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Fußball aus der Sicht der Wissenschaft

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Fußball aus der Sicht der Wissenschaft

Fußball aus der Sicht der Wissenschaft

Die Stimmung in Kreuzberg schildert Michael Reinsch (FAZ 27.6.). „Deutschland entdeckt seine Türken neu. Und die Türken verstehen sich plötzlich ebenfalls neu als erfolgreiches Fußballvolk. Tatsächlich gibt es reichlich Gemeinsamkeiten zwischen den verhinderten Finalgegnern Deutschland und Türkei: die Gilde der inzwischen mehr als zwanzig deutschen Trainer, die seit Friedel Rausch und Jupp Derwall den türkischen Fußball geprägt haben; und die acht „Deutschländer“ in der türkischen Nationalmannschaft – in Deutschland geborene und aufgewachsene Spieler, die nicht nur die Sprache, sondern auch den Fußball ihres Geburtslandes gelernt haben. Nicht wenige deutsche Fußballfunktionäre halten sie für verlorene Söhne (…) die Berliner Türken längst etabliert. Warum wohl hat der Autokorso, mit dem Hunderte von Fans nach den Siegen ihrer Nationalmannschaft von Kreuzberg aus den Verkehr lahm legen, stets den Kurfürstendamm zum Ziel? Weil sie alte West-Berliner sind! 1961, im Jahr des Mauerbaus, schlossen Deutschland und die Türkei das Anwerbeabkommen, das insgesamt 2,5 Millionen Türken in die Bundesrepublik gebracht hat. Bis heute, im Jahr dreizehn nach dem Fall der Mauer, leben gerade drei Prozent der 130.000 Berliner Türken im Ostteil der Stadt. Ihr stolzer Einsatz der Fahrzeuge aus Stuttgart, Rüsselsheim und Wolfsburg drückt nicht nur den Stolz der wirtschaftlichen Aufsteiger aus, sondern wirkt durchaus stilbildend.

Erik Eggers (Tsp 23.6.) fußballphilosophiert. „Heute glaubt jeder Deutsche, sich mehr als jeder andere beim Fußball auszukennen – vor allem zu Zeiten der Weltmeisterschaft. Viele Fans wissen so viel über diesen Sport, dass nicht einmal Herbergers Aphorismen noch Gültigkeit besitzen. „Es gehen so viele Leute zum Fußball“, erklärte er in den 50er Jahren, „weil sie nicht wissen, wie´s ausgeht“. Heute wissen das die meisten schon vorher. Aber Fußball ist mehr: die Intensivierung und Darstellung der fundamentalen Werte des gegenwärtigen Lebens, „eine Art meta-sozialer Kommentar, der letzte Ort einer philosophisch-dramatischen Erzählung“, wie der französische Ethnologe Christian Bromberger es formuliert. Auf dieser Basis geraten Flanken zu visuellen Kunstwerken, ein schönes Tackling verkörpert ehrliche Arbeit, kurzum: dem Fußball werden ästhetische Qualitäten zugemessen.“

Alexander von Schönburg (FAZ 12.6.) sah den deutschen Sieg über Kamerun mit Politikern. „im Bundestag war die Arbeit am frühen Nachmittag völlig zum Erliegen gekommen. Selbst in der Glaskuppel des Reichstages wandelten nicht die sonst üblichen Menschenströme. Nur einer sichtbar desinteressierten Besuchergruppe, Schülern aus Sachsen, wurde im Sitzungssaal durch einen eifrig referierenden Lehrer eine Lektion in Staatskunde erteilt. Der einzige Ort, an dem man in diesen Stunden Politiker finden konnte, war im Fraktionssitzungssaal der SPD im dritten Stock. Der Fraktionsvorsitzende Peter Struck hatte in dem nach dem SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels benannten Saal die Großleinwand herunterfahren lassen sowie zwei große Fernseher aufstellen lassen und zum gemeinschaftlichen Fernsehschauen gebeten. Auch die Presse war eingeladen worden. Hier konnte man Pflicht mit Angenehmem verbinden, das Spiel der Nationalmannschaft im entscheidenden Vorrundenspiel sehen und gleichzeitig beobachten, wie die SPD-Fraktion es nutzte, um politische Signale ins Land zu senden (…) Nach einer furiosen zweiten Halbzeit gelingt der deutschen Mannschaft der Einzug ins Achtelfinale. Struck baut sich vor den Mikrophonen auf und sagt: „Wir schlagen die Schwarzen auch am 22. September.““

