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„Gruppe des Todes“

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für „Gruppe des Todes“

„Wie kann es so weit kommen, dass die braven Schweden als sensationelle Sieger aus der „Gruppe des Todes“ hervorkommen?“ fragt Martin Hägele (NZZ 13.6.). „Das hat damit zu tun, dass die „Gauchos“ ihre überragende Form aus der Südamerika-Qualifikation nicht konservieren konnten und ausgerechnet mitten im Turnier die Hierarchie des Teams durcheinander geraten war: Coach Bielsa wusste offensichtlich nicht mehr, auf welchen Regisseur er setzen sollte, nachdem sich Véron gegen England nicht als Leader bestätigt hatte.

Die Reaktionen der argentinischen Spieler nach dem Ausscheiden fasst Martin Hägele (taz 13.6.) zusammen. „Zu klaren Worten war keiner in der Lage. Wenn eine Epoche zu Ende geht, bevor sie überhaupt richtig beginnt, kommen im ersten Augenblick nur Gefühle zu Tage (…) Sie hatten sich geweigert, überhaupt an die Möglichkeit des Ausscheidens zu denken. Selbst als sie gesehen hatten, was mit Weltmeister Frankreich passiert war. „Wieso soll ich nach meinen Koffern schauen?“, hatte Ariel Ortega mögliche Ängste vor einem ähnlichen Schicksal weit von sich gewiesen (…) Vom Anpfiff an standen die Ersatzspieler in ihrem Häuschen, als würden die Kollegen deshalb die Kugel früher im Netz versenken. Und Marcelo Bielsa, Welttrainer des Jahres 2001, bewegte sich so aufgeregt, als betreue er zum ersten Mal eine Jugendmannschaft.“

Zum 1:1-Remis zwischen Argentinien und Schweden schreibt Peter Heß (FAZ 13.6.). „Die schwedische Viererkette Mellberg, Mjällby, Jacobsson und Lucic wehrte sich beharrlich wie ein Ikea-Regal gegen das Auseinandergenommenwerden. Die Argentinier versuchten alles: Angriffe über die Flügel, durch die Mitte, mit kurzen Pässen, mit Zuspielen aus der Distanz. Und so manches Mal schienen sie die Anleitung zur Demontage gefunden zu haben. Aber im letzten Moment klemmte immer irgend etwas. Argentinien präsentierte sich auch nach dem Ausscheiden als Einheit. Keine Schuldzuweisungen, keine Vorwürfe.“ Ronald Reng (FR 8.6.) zu Englands Sieg. „Selten wurde ein so organisiertes und mit solcher individuellen Klasse gefülltes Team derart systematisch beherrscht wie Argentinien bei der 0:1-Niederlage von den Engländern (…) So hat man England seit Jahren nicht mehr in einem großen Spiel Fußball spielen sehen: Die Kontrolle, die taktische Organisation und auch die individuelle Brillanz waren etwas für große Videoabende.“

Peter B. Birrer (NZZ 13.6.) über ein „belangloses Remis“. „Hier die Engländer, die schon vor dem Spiel wussten, dass sie auch mit einem Unentschieden für die Achtelfinals qualifiziert sind; deswegen erstaunte nicht, dass sie nur selten willig den Weg nach vorne einschlugen. Dort die Nigerianer, die bereits ausgeschieden waren und offensichtlich auch nicht mehr stark in die Entscheidung dieser starken Gruppe F eingreifen wollten. So endete der heiße und feuchte Nachmittag in Osaka, wie Fußballspiele in derlei Fällen meistens auszugehen pflegen: 0:0.“

Ronald Reng (SZ 13.6.) über die Reaktionen der englischen Spieler nach dem 0:0 gegen Nigeria. „Dass die Engländer Genugtuung am Leiden der Argentinier finden, ist für jeden erklärbar, der erlebte, wie sich die Südamerikaner nach dem 0:1 gegen England vor fünf Tagen in Sapporo benahmen. Nach Schlusspfiff verweigerten etliche ihrer Spieler den Handschlag, Englands Rechtsverteidiger Danny Mills wurde im Kabinengang angespuckt, Paul Scholes noch eine halbe Stunden nach Spielschluss von Matias Almeyda vor Journalisten primitiv beschimpft. Da wurde angesichts des argentinischen Ausscheidens die eigene Qualifikation in Osaka für England fast zur beiläufigen Notiz.“

