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„Gedulds- und Zermürbungsspiel“

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für „Gedulds- und Zermürbungsspiel“

Nach einem erfolgreichen „Gedulds- und Zermürbungsspiel“ bemerkt Roland Zorn (FAZ 17.6.). „Niemand sonst, allenfalls noch die Italiener, übersteht bei den großen Turnieren des Planeten Schwächeanfälle so kerngesund wie der deutsche Fußball (…) Gerade solche K.-o.-Treffer in der letzten Runde, in diesem Fall dank Neuvilles Tor in der 88. Minute, haben den Mythos von den unerschütterlichen Deutschen in der Fußballwelt begründet. Spielte die Mannschaft dagegen zur Abwechslung mal richtig schön und gut, mochten es die Beobachter aus anderen Ländern meist gar nicht glauben. Trotz eines Beckenbauer, trotz eines Netzer, trotz eines Overath – der deutsche Fußball stand immer unter dem manchmal beckmesserischen Vorbehalt der Ästheten.“

Ludger Schulze (SZ 17.6.) zum Spiel der Deutschen. „Mit Schmackes hatte man den Ball in die entlegensten Ecken des Platzes gedroschen, als wäre es unter Androhung einer Zuchthausstrafe untersagt, ihn zu einem eigenen Mitspieler zu befördern. Und auf den Tribünen rätselten Beobachter, wie edle Fußballer, die schon die wertvollsten Pokale erobert haben, derart scheußliche Gewalttaten an einer unschuldigen Plastikblase verüben konnten. Englands Presse verlieh dem Achtelfinale Deutschland – Paraguay großzügig den Hässlichkeitspreis und stufte sie in der Kategorie der Partie England vs. Nigeria (0:0) ein – eines Kicks, der bei Zuschauern Schlafstörungen, Übelkeit und Migräneanfälle hervorgerufen haben soll. Haben die Menschen auf der südkoreanischem Insel Jeju geahnt, was auf sie zukommen würde? Nur 25.176 Zuschauer hatten für den bisher schlechtesten WM-Besuch gesorgt und dabei eine Atmosphäre wie beim Tanztee auf einem Unterhaltungsdampfer geschaffen.“

Zum „mühsamen“ 1:0-Sieg meint Frank Ketterer (taz 17.6.). „Vorerst vom Tisch dürfte die Partie gegen Paraguay übrigens auch die für Völler leidige Diskussion über die richtige Abwehrformation gewischt haben. Zwar hatte der Teamchef, dem Wunsch seiner Spieler entsprechend, zunächst eine Viererkette mit Frings, Rehmer, Linke und Metzelder ins Rennen geschickt, vor allem auf das Spiel nach vorne aber wirkte sich das eher hemmend aus. Erst als der Teamchef nach der Pause den agilen Sebastian Kehl für den schwachen Marko Rehmer brachte und wieder auf Dreierreihe umstellte, kam mehr Bewegung und Drang ins deutsche Spiel; in der Partie gegen Kamerun war es genau umgekehrt, was die ganze Diskussion ja erst angezettelt und Völler den Vorwurf eingebracht hatte, er würde mit dem falschen System spielen lassen.“

Ludger Schulze (SZ 17.6.) portraitiert Kapitän Kahn. „Ihn als die Seele des Teams zu bezeichnen, wäre zu kurz gegriffen. Er ist weit mehr. Behutsam hat er seinen Mitspielern den Glauben an sich selbst eingeflößt, ihnen wie ein Schamane Kräfte zugesprochen, die eigentlich nicht vorhanden waren (…) Noch nie, nicht einmal zu Franz Beckenbauers Zeiten, hat die deutscheNationalmannschaft einen so einflussreichen Kapitän gehabt. Und anders als starke Charaktere wie früher Toni Schumacher oder Paul Breitner zieht Kahn keinerlei Antipathie aus dem Kollegenkreis auf sich. Niemals zuvor hat sich eine derartige Machtfülle so wohltuend für das Ganze ausgewirkt. Weil Kahn, der Solist zwischen den Pfosten, ein großartiger Mannschaftsspieler ist. Das deutsche Team hat nicht nur den besten Schlussmann, es stützt sich auf die größte Persönlichkeit des aktuellen Weltfußballs.“