Über den Stellenwert des Fußballs in Argentinien heißt es bei Holger Gertz (SZ 11.6.). „Fußball war in Argentinien immer ein Weg, den anderen zu zeigen, wer man ist, genauer gesagt: dass man ist. Als wären die Deutschen ewig in den Fünfzigern hängen geblieben, als ja, wie Fußballphilosophen sagen, mit dem Sieg bei der WM in Bern 1954 die Bundesrepublik eigentlich gegründet wurde. Argentinien gewann daheim bei der WM 1978 mit 3:1 im Finale gegen Holland, und auch das war nicht Fußball, sondern ein langer Werbefilm im Sinne der damals regierenden Junta, gerichtet an die anderen Nationen und an das eigene Volk. Es ging darum, abzulenken von Morden, Folterungen, Verschleppungen. Als sich Argentinien 1982 auf den Falkland-Krieg gegen England vorbereitete, wurden die Fernsehbilder der Truppenübungen gegengeschnitten mit Aufnahmen vom WM-Sieg, und Osvaldo Ardiles, ein berühmter argentinischer Kicker, der damals in England spielte, bei Tottenham, musste Großbritannien vorübergehend verlassen.“

Die politische Bedeutung des Fußballs erfährt in Frankreich eine besondere Aufladung. Es geht um die Durchsetzung eines toleranten Gesellschaftsentwurfs; und gegen die fremdenfeindliche Politik von Jean-Marie Le Pen. Jürg Altwegg (FAZ 11.6.) dazu. „Für die Fußballer bleibt die politische Korrektheit, die sie verinnerlicht haben, die beste Taktik. Gegen die ehemalige Kolonie Senegal war die Niederlage ein vornehmes Resultat. Mit Uruguay, dem kleinen Land aus dem aufstrebenden Lateinamerika, dessen demokratische Bemühungen man unterstützen will, teilte man höflicherweise die Punkte. Doch heute kann es keine Rücksichten mehr geben. Ein Sieg muss her, mindestens zwei Tore müssen fallen – gegen den verhinderten Gauleiter (gemeint ist Le Pen, of) zu Hause, den man vor vier Jahren nicht endgültig hatte besiegen können. Und auf dem Spielfeld. Die Rückkehr des antifaschistischen Spielführers Zidane wird die historische Dynamik gegen die nur vordergründig unverdächtigen Dänen neu entfachen. Denn die blonden Hünen aus dem Norden sind ja doch irgendwie Wikinger und diese bekanntlich die Urahnen der Nazis.“

Wie eng Politik und Fußball verknüpft sein können, beleuchtet Thomas Scheen (FAZ 11.6.) am Beispiel Kameruns. „Die „unzähmbaren Löwen“, wie die vom deutschen Übungsleiter Winfried Schäfer betreuten Männer aus Westafrika sich selbst nennen, sind nicht nur eine Fußballnationalmannschaft. Sie sind Identitätsstifter und Blitzableiter in einem regelmäßig von sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Unruhen heimgesuchten Land. Und die Mannschaft ist der beste Wahlhelfer des seit nunmehr 20 Jahren regierenden Präsidenten Paul Biya. Die Zeitungen des Landes hatten den Gewinn der Afrika-Meisterschaft in Mali zu Beginn dieses Jahres erstens der Mannschaft und zweitens der Politik des Sportministers zugeschrieben, was „Tarzan“ (wie Schäfer in Kamerun genannt wird) eigentlich die Zornesröte unter den semmelblonden Schopf hätte treiben müssen. Doch Schäfer ließ sich nichts anmerken, und es traf sich gut, das der Deutsche kein Französisch spricht und vorsorglich verkündete, die Sprache Voltaires auch nicht lernen zu wollen. Wer sich öffentlich nicht zu äußern braucht, muss später auch nichts zurücknehmen. Im Ernstfall nämlich entscheidet in Kamerun nicht der Trainer über die Aufstellung der Mannschaft, sondern der Präsident.“

