gerechte Bewertung setzt wohl voraus, es als zwei Bücher zu lesen: Als ein historisches, das die Entwicklung der amerikanischen Sportkultur in den letzten zwei Jahrhunderten nachzeichnet. Und als ein theoretisches, das diese Entwicklung zu erklären und in Zukunftsspekulationen zu verlängern sucht.
Historisch schlägt es einen großen Bogen von den Anfängen des modernen amerikanischen Sports Mitte des 19. Jahrhunderts bis an die Schwelle zum 21. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen „hegemoniale Sportarten“. Hegemonial ist ein Sport, in dieser Lesart, nicht schon, wenn er massenhaft ausgeübt wird, sondern erst, wenn er breites und fanatisches Interesse auf sich zieht. Der Begriff zielt also auf Sport als ein sekundäres Kulturphänomen, auf die Welt der Liebhaber und Fans, nicht der Athleten. So ist Angeln kein hegemonialer Sport, obwohl 45 Mio. Amerikaner begeisterte Angler sind. Das verbindende Merkmal aller hegemonialen Sportarten ist, auch heute noch, die Dominanz eines vorwiegend männlichen Publikums. Der Begriff mag nicht sonderlich scharf sein, ist aber nützlich, schon weil er erlaubt, einen konsensfähigen Ausgangspunkt festzulegen: In den USA sind Baseball, Football, Basketball, mit Abstrichen Eishockey, hegemoniale Sportarten („Die Großen Dreieinhalb“), in Europa und Südamerika und fast überall sonst (nur) der Fußball.
Die zentrale These des Buches ist, dass die Frage, ob eine Sportart bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Hegemonialität erreichen konnte, entscheidend davon abhing, ob es ihr gelang, in der „Sattelzeit“ des modernen Sports, zwischen 1870 und 1930, eine Popularitätsbasis zu errichten, auf der ein Spitzen- und Profisportbetrieb und das massenmedial vermittelte gesellschaftliche Interesse aufbauen konnten. Die Autoren zeigen in einer Reihe von akribisch recherchierten, spannend zu lesenden Kapiteln, wie es Baseball, American Football, Basketball und Eishockey gelang, sich in der Sportsattelzeit in den Sattel zu schwingen. Für Fußballer von besonderem (und tragischem) Interesse ist die Auseinandersetzung zwischen den Ostküsten-Colleges in den Jahren 1873 bis 1875, der die Autoren richtungsweisende Bedeutung für die Entwicklung des amerikanischen Fußballs beimessen (S. 129: „Wenn es jemals einen kritischen Zeitpunkt gegeben hat: das hier war einer.“). Der sportlich-spielerische Leistungsvergleich zwischen den Hochschulen war damals gerade zu einer regelmäßigen Übung geworden. Sämtliche Colleges mit Ausnahme von Harvard praktizierten einen dem heutigen Fußball eng verwandten Football, mit dem sie den Regeln der 1863 gegründeten englischen Football Association folgten. Harvard dagegen favorisierte eine Art Rugby und weigerte sich, in den aufrichtigen Fußwettbewerb einzutreten. Nach zwei Jahren der Auseinandersetzung setzte sich schließlich Harvard mit seiner Football-Variante durch. Aus ihr wurde der heutige American Football, bei dem die Füße fast ausschließlich zum Laufen dienen. Und so stellt sich die Frage, warum der Fuß-Fußball, während er die Welt eroberte, in der neuen Welt scheiterte.
An dieser Stelle beginnt die Theorie. Die Autoren sortieren in drei Arten von Gründen: historisch-soziologische, kulturanthropologische und organisatorisch-institutionelle. Die kulturanthropologischen Gründe beziehen sich auf die Annahme, dass der Fußball als „unamerikanisch“ wahrgenommen wurde bzw. wird. Erklärt ist damit freilich noch nichts, denn die Frage ist ja gerade, warum es nicht gelungen ist, die Basis für eine andere Wahrnehmung zu schaffen. Die beiden anderen Erklärungsansätze hängen am Begriff des „Sportraumes“, den die Autoren bei Pierre Bourdieu entleihen, aber, im Unterschied zu Bourdieu, betont räumlich-metaphorisch interpretieren. Mit den „Großen Dreieinhalb“ habe sich der amerikanische Sportraum abgeschlossen und für Neuzugänge unzugänglich gemacht. Dass sich der Fußball nicht rechtzeitig Zutritt verschaffen konnte, sei, neben der fehlenden Basis im Collegebereich, primär auf die Unfähigkeit von Funktionären der amerikanischen Profiligen zurückzuführen. Vielversprechende Ansätze zu erfolgreichen Profiorganisationen („American Soccer League“) habe es durchaus gegeben, insbesondere in den 20er Jahren, sie seien aber stets am internen Zwist der Verbandsführungen und anderen organisatorischen Unzulänglichkeiten gescheitert.