Die argentinische Presse (Clarín 8.6.) über das System Bielsa. „Ein System, das sich erstens durch Spielkontrolle und zweitens durch die Bevorzugung der Mannschaftsdynamik vor den Individualitäten auszeichnet. Diese strategische und taktische Entscheidung basiert auf Spieldisziplin, Pressing, Solidarität, eingespielten Angriffsaktionen und unermüdlichem Einsatz.“ Es sei ein europäisches System, in dem die Spieler sich mehr um ihre Verpflichtungen denn um ihre fußballerischen Freiheiten kümmern müssen. Bielsa traf eine Spielerauswahl, die dieses System bereits kenne und vertreten könne, weil sie gewöhnt sei, nach „europäischen Rhythmus“ zu spielen. Dies sei auch der Grund, warum ein sensationeller Spieler wie Riquelme nicht an der Weltmeisterschaft teilnehmen könne. Man anerkennt die Erfolge dieses Systems bei Begegnungen mit südamerikanischen Mannschaften, bei einer Begegnung mit einer europäischen Mannschaft jedoch sei das System in Frage zu stellen. Es gehe nun darum, dass die Spieler das Modell wiederfinden, indem sie „das Pressing als ihre Flagge, die Offensive als ihr Wappen und die Geschwindigkeit als Schlüsselwort für ihr Spiel definieren“. Mit diesen Prinzipien habe die Mannschaft das Recht erobert, Kandidat auf der Weltmeisterschaft genannt zu werden.

Peter Heß (FAZ 8.6.) sah ein gutes Spiel. „Der Klassiker England gegen Argentinien, das Spiel der Spiele der WM-Vorrunde 2002, entwickelte sich nicht zum befürchteten Fußballkrieg, aber auch nicht zum erhofften Fußballfest. Nach einem etwas zähen Beginn, wurde es aber zu einem weiteren aufregenden und gutklassigen Spiel dieser niveauvollen WM. Und auch das Publikum leistete seinen Beitrag. Obwohl die Fangruppen aus England und Argentinien in vielen Blöcken buntgemischt saßen, blieb es auf den Rängen bei aller Stimmung friedlich. Auf dem Spielfeld dämpfte Pierluigi Collina die Emotionen.“

So heftig wie die englischen Zeitungen ihr Team nach dem letzten Unentschieden gegen Schweden noch kritisierten, so bejubeln sie diesmal die Leistung der englischen Kicker gegen Argentinien. Sean Ingle (Guardian) die Gemütslage Beckhams zwischen dem Aufeinandertreffen 1998 und dem gestrigen Spiel. „Er schaute drein wie jemand, der ein oder zwei Dämonen ausgetrieben hat. Letztes Jahr Deutschland, jetzt Argentinien. Was kommt als nächstes? England hat eine sehr gute Leistung gezeigt, nicht nur weil Argentinien geschlagen wurde, sondern insbesondere wie der englische Sieg errungen wurde.“ Bei der Elfmeterentscheidung will man sich allerdings nicht festlegen: „Schiedsrichter Pierluigi Collina hatte keine Zweifel, selbst wenn wir welche hatten: Elfmeter. Der Elfmeter war sicherlich nicht der beste von Beckham, wahrscheinlich sogar der schlechteste.“ Eine interessante Randnotiz: „Gleich nach dem Sieg haben die englischen Buchmacher die Quote eines englischen Turniererfolgs von 16:1 auf 7:1 reduziert. Von jämmerlich zu Weltklasse in 90 Minuten: Wie schnell sich doch die Umstände ändern können.“

Auch die Irish Times (8.6.) wollte den Sieg der Engländer gegen Argentinien nicht schmälern: „Ein Elfmeter von David Beckham katapultierte England zu einem 1:0-Sieg über den Turnierfavoriten Argentinien in einem packenden „Todesgruppen-Showdown“ im Sapporo Dome. Es war ein verdienter Sieg für England, das sich eine ganze Serien von Möglichkeiten in der zweiten Halbzeit erspielte und dann dem furiosen Druck der Argentinier widerstand. Sie errangen damit einen glanzvollen Sieg und rächten ihre Niederlage gegen die alten Rivalen bei der WM 1998.“