Über den Zusammenhang zwischen Theater und Fußball sinniert Klaus Dermutz (FR 10.6.). „Das (deutschsprachige) Theater verdankt dem Fußball viel. Wären die Uraufführungen fast aller Bernhard-Stücke solche Triumphe geworden, wenn nicht der beidbeinige Claus Peymann, der Herberger-Freund Bernhard Minetti und der vom russischen Torhüter Lew Jaschin inspirierte Gert Voss sie zum Leben erweckt hätten. Wäre Kick-and-Rush-Peymann überhaupt nach Österreich gegangen, wenn er nicht um seine Qualitäten als Stürmer und Verteidiger gewusst hätte? Das Land war für Peymann ein Strafraum, in dem er auch dann noch gefoult wurde, wenn er gar nicht am Ball war.“

Benjamin Henrichs (SZ 7.6.) führt Diskurs. „Die philosophische Kraft des Fußballs ist auch nach Herbergers Ableben nicht erloschen. Obwohl sie heute manchmal unterschätzt, ja gar nicht erkannt wird. Die deutsche Mannschaft, so erklärte zum Beispiel Trainer Skibbe schon vor Turnierbeginn, habe „genug Substanz und Potenzial“, um eine hervorragende Rolle bei dieser WM zu spielen. Substanz und Potenzial – da lachen die intellektuellen Besserwisser im Lande! Und ahnen nicht, dass der alte Heidegger in seiner Todtnauberger Hütte lange über die haarfeinen Differenzen zwischen Substanz und Potenzial nachgedacht hat – leider sind seine Notizen hierzu verschollen.“

In der FR (29./30.5.) lesen wir, dass George Carey, Erzbischof von Canterbury, ein Herz für seine fußballbegeisterten Schäfchen habe: Weil die Übertragung des ersten Fußball-Weltmeisterschaftsspiels der englischen Mannschaft am Sonntag zeitlich mit dem Gottesdienst konkurriert, hat Carey angeregt, die Morgenandachten zu verschieben. „Der Gottesdienst geht natürlich vor“, zitiert die englische Tageszeitung The Times das Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Aber ein Ereignis wie die WM gebe es nur alle vier Jahre. In einigen Kirchen soll das Spiel sogar auf Großbildschirmen gezeigt werden, damit religiöse Fußballfans nicht in einen Interessenkonflikt geraten. Carey, selbst Fan des Vereins Arsenal London, wird das WM-Spiel allerdings verpassen: Im Rahmen der Zeremonien zum goldenen Thronjubiläum feiert er den Gottesdienst mit Königin Elizabeth auf Schloss Windsor.

Über die Bedeutung des Fußballs in Politikerköpfen lesen wir bei Günter Bannas (FAZ 31.5.). „In ihren Träumen hätten die Kohls, Schröders, Fischers und Möllemanns lieber das dritte Tor von Bern geschossen, als sich mit Parteifreunden über kleinliche Details der Politik zu streiten. Dem Jubel der Freunde auf Parteitagen werden sie in Wirklichkeit wenig abgewinnen können: Sie wissen, dass sie ihn selbst inszeniert haben. Was dagegen ist ein tosendes Stadion mit seinen Gesängen!“

Über die Affinität deutscher Spitzenpolitiker zum Fußball schreibt Alexander Schwabe (Spiegel 27.5.). “Das Daumendrücken für Deutschland ist bei Schröder in Wahrheit ein Fiebern um den eigenen Job. Sollte ein Versagen der Nationalelf das angeschlagene Selbstwertgefühl der Deutschen weiter schwächen – Schlusslicht in Europa –, sollte der kollektive Narzissmus des deutschen Michel durch Niederlagen auf dem Rasen weiter gekränkt werden, fiele es Edmund Stoiber noch leichter als bisher, die schwärenden Wunden der Betrübten und Enttäuschten zu netzen. Das Abschneiden einer Elf schlägt sich seit je auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft nieder. Umgekehrt spiegelt sich die mentale Verfasstheit eines Gemeinwesens in der Qualität der Nationalmannschaft wider. Als die Mannen um Toni Turek, Fritz Walter und Helmut Rahn im Juli 1954 beim Endspiel von Bern die haushoch favorisierten Ungarn mit dem legendären Ferenc Puskas schlugen, war das Balsam für die Seele der Deutschen. Nach der Erniedrigung durch den verloren gegangenen Krieg und nach Jahren der Scham darüber, dem Diktator Hitler gefolgt zu sein, waren die Deutschen in der Welt wieder wer.”

