Ballschrank
Halbfinal-Rückblick
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| Donnerstag, 25. März 2004
(of) Die abfälligen Urteile, die viele Berichterstatter über Wesen und Sosein italienischen Fußballs erneut und gerne losgeworden wären, müssen einerseits nach dem begeisternden Sieg Juventus Turins über Titelhalter Real Madrid, bis zu nächsten Gelegenheit zurückgehalten werden. “Wohl nicht einmal mehr in Spanien“, vermutet die FAZ, „wird nach einem glanzvollen Auftritt noch irgend jemand wagen, italienische Fußballer mit Höhlenmenschen zu vergleichen“, wie geschehen. Nun gut, in spanischen Tageszeitungen werden deutsche Fußballer auch schon mal als geklonte Fließbandarbeiter dargestellt. „Als hätten die beiden Teams die Trikots gewechselt“, reibt sich die NZZ ob der offensiven Turiner Spielausrichtung die Augen, die der spanischen Weltelf die Schau stiel. Und die Financial Times Deutschland schreibt: „Nichts war zu spüren von dem Kulturkampf, der zuvor wie folgt beschworen worden war: Offensiver Herzblut-Fußball auf der spanischen Seite, Riegeltaktik auf der italienischen.“
Andererseits hat das zweite Halbfinale der Champions League viele Befürchtungen bestätigt. Beim Stadtderby in Mailand, der „Hauptstadt der Fußball-Masochisten“, sah die FAZ das „Aufeinandertreffen zweier Verhinderungsmannschaften“, denn „nach guter Catenaccio-Art hatten die Spieler tüchtig reklamiert, gestikuliert und gerempelt wie auf dem Mailänder Gemüsemarkt.“ Unabhängig von der sportlichen Qualität belegte die eindrucksvolle Stimmung bei beiden Spielen, wie der Fußballsport „auf dem Stiefel“ wahrgenommen wird, als „große Oper und mit starker Emotion“, wie die SZ mitteilt. Die NZZ veranschaulicht: „In der surrealen Stimmung der italienischen Arenen, in diesem brodelnden Inferno aus Lärm und heissem Atem, agieren die Spieler wie in Trance. Es unterlaufen ihnen panische Fehler. Jeder spielt um sein Überleben. In den Fussballstadien ist etwas von der Mentalität der Gladiatorenkämpfe erhalten geblieben, die Grausamkeit und Leidenschaft des Publikums, List und Verschlagenheit der Spieler, die irgendwie ihre Haut retten wollen. Brot und Spiele.“
Ein Spieler stand in Turin im Mittelpunkt. Vorher, während der 90 Minuten und besonders nachher. „Der Spieler, der Italiens Meisterschaft entscheidet“, wie die FAZPavel Nedved „wegen anhaltender Weltklasseform“würdigt, ist nach brillantem Spiel und einer Verwarnung für das Endspiel in 14 Tagen gesperrt. Den direkten Vergleich mit seinem Vorgänger Zidane hