Ballschrank
Husar aus Hanau, musikalisch kaum sterblich
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| Donnerstag, 25. März 2004Die Farbe Weiß dominierte am vergangenen Montag den Blätterwald – allerdings war es nicht auf der unbefleckten Brust in Island gelüfteter Nationaltrikots zu finden, sondern in den aufgerissenen Augen des verbal Amok laufenden Aufsehers der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Nach Meinung der in Ball und Feder verliebten Journaille hat die Tirade des Teamchefs eine Qualität erreicht, die den Vergleich mit dem legendären Wortschwall von Giovanni Trappatoni („Was erlaube Struuunz?“) nicht zu scheuen braucht. Doch was wollte Völler sagen? Doch nicht etwa „Ich habe fertig“?
Die Textauslegung schlug am ersten Werktag nach dem Ausbruch des Rhetorik-Geysirs von Reykjavik hohe Wellen und verfrachtete die Aussagen des Bundestrainers dorthin, wo sonst nur die anderen Verfassungsorgane der Republik auftauchen: in die Leitartikel der Qualitätspresse. Dort, in den Deutungseliten des Mediensports, tat sich ein noch näher zu untersuchender Graben zwischen Völler-Kritikern und -Unterstützern auf.
Gänzlich andere Reaktionen fördert jedoch ein stets unterschätztes Medium zu Tage, das in schöner Regelmäßigkeit für veritable Perlen des Fußball-Journalismus sorgt: der Hörfunk. Anstelle einer repräsentativen Untersuchung sei hier lediglich ein zwar willkürlicher, aber doch aussagekräftiger Bericht aus dem Sendegebiet des Hessischen Rundfunks (qua Herkunft eine Art „Haussender“ des polternden Protagonisten) überliefert. Am Tag nach dem „peinlich, peinlich“-Auftritt (FAS) eröffnete der öffentlich-rechtliche Sender seiner Hörerschaft eine Standardsituation wie nach einer Schwalbe von Andreas Möller. „Was halten Sie von der Reaktion Rudi Völlers nach dem 0:0 gegen Island?“ lautete die Frage an ein Fußball-interessiertes Publikum, das fortan (zwischen 13 und 15 Uhr, also gerade nach einem für die Region obligatorisch frugalen Sonntagsmahl) den Telefonhörer gar nicht mehr aus der Hand legen wollte.
Was sich dann den Weg über den Sender bahnte, offenbarte Aufschlussreiches über die Sympathiewerte des Bundestrainers – und den Musikgeschmack der Fußballfans. Nahezu ausnahmslos bekundeten die engagierten Hörer ihre Solidarität mit einem „völlig zurecht ausgerasteten“, „nur deutlich genug gewordenen“ oder „total richtig liegenden“ Nationaltrainer. Das allein war freilich wenig überraschend in einem Bundesland, das noch in der Mitte der Woche mit dem Oberhaupt des Sendegebiets sympathisierte, das gerade den Beamten eine saftige Erhöhung der Wochen- wie Lebensarbeitszeit in Aussicht gestellt hatte.
Den Blick auf die geschundene Fußball-Seele frei legte erst die bemerkenswerte Auswahl der Musikstücke, die als Belohnung für eine öffentliche Stellungnahme zur Völler-Attacke ausgesetzt war. Zunächst schien „Ich denk´ an dich“ der Normalos von „Pur“ noch dem Vokuhila-Mainstream geschuldet, danach wirkte die Whitney-Houston-Schnulze „I will always love you“ gleich auf den ersten Ton völlig fehl geleitet. Andererseits: wird mit beiden Titeln nicht das mehr oder weniger herzliche Verhältnis in der „deutschen Fußballkritikerfamilie“ (FAZ) beschrieben? Im Supporter-Soundtrack folgten alsbald Herbert Grönemeyers Sinnsucherballade „Mensch“ („Momentan ist richtig, momentan ist gut. Nichts ist wirklich wichtig, nach der Ebbe kommt die Flut“). Wer dachte da nicht an den depressiven Eisbären aus dem Video-Clip – ein potenzielles Völler-Versteck? Höhepunkt der Hörerwünsche waren schließlich der überstrapazierte Queen-Gassenhauer „We are the Champions“ und der 80er-Retro-Weichspüler F.R. David mit „Words don´t come easy“ (dabei ist jedoch nicht zu vermuten, dass durchschnittliche HR3-Hörer mit dem inoffiziellen Popliteraten-Motto „Irony is over“ vertraut sind). Es scheint, als habe die Sonntagsnachmittagshörerschaft echte Defizite im fußballbezogenen Liederkatalog. Welch grandiose Musikauswahl wurde in dieser Stunde der akustischen Volksherrschaft verpasst? Wie subtil hätte man sich gegen die besserbezahlten Besserwisser äußern können? „Gute Freunde kann niemand trennen“ (wider Ball-Guru Franz Beckenbauer), „Mexico mi amor“ (remember Peter Alexander, 1986) oder „Football is coming home“ (als politisch-inkorrekter Willkommensgruß für McBertis und seine Schotten).
Eine auditive Katharsis für den geschundenen Augen- und Ohrenzeugen stellte sich erst mit einem Tag Verspätung ein: aus dem Radio schallte wieder der Völlersche Haussender, es lief die Sendung „Madhouse“. Die Moderatorin quengelte gelegentliche Anrufer mit Fußball-Quizfragen zu EM-Qualifikation, Teamchef-Herkunft und verbalen Blutgrätschen… doch dann geschah das Wunder – ein brillanter Mix brachte es auf den Punkt wie ein energischer Schiedsrichterpfiff: die längst viel zu oft gespielte Huldigung an den „hombre sehr tüchtig“ aus dem WM-Jahr wurde kontrastiert mit den harschen Worten des Silberhaarigen. Kein Kommentar, keine Interpretation scheint ein besseres Tackling zu liefern, als das Duell am Mischpult zwischen dem „Stürmer, sehr berüchtigt“ und dem O-Ton aus Reykjavik:
„… er hält den Ball immer flach“ – „Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören“
„… er ist der beste Mann“ – „Ich wechsle den Beruf, das ist besser“
„… ein Rudi Völler, es gibt´s nur ein Rudi Völler“ – „Nein, nein, nein“
Angesichts der flächendeckenden medialen Tiefausläufer birgt vielleicht der Blick auf einige versöhnliche Zeilen etwas Hoffnung für die nächsten Tage – und nebenbei auch die richtige Einstellung für das wichtige Spiel am Mittwoch in Dortmund. Schließlich hat Rudi Völler, der so lange still gebliebene Husar aus Hanau, die Erfolg verheißenden Worte aus einer fußballerisch wie musikalisch kaum sterblichen Epoche selbst im Munde geführt:
Der Wind im Colloseum singt Lieder aus vergang´ner Zeitund durch den Titus-Bogenweht leise die Unendlichkeitdie Blumen einer Treppe, die in den Himmel führt.Wir finden uns von selbst,als hätten wir´s gespürt.
Doch diesen Titel („Sempre Roma – für immer Rom“ – Udo Jürgens und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, 1990) hat sich am Wochenende niemand gewünscht.
Christoph Bieber hört Radio und ist umsichtiger Libero des ZMI-Teams.