Warum Deutschland nicht mehr Weltspitze ist, erklärt Christof Siemes (Die Zeit 29.5.) mit dem Zustand unseres Landes. „Nie ist eine deutsche Mannschaft mit geringeren Hoffnungen zum wichtigsten Turnier der Welt aufgebrochen. Wie im richtigen Leben, in all den Rankings in Wirtschaftswachstum, Reformfähigkeit, Innovationsfreude, Schlagersingen, so ist Deutschland auch im Fußball von der Weltspitze weit entfernt (…) Rudi Völler ist die klassische Problemlösung Ära Schröder: Sie ist vor allem publikumswirksam (…) Ob der ungelernte Trainer der ersten Mannschaft eines Landes, das gerade in Sachen Taktik, neuer Spielsysteme, Flexibilität auf dem und jenseits des Platzes hinterhinkt, Beine machen kann? (…) Die jetzige Mannschaft ist eine, die es nicht als Lust oder Chance, sondern als ihre saure Pflicht begreift, aus dem Mittelmaß herauszukommen.“

Eine Meldung aus der französischen Tageszeitung Le Monde (30.5.) zeigt, dass in Asien der Kommerzialisierung des Sportes noch Grenzen gesetzt sind. “Der serbische Cheftrainer der chinesischen Fußball-Nationalmannschaft, Bora Milutinovic, riskiert den Verlust großer Summen, nachdem Ausländern das Erscheinen im Rahmen nationaler Werbesendungen seitens der chinesischen Regierung untersagt worden ist. Milutinovic, der China zu seiner ersten WM-Teilnahme geführt hat, zeigt sich in verschiedenen Werbespots für chinesische Alkoholika und DVD-Player, die ihm nach Presseberichten mehr als 2,6 Millionen Euro einbringen. Die chinesischen Sportfunktionäre befürchten, dass die Präsenz des Trainers in den Medien, sowie weiterer Spielerpersönlichkeiten des Weltfußballs wie in Spots von Nike, dem Anliegen des chinesischen Fußballverbandes schade, der das Image der Nationalelf verbessern möchte und seine eigenen Werbeeinnahmen sichern wolle.”

Zum ungünstigen Übertragungszeitpunkt der WM-Spiele und zu den diesbezüglichen Reaktionen der französischen Unternehmen schreiben Laure Belot Pascale Santi in Le Monde (31.5.). “Die Zeitverschiebung bewirkt, dass die drei ersten Spiele der französischen Elf während der WM zur Arbeitszeit stattfinden. Diese Situation kann im besten Fall zu einer Atmosphäre des „laisser-faire“ führen, im schlimmsten Fall zu einer Steigerung der Fehlzeiten. Viele Unternehmen erklären, dass sie die Begeisterungsfähigkeit ihres Personals abwarten wollen… und die Ergebnisse ihrer „Blauen“, um gegebenenfalls etwas für ihre Angestellten zu organisieren. Bei Valeo, Crédit agricole, BNP Paribas, Crédit Lyonnais und Société générale, ist zur Zeit von der Direktion nichts geplant. Renault geht sogar noch weiter: eine interne Anweisung an seine Lohnempfänger besagt, dass „der Arbeitsplan des Unternehmens es den Arbeitnehmern nicht erlaube, sich für eine Wahrnehmung der Fußballspiele während ihrer Dienstzeit bereit zu halten“. Auf der anderen Seite haben einige Gesellschaften Maßnahmen zur Senkung der Abwesenheit ergriffen. Die Post, stolz auf ihre 25000 lizensierten Fußballer, „hat einer besonderen Achtung derjenigen Arbeitnehmer zugestimmt, die ihre 35-Stunden-Woche bzw. ihre freien Tage dazu nutzen wollen, die Spiele bei sich zu hause zu schauen“. Die weltweite Nummer Eins in Sachen Versicherungen, Axa, sieht für das Eröffnungsmatch in Paris, wo sie 500 Personen beschäftigt, „eine Übertragung auf einem Großbildschirm in einem Auditorium vor“. Bei den folgenden Spielen können die Angestellten in kleineren Sälen bei Bedarf TV-Geräte anfordern. Kleinere Unternehmen, wie EACF, dass 35 Personen beschäftigt, wollen aus der WM ein echtes Fest machen. Der Generalsekretär folgert: „Wir haben uns dazu entschieden, ein besonderes Ereignis aus der WM zu machen, da das Unternehmen eine Reihe von echten Fans besitzt. Ähnlich denkt auch die Geschäftsleitung von Valfond, die zur Vermeidung von Fehlzeiten einer Arbeitsstillegung von zwei Stunden während der Spiele der französischen Elf zugestimmt hat. Die Gewerkschaft CGT sieht die Maßnahme paradoxalerweise anders. Sie vermutet, dass die Firma, die in finanziellen Schwierigkeiten ist, sich diesen Luxus gar nicht leisten könne.