Die NZZ (8.6.) über das Spiel Argentinien gegen England. „Zwar war der Vergleich jederzeit engagiert, vor allem in der zweiten Halbzeit auch von mehr Chancen geprägt, der Spielfluss blieb jedoch bis zum aufwühlenden Finish durch viele Fouls unterbunden. Erst in den letzten 20 Minuten legten die Argentinier unter der Regie von Pablo Aimar ihre Zurückhaltung ab und schnürten die Engländer in der eigenen Platzhälfte ein. Mit etwas mehr Réussite hätte das Team von Trainer Bielsa durchaus ein Remis erreichen können.“

Die hilflose Reaktion des argentinischen Trainer Bielsa kommentiert Peter B. Birrer (NZZ 8.6.). „Als die Leiden vorbei waren und Marcelo Bielsa zur Medienkonferenz erschien, sah er sich im Schweiße seines Angesichts zu keinem vernünftigen Kommentar fähig. Plattitüde folgte auf Plattitüde. Deutlich wurde einzig, dass Bielsa, den man wegen seiner oftmals abschweifenden Art im eigenen Land „den Verrückten“ (el loco) nennt, nach diesem gar nicht etwa entscheidenden Gruppenspiel nudelfertig war. Ob er durchhält, wenn seine Spieler später im KO-System gestoppt werden sollten?“

Was man von den bereits ausgeschiedenen Nigerianer im letzten Spiel gegen England zu erwarten hat? Martin Hägele (taz 8.6.) dazu. „Dass sie, nur weil sie keine Chance aufs Weiterkommen mehr haben, Punkte oder Tore verschenken, nein nicht mit ihnen. In der „Gruppe des Todes“ ein Spiel zu verschieben, das würde nicht zu ihrem bisherigen Auftritt passen. Die Welt soll sie gut in Erinnerung behalten. Im Falle Julius Aghahowa muss sie das sogar.“

Martin Hägele (NZZ 8.6.) über den lebhaften Beginn der Partie Schweden-Nigeria (2:1). „Die Befürchtungen des Publikums, aus Angst vor der Tabellensituation würden beide Teams nur vorsichtig spielen und sich auf ein Unentschieden konzentrieren, erwiesen sich schnell als unbegründet. Mit vier Torchancen allein in den ersten drei Minuten dürfte nur selten einmal ein schwedisches Nationalteam einen Match eröffnet haben.“

Ronald Reng (SZ 7.6.) über den „einzigen interkontinentalen Klassiker des Fußballs“. „Normalerweise braucht eine Rivalität Nähe. Brasilien gegen Argentinien, England gegen Deutschland, Deutschland gegen die Niederlande sind Hasslieben des Fußballs; unter Nachbarn geht man sich leicht auf die Nerven. Argentinien und England aber trennt ein Ozean. Genau das scheint die Essenz ihrer Rivalität zu sein: Sie halten sich für so gegensätzlich. Bereitwillig besetzen Engländer und Argentinier auch diesmal wieder die Klischees: hier die guten Engländer. Die naiven Engländer, sagen die Argentinier. Dort die mit allen Wassern gewaschenen Argentinier. Die betrügerischen Argentinier, sagen die Engländer.“

Die Bedeutung dieses Aufeinandertreffens in der argentinischen Öffentlichkeit kommentiert Josef Oehrlein (FAZ 7.6.). „Im heutigen Argentinien käme niemand auf die Idee, einen Sieg der heimischen Fußballmannschaft über England als Racheakt für die damals erlittene Schmach anzusehen. Das Spiel im japanischen Sapporo ist ja nicht die erste Begegnung beider Länder seit dem Krieg im Südatlantik. Aber mehr noch als bei diesen früheren Aufeinandertreffen, zuletzt bei der Weltmeisterschaft in Frankreich 1998, würde diesmal ein Sieg über England den Argentiniern eine große Genugtuung bringen. Das hängt mit ihrer komplizierten Seelenlage in der nicht enden wollenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des Landes zusammen. Ein Fußballtriumph gerade über England wäre das beste Mittel zur Linderung der Phantomschmerzen, an denen die Argentinier wegen der Tölpelhaftigkeit ihrer Politiker leiden.“