Aus dem Spiel zieht Jan Christian Müller (FR 17.6.) Lehren. „Das verdient ehrlichen Respekt, auch wenn es derzeit noch schwer fällt, deshalb in überschwängliche Begeisterung zu verfallen. Bei aller Freude über den Sieg bleibt nämlich auch die Gewissheit, dass der deutsche Fußball im Ausland längst kein gängiger Markenartikel mehr ist. In Sapporo und Seogwipo waren die Stadien jeweils nur zu knapp zwei Dritteln gefüllt, wenn die DFB-Auswahl Flanken schlug. In Japan und Südkorea kennen die jungen Fans Beckham und Figo und del Piero und Zidane und jetzt auch neuerdings ihre eigenen Stars. Kahn immerhin ist allerorten ein Begriff. Ballack, Klose? Schulterzucken. Vielleicht schon mal gehört. Der aktuelle Stellenwert der deutschen Spieler ist also nicht sonderlich beeindruckend.“

Felix Reidhaar (NZZaS 16.6. ) sieht den 1:0-Sieg gegen Paraguay im allgemeinen Trend. „Unter Rudi Völler wurde nicht nur, wie Günter Netzer dies kürzlich dem Selfmade-Coach bescheinigte, eine Abwärtsentwicklung gebremst. Sein Kader, das er in der Vorrunde schon beinahe ausschöpfen musste, scheint vielmehr im Begriff, in diesen Tagen in Asien wieder zu dem zusammenzuwachsen, was man eine Turniermannschaft nennt. Die Rückkehr auf den Pfad der früher so oft beschworenen „deutschen Tugenden“ ist die wesentlichste Erkenntnis des ersten Achtelfinals dieser Endrunde, der die typischen Attribute eines Ausscheidungsspiels trug (…) Siegeswillen, Kampfbereitschaft und das Erzwingen des Glücks haben sich unter den weiß gewandeten Internationalen mit dem schwarzen Adler auf der Brust jedenfalls wieder harmonisch vereint (…) Nach vorne geschah auch im deutschen Team mäßig Originelles in diesem an Torsituationen armen Match. Aber Völler trat für einmal der Kritik an seinen schlichten Konzepten beziehungsweise taktischen Mängeln entgegen, indem er nach der Pause den „Handwerker“ Rehmer durch den Konstrukteur Kehl ersetzte. Dadurch und auch dank der Steigerung des Ideengebers und Läufers Schneider kamen mehr Konturen ins Spiel, nahm zuweilen so etwas wie Druck zu und bestimmte fortan ein Team das Geschehen.“

Es war wahrlich kein schönes Spiel. Roland Zorn (FAS 16.6.) über diesbezügliche Ursachen. „Dass dabei die Paraguayer nicht mitmachten, hatte mit einer eingebauten Verweigerungshaltung zu tun: Die Mannschaft ist ein gefürchteter Partykiller des internationalen Fußballs (…) Der bald abgelöste Weltmeister Frankreich – sollte das ein gutes Omen sein? – bekam es vor vier Jahren gleichfalls im Achtelfinale mit Paraguay zu tun, siegte durch ein Golden Goal von Laurent Blanc 1:0 und „würgte sich auch einen ab“, wie Völler, der damals in Lens zugeschaut hatte, genau weiß.“

Die Perspektiven der deutschen Elf analysiert Uwe Marx (FAS 16.6.). „Natürlich gibt es keine Fußballgleichung, die besagt, dass den Titel holt, wer Paraguay im Achtelfinale schlägt. Es gibt aber auch keine Regel, die festschreibt: Wer so spielt wie Deutschland, der wird bei dieser WM nicht weit kommen. Zwar scheint Rudi Völlers Mannschaft tatsächlich spielerisch zu berechenbar zu sein. Aber es gibt ja schon seit langem die Gewissheit, dass auch schmuckloser Fußball erfolgreicher Fußball sein kann (…) Insofern befindet sich Deutschland in guter Gesellschaft: unter lauter Mannschaften nämlich, die wacker ihr Bestes geben, die zwar nicht dauerhaft glänzen, aber zumindest punktuell für etwas Licht bei dieser WM sorgen. Mit mehr ist nicht zu rechnen.“

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