Jörg Häntzschel (SZ 28.5.) rezensiert fernöstliche Stadionarchitektur. „In Japan und Korea setzt sich ein weltweiter Trend fort: Nachdem es fast 2000 Jahre dauerte, bis die seit der Antike abgerissene Stadiontradition wieder aufgenommen wurde, dauerte es weitere 100, bis das Stadion aus seinem architektonischen Schattendasein trat. Von wenigen Glücksfällen abgesehen (wie etwa Garniers Stadion in Lyon oder die Münchner Olympia-Ikone), war das Stadion bislang ein Fall für Ingenieure und Betonbauer: ein stummer, kahler Zweckbau, errichtet wie ein Parkhaus oder ein Kühlturm, dem allein die Masse mit ihrem alkoholischen Atem Leben einhauchen konnte. Erst durch die jüngste Generation der Stadien werden die Arenen in denselben Rang erhoben wie andere öffentliche Großbauten. Das liegt nicht nur an dem neu entdeckten, medientauglichen Mehrwert der Architektur-Symbolik. Auch nicht allein an dem neuen Selbstverständnis von Fußballvereinen als Wirtschaftsunternehmen. Es liegt auch an der Wandelbarkeit der modernen Stadien: In Japan und Korea werden die Spielstätten nach der WM zu Schwimmbädern, Tennisplätzen oder Eislaufanlagen umgerüstet. Sie mutieren zu Einkaufszentren, Restaurants und Ausflugszielen, deren Reiz viel mit der architektonischen Kulisse und wenig mit Sport zu tun hat. Außer Jogging und Walking nennt die Website des Miyagi Stadions denn auch „Dating“ als eine der vorgesehenen Nutzungen.“

Mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu werben“, wie Christian Zaschke (SZ 25.5.), „ist etwas Besonderes. Die großen Unternehmen werben nicht einfach, sie werden Partner der Mannschaft. Die Idee dahinter ist recht einfach nachzuvollziehen. Wer eine Anzeige in einer Zeitung schaltet oder einen Spot im Fernsehen zeigt, der verweist nur auf sich. Als Partner profitiert man vom Image des anderen. Oder, wie zuletzt bei der Nationalelf, leidet darunter. Bei der Europameisterschaft 2000 ist die deutsche Mannschaft ausgeschieden. Die Bild-Zeitung rief den nationalen Notstand aus. Partner Mercedes gab bekannt, selbstverständlich stehe man auch in der Krise zum Team. Partner, hieß es, gingen durch dick und dünn (…) Das funktioniert, weil die Deutschen nicht auf ihre Geschichte stolz sind, nicht auf ihre Kraft oder etwas in der Art. Wie alle Völker wollen sie dennoch öffentlich stolz sein, aber unverdächtig. Die Lösung: die deutsche Nationalmannschaft.“

Georg Leppert (FR 25.5.) berichtet über Wettquoten. „Im schlimmsten Fall für Intertops steht Deutschland im Endspiel, trifft dort auf England und gewinnt 5:1. Für diese eher unwahrscheinliche Konstellation hat das Salzburger Unternehmen eine Quote von eins zu 500 angeboten. Wer zehn Euro gesetzt hat, kann 5000 Euro Gewinn einstreichen. Doch der Tipp auf einen deutschen Kantersieg im letzten Kick ist längst nicht die einzige skurrile Wette, mit der die Buchmacher jetzt ums Geld der Fans werben. So lässt sich bei Intertops darauf setzen, dass Torhüter Oliver Kahn während der Weltmeisterschaft ein Elfmetertor erzielt oder Teamchef Rudi Völler während des Turniers zurücktritt und von Franz Beckenbauer ersetzt wird.“