Der Begriff des Sportraumes produziert mehr Fragen als Antworten. Wie wenig er trägt, führen die Autoren mit ihren spekulativen Zukunftsszenarien am Ende des Buches selbst vor. Denn dort schreiben sie dem Fußball unter einer Vielzahl von Bedingungen das Potential zu, den amerikanischen Sportraum als zusätzliches Mitglied zu betreten, also ohne einen anderen Sport zu verdrängen. Man fragt sich: Kann ein Sportraum wachsen? Und, falls ja: Nach welchen Gesetzen wachsen Sporträume? Auch die Entwicklung des Basketballs, der nach chaotischen Anfängen erst in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg wirklich aufblühte, spricht gegen das Bild eines auf- und abschließbaren Raumes. Schließlich, nicht zu vergessen: In den siebziger Jahren kam es zu einem spektakulären Hoch der North American Soccer League (NASL), mit Stars wie Pelé, Best, Müller und Beckenbauer, das aber bald wieder abebbte. Kann ein Sportraum auch befristet untervermietet werden?
Der Verdacht liegt nahe, dass mit dem Begriff des Sportraumes, jedenfalls mit dem hier gepflegten metaphorischen Gebrauch, einer Abfolge historischer Ereignisse, die weitgehend von Zufällen und anderen schwer einzugrenzenden Faktoren bestimmt war, nachträglich eine Kausallogik eingeschrieben werden soll. Vielleicht hätten sich die Autoren besser ganz von solcher Logik verabschieden und statt dessen die Auseinandersetzung mit sozialstrukturellen Bedingungen des „american exceptionalism“ – des amerikanischen Sonderweges – vertiefen sollen, die sie am Anfang des Buches skizzieren. Nichts ist ja aktueller als die Frage, ob und inwiefern Amerikaner anders sind. „Donald Rumsfeld“ und „Alteuropa“ kommen in den Sinn. Theoretisch freilich ist die Frage hochkompliziert, und das Schicksal des Fußballs könnte ein Anlass sein, sie neu und anders zu stellen.
Die eher unscheinbaren Randbemerkungen des Buches könnten den Weg zu einer Reformulierung weisen. So erfährt man, dass die zweite American Soccer League 1952 früh im Fernsehgeschäft beteiligt war, der Durchbruch aber an „schwachen Besucherzahlen bei den Spielen“ und „noch geringeren Einschaltquoten“ scheiterte (S. 189). Dasselbe gilt für die NASL: Auch deren Übertragungspartner ABC verlängerte den Vertrag 1982 nicht mehr wegen der „kontinuierlich niedrigen Einschaltquoten“ (S. 252). Und auch von der heutigen Major League Soccer (MLS) werden, nach vielversprechenden Anfängen, wieder sinkende Zuschauerzahlen berichtet, obwohl, wie aus dem Statistik-Teil hervorgeht, auf Highschool- und College-Ebene längst fleißig Fußball gespielt wird.
Vielleicht sollte man zunächst einfach ernster nehmen, dass sich die meisten Amerikaner tatsächlich langweilen, wenn sie Fußball sehen. Damit verbunden wäre, vor aller detaillierten historischen Rekonstruktion, eine geschärfte Aufmerksamkeit für die Ästhetik des Fußballs, genauer: seine Ästhetik relativ zum kulturellen Erwartungskontext, mit dem er in den USA konfrontiert ist. Dann könnte man spekulieren: Der Fußball hat etwas Anarchisches, das sich festgefügten Erwartungen an Unterhaltungswert und Aufwand-Ertrags-Verhältnisse nicht fügt. Erwartungen dieser Art, einschließlich einer betont individuellen Zurechnung von Erfolg, spielen jedoch in der amerikanischen Gesellschaft traditionell eine dominierende Rolle. In negativer Wendung könnte man von Machbarkeitsdenken und fehlendem tragischen Bewusstsein sprechen, in positiver von Optimismus und Vertrauen in persönliche Verantwortung. Die Vorliebe für Statistik in der US-Sportkultur, mit der komplexe Mannschaftsszenarien in individuell vergleichbare Zahlenkolonnen verwandelt werden, spiegelt diese Tatsache ebenso wie das beständige, publikumsorientierte Neujustieren der Regeln.