Über die politische Bedeutung eines bevorstehenden Spiels Peter B. Birrer (NZZ 6.6.). „Der Vergleich mit Argentinien wird der Mannschaft von Trainer Sven-Göran Eriksson einiges mehr abfordern als derjenige mit Schweden (…) England gegen Argentinien, das ist ohnehin ein Ereignis, das nur so gespickt ist mit Animositäten, mit längst vergangenen Geschichten, mit Rivalitäten, mit wunderbaren Toren, mit sportlichen Dramen – und seit dem Falkland-Krieg 1982 auch mit einem politischen Hintergrund, den der Ball bis heute nicht zu verdrängen vermag. Im Gegenteil, er ist das geeignete Medium, um alte Dinge hervorzuholen, vieles nochmals und immer wieder aufzuwärmen, und am Ende wird einem das Gefühl vermittelt, als sei die WM nach diesen 90 Minuten womöglich bereits ad acta zu legen. Das ist natürlich barer Unsinn.“

Der Guardian (5.6.) titelt. „Erikssons argentinische Liebesaffäre könnte sein Niedergang sein.“ Der Observer spielt dabei auf den Fakt an, dass Eriksson in seiner Zeit als Trainer von Lazio Rom nicht weniger als fünf Argentinier verpflichtete und bis auf Sensini alle den Sprung in die argentinische Nationalmannschaft geschafft haben. „Eriksson wünscht sich wahrscheinlich ein späteres Aufeinandertreffen. Während England zerlumpt und abhängig von verletzten Spielern ist, ist Argentinien komplett.“ Vor allem seine Verehrung für Veron kann Eriksson schwer verbergen. „Sein Respekt für den Mittelfeldmann von Manchester United wurde auch nicht durch die schlechte Saison in Old Trafford getrübt. Veron ist so was wie ein Liebling von Eriksson. „Aber es ist nicht unmöglich sie zu schlagen,“ fügt Eriksson hinzu. Die kritische Haltung der englischen Medien repräsentierend schließt der Observer süffisant mit der Bemerkung „Werden wir ja sehen.“

Den Stil der Argentinier beschreibt Martin Hägele (NZZ 3.6.). „Reichen gut einstudierte Eckbälle auch aus, um in vier Wochen die beste Fußballmannschaft auf dem Planeten zu sein? Dem Naturell oder Charakter der zwei argentinischen Auswahlen, die 1978 und 1986 das WM- Turnier dominiert hatten, entspricht dieser Stil gewiss nicht. Ästheten werden sich kaum in die neue Generation von Fußball-Gauchos verlieben.“

Nie zuvor sei die Notwendigkeit eines fußballerischen Erfolgs als ein eigenes Identitätszeichen vor der Welt spürbarer gewesen, berichtet die spanische Zeitung El País (2.6.) über Argentiniens Sieg gegen Nigeria. Ein Land, das während neunzig Minuten in Stillstand geriet, sah wie seine Mannschaft „einen ersten schwierigen Schritt“ (Argentiniens Tageszeitung Clarín vom 2.6.) gemacht hatte, um einen wichtigen Sieg zu erzielen. „Ein überzeugender Sieg, der nirgendwo in Frage gestellt wird, weil, obwohl es keine glänzende Vorstellung war. Argentinien zeigte deutlich, warum es einer der größten Kandidaten für den Weltmeistertitel ist“.

Ronald Reng (FR 3.6.) hat erneut zwei Gesichter der englischen Mannschaft gesehen. „Wieder einmal hat England gezeigt, welches Potenzial das Team besitzt; und wieder einmal hat es das nicht ausgenutzt. Es ist dieselbe alte Geschichte, seit Jahren schon. Weil die Elf das Publikum mit guten Phasen ahnen lässt, dass es das Halb- oder Viertelfinale einer WM erreichen könnte, ist es umso frustrierender, sie regelmäßig zusammenklappen zu sehen (… Schweden) spielte nämlich in der letzten halben Stunde sensationellen Angriffsfußball; das heißt: sensationell für schwedische Verhältnisse. Bei allen anderen Mannschaften hätte man gesagt: ordentlichen Angriffsfußball. Für die chronisch offensivscheuste Nationalelf im Spitzenfußball war es eine Revolution, wie sehr Schweden England am Ende zusetzte.“

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