“Warum kann nicht wenigstens das Feuilleton fußballfrei bleiben?” fragt Florian Coulmas (SZ23.5.) – im Feuilleton. „Politikern sind wir gewohnt, ein gewisses Maß an Opportunismus zu konzedieren, den Intellektuellen aber, die dem Fußball die Reverenz erweisen, ist das übel zu nehmen. Dass in diesem Land so mancherlei im Argen liegt, bezweifeln nur wenige. Wie symptomatisch dafür der Fußballwahn ist, wird systematisch verschwiegen. Die politische Klasse, voll beschäftigt mit Mangelverwaltung und Machterhalt, hat keinen Platz für Helden. Und unter dem Eindruck der absurden Summen, die dafür ausgegeben werden, das Gerenne auf dem Rasen im Fernsehen übertragen zu dürfen, neigt die geistige Aristokratie ihr Haupt vor dem tretenden Bein und nimmt ihren Platz auf der Tribüne ein, vor der die wahren Helden unserer Zeit von links nach rechts und von rechts nach links rennen. Wo so viel Geld im Spiel ist, muss doch etwas Wertvolles dahinter stecken, lautet offenbar ihr Räsonnement.“

„Wer ist der reale Teamchef, wer der virtuelle?“ fragt Ralf Wiegand (SZ 22.5.), Bezug nehmend auf die öffentliche Resonanz des TV-Experten Günter Netzer. „Der Sport-Teamchef ist Rudi Völler, und der TV-Teamchef heißt Günter Netzer. Es gibt genug Menschen, die glauben, Günter Netzers WM-Elf könnte tatsächlich die bessere sein für die Mission in Japan. Schon allein, weil Netzer diesen Carsten Jancker nicht mag. Für Rudi Völler ist sein Alter Ego im Studio nicht immer ein Kumpel. An den Stammtischen nämlich ist Netzer, 57, der Primus inter pares, Anführer eines Millionenheeres von Bundestrainern – im Zweifelsfall auch gegen Völler (…) Bei durchschnittlich zehn Länderspielen pro Jahr erreichen die Kommentatoren und Experten von ARD und ZDF somit weit mehr als die Hälfte aller Haushalte. Einer wie Netzer oder dessen Kompagnon Delling, 43, ist damit häufiger im Wohnzimmer zu Besuch als die eigene Verwandtschaft. Sie sind die Meinungsmacher (…) Die beiden sind eine eigene Marke geworden. Mitten in der Goldgräberzeit, als neben Premiere auch noch tm3 Jagd auf die bekanntesten Köpfe des Genres machte, nutzten Netzer und Delling ihre im Dunstkreis der Nationalelf gewonnene Popularität, indem sie ihr beider Schicksal miteinander verbanden wie man es im Fernsehen vorher nur von Winnetou und Old Shatterhand kannte.“

Mit den Befindlichkeiten deutscher Fußballfans befasst sich Volker Kreisl (SZ 18.5.) und zitiert den Berliner Sportphilosophen Gebauer: „Dass die Sehnsucht nach dem Symbol immer stärker sein wird als der Realitätssinn, glaubt Gebauer nicht. Die Nationalelf hat sich zwar etwas erholt, neue Peinlichkeiten wie das 0:1 gegen Wales könnten aber gravierende Auswirkungen haben. Der DFB-Erfolg ersetze ein Stück Selbstbewusstsein, breche er weg, dann sei der Fan nicht nur enttäuscht, sondern verletzt, er könnte sich abwenden. Die Nationalelf und ihre Fans stecken in einer gegenseitigen Abhängigkeit. In Frankreich, sagt Gebauer, „wird die Nationalmannschaft beobachtet und genossen, in Deutschland wird sie gebraucht.“