Der Fußball dagegen bleibt Fußball, praktisch unverändert seit Erfindung der Abseitsregel, eigensinnig, unberechenbar, launisch. Auch ein „Spitzenspiel“ garantiert keine Unterhaltung. Weder nominelle noch taktische Überlegenheit garantieren den Sieg. Wer 90 Minuten auf ein Tor spielt, kann in der 91. ausgekontert zu werden. Der Weltmeister von 1998 kann 2002 in der Vorrunde rausfliegen, Eigentore können das Spiel entscheiden, Fehlentscheidungen es ruinieren, Platzfehler es zur Farce machen. Der Fußball ist die populäre Verkörperung der paradoxen Erfahrung, dass Talent und Leistung entscheiden sollen, aber nur selten entscheiden. Der Fußball, könnte man auch sagen, hat eine ironisch-tragische Dimension. Und vielleicht muss man, um ein solches Spiel wirklich schätzen zu können, das historische Gepäck des Alteuropäers auf dem Rücken haben oder den südamerikanischen Sinn für Widersprüche im Blut.
Das Unverständnis der US-Sportpresse über Spielverlauf und Entscheidung im WM-Finale 1994 (0:0! Elfmeterschießen!) jedenfalls deutet ebenso auf tiefliegende Mentalitätsunterschiede wie die sich heute abzeichnende Entwicklung zu einem Frauen- und Freizeitsport, der von der männlich dominierten Hegemonialkultur weitgehend ignoriert wird (und damit an Sportarten wie Volleyball oder Tischtennis erinnert). So gesehen, überrascht es auch nicht, dass ausgerechnet der Hallenfußball – der „Budenzauber“, diese von natürlichen Unwägbarkeiten gereinigte Schrumpfform des Spiels – während der 80er und 90er-Jahre in den USA eine gewisse Popularität erreichen konnte.
Was immer man von solchen Spekulationen hält und wie immer sie theoretisch zu fassen wären, sie zeigen jedenfalls eines: Dass die Komplexität der Fragestellung unterbelichtet bleibt, wenn man den ungeordneten historischen Verlauf nachträglich in kausale Ordnung bringt. Wer weiß schon, was aus dem Fußball geworden wäre, wenn er von tüchtigen Funktionären und engagierten Collegeboys gefördert worden wäre – vielleicht eben jenes gern gespielte, aber ungern gesehene Spiel, zu dem er sich jetzt auch so entwickelt? Oder umgekehrt: Wer weiß, was aus den USA geworden wäre, wenn der alteuropäische Fußball sie Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich unterwandert hätte – vielleicht die treibende Kraft der UNO, des Kyoto-Prozesses und des internationalen Strafgerichtshofes? Man weiß es nicht. Und sollte es zugeben.
Am Ende also scheint es, als habe das leidenschaftliche Interesse den Autoren ein wenig den Blick getrübt für die Ignoranz, die sie erklären wollten. Die Leidenschaft aber ist auf jeder Seite und in jeder Zeile spürbar. Es ist, das Lob könnte größer nicht sein, ein wissenschaftliches Buch über Fußball, das die Liebe zum Fußball zum Sprechen bringt. Dass seine Erklärungen eher zum Streiten einladen, ist, unter Liebhabern, auch kein Nachteil.
Tobias Werron
Tobias Werron ist if-Leser aus Berlin, Freizeitkicker Jahn-Sportpark (ehemals Reichstagswiese), liebt und liest Fußballbücher.
Andrei S. Markovits/Steven L. Hellerman: Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur, Hamburg: Hamburger Edition, 2002, 35 (Bezug amazon).
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