Eine Marktstudie hat die Einstellung der Öffentlichkeit zur Nationalmannschaft europaweit analysiert. Jörg Marwedel (SZ 16.5.) dazu:“Der europäische Vergleich belegt indes – neben der ungebrochenen Popularität der nationalen Spielklassen und einigen nationalen Eigenarten – auch eine Distanz zur Champions League in ihrer jetzigen Form: So ist Spanien das einzige Land, in dem die Königsklasse einen höheren Stellenwert als die WM genießt – ein Kuriosum, das mit dem traditionell schwachen Abschneiden der spanischen Nationalmannschaft und den Erfolgen spanischer Klubs zu erklären ist. In Frankreich dagegen hat der Titelgewinn von 1998 die WM zum Maßstab gemacht, während die Champions League kaum stärker interessiert als die Spiele der 2. Division. Kein Wunder: Die eigenen Stars spielen im Ausland.” (Volltext)

Vom immensen Stellenwert der Fußball-Nationalmannschaft hierzulande berichtet Thomas Kistner (SZ 15.5.):“Das Team mit dem Adler beeinflusst die nationale Befindlichkeit so stark wie kaum etwas anderes, in den Jahren nach dem Krieg hat es das deutsche Selbstbewusstsein geprägt, vom WM-Gewinn 1954 bis zum schmählichen Vorrunden-Aus bei der EM 2000 (…) Vielleicht ist es übertrieben zu sagen, jede politische Ära im Lande habe die Nationalmannschaft hervor gebracht, die sie verdiente. Aber auffallend ist schon, dass jede Epoche unweigerlich ihr Abziehbild fand in den Fußballhelden, die sie mit dem Bundesadler auf der Brust ins Feld schickte. Das ist auch heute so, in der leidenschaftslosen Rette-sich-wer-kann-Ära des Gerhard Schröder. Der Fußballkanzler versäumt ungern einen PR-Termin mit den Nationalkickern und betet für ein gutes Abschneiden bei der WM; auch, damit er im heißen Finish vor der Wahl noch ein paar wirkungsmächtige Auftritte hinlegen kann (…) Ein Stück Heimat, innere Befindlichkeit – das ist die ideale Spielwiese für populistische Politiker. Mal mehr, wie 1974 oder 1990, mal weniger wie zuletzt, als sich die Nationalelf früh aus den Turnieren verabschiedeten: In den Viertelfinals der WM in den USA ’94 und Frankreich ’98. Bei der EM 2000 rief das sieglose Scheitern in der Gruppenrunde gar nationale Depressionen hervor. Torwart Kahn rief die „Versager“ öffentlich auf, sich zu fragen, was sie „Deutschland angetan“ hätten.” (Volltext)

Roland Zorn (FAZ 15.4.) über Deutschland als Gastgeber einer Fußball-Weltmeisterschaft, in Vergangenheit (1974) und Zukunft (2006). “Damals stand die Hälfte der 1,8 Millionen Zuschauer bei 32 Begegnungen ohne ein Dach über dem Kopf da, wenn es regnete. Seinerzeit durfte auch so gut wie niemand aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang in die Bundesrepublik reisen; gerade tausend von der SED handverlesene Schlachtenbummler aus der DDR feuerten (acht, neun, zehn, Klasse) ihre Mannschaft beim historischen 1:0-Sieg über den späteren Weltmeister aus der Bundesrepublik Deutschland an. 32 Jahre später erwartet das längst wiedervereinigte weltoffene Deutschland bei seinem Fußballfest rund eine Million Gäste aus dem Ausland. Alle, die dabeisein werden, dürfen mit einem perfekt organisierten Turnier rechnen. Deutsche Gründlichkeit ist das eine, deutsche Herzlichkeit soll das andere sein, wenn sich dieses Land auf dem globalen Präsentierteller zeigt. Schließlich wollen die Gastgeber am Ende der High-Tech-Messe und Spitzensportparty nicht nur mit den modernsten Stadien der Welt in guter Erinnerung bleiben.”

Dirk Schümer (FAZ 09.4.) sieht die Bemühungen von Bundeskanzler Schröder und NRW-Ministerpräsident Clement um den in die finanzielle Krise zu geratenen deutschen Fußball “konform mit der abendländischen Tradition der Erlebnisgesellschaft”, indem der Autor an Mäzenatentum aus der “Historie des Sports” erinnert, zB an die florentinischen Medici oder Stasi-Mielke. “Schon die Gründung der britischen Profiliga gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erklärt sich aus der Einsicht der Aristokratie, dass sie den rumorenden Proletenmassen panem et circenses zur Ablenkung bieten musste. Selbst deutsche Fußballmythen wie die Bergmannself von Schalke 04 waren in Wahrheit geschickt inszenierte Rituale der Macht: Die Nazis ließen durch die Vollpofis Kuzorra und Szepan am Schalker Markt den Ball kreiseln und verbrüderten sich durch dieses Mäzenat mit der linken Bevölkerung der Industriereviere. (…) Konsequent wären jetzt außer Sofortkrediten und Steuererleichterungen für die Clubs wasserfeste Bestandsgarantien für die Spitzengehälter deutscher Ausnahmespieler wie Kahn, Effenberg, Möller, Ballack, Deisler, die allesamt an die fünf Millionen Euro jährlich verdienen. Mit direkten Beihilfen für solche rar gewordene Künstlernaturen würde die deutsche Sozialdemokratie, die in den letzten Jahren mit gutem Grund die Vorzüge von Brunello und Brioni entdeckt hat, sich konsequent in die Nachfolge der Medici und begüterter Regierungskollegen wie Berlusconi stellen. Deutschland, die graue Nation des grätschenden Schlechtwetterfußballs der Vogts und Kohler, würde durch diesen Befreiungsschlag endlich dastehen als ein Paradies für kickende Künstler, als Reservat für die bedrohte Schönheit des Netzerschen Steilpasses.”

Alexander Klose (FAS 14.4.) erklärt das Verhältnis von Fußballstars zum Christentum. “Ihre Inszenierungen ekstatischen Glaubens in gewaltigen Arenen erinnern an die großen Bibelverfilmungen Hollywoods, wo entrückte Sklaven die gespannte Aufmerksamkeit der tobenden Zuschauermenge im Circus Maximus nutzen, um noch angesichts des eigenen Todes die Überlegenheit des christlichen Glaubens zu demonstrieren. Zweifellos eine gelungene mediale Strategie, die magischen Kanäle einer degenerierten Kultur als Vehikel für eine Beförderung des Wahren und Guten zu benützen.”

“Im Geschäft mit dem Fernsehfußball überholt die Nationalmannschaft die Klubs”, schreibt Klaus Ott (SZ 23.4.). “Im deutschen Profi-Fußball steht eine Zäsur bevor. Die Nationalelf ist wieder begehrt (…) Länderspiele, Europa- und Weltmeisterschaften sind eben doch etwas Besonderes, da stimmen die Einschaltquoten im Fernsehen. Die Klubs müssen schauen, wo sie bleiben. Das Überangebot der TV-Ware Vereins-Fußball führt zu nachlassendem Interesse und sinkenden Preisen (…) Mehr als 500 Spiele der deutschen Klubs sind in dieser Saison live auf dem Bildschirm zu sehen (…) Wer das konsumieren soll, darüber haben sich weder der FC Bayern noch die anderen Klubs rechtzeitig Gedanken gemacht. Mehr Spiele und mehr Übertragungen führten automatisch zu ständig steigenden TV-Erlösen, glaubte auch Bayern-Manager Uli Hoeneß, der seit über 20 Jahren im Geschäft ist. Nach der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, als die deutsche Mannschaft im Viertelfinale mit einem 0:3 gegen Kroatien ausschied, kündigte Hoeneß „gewaltige Veränderungen“ an. Der Bayern-Manager propagierte die Trennung der Bundesliga vom DFB, hinzu kamen Pläne für eine kommerzielle Europa-Liga, die dann zu einer Erweiterung der Champions League führten. Die Nationalelf drohte ins Abseits zu geraten. Es werde nicht länger „Länderspielausflüge nach Malta“ geben, drohte Hoeneß. Es sei der „helle Wahnsinn“, den Klubs mit solchen Touren, lukrative TV-Auftritte zu vermasseln. Auch Franz Beckenbauer sah die Zukunft des Fußballs in den Vereins- Wettbewerben und in einer Europaliga. Dem Nationalteam gab der Bayern- Präsident keine großen Chancen mehr. Später ließ sich Beckenbauer für die deutsche Bewerbung um die WM 2006 einspannen und nach dem Zuschlag diverse Denkmäler setzen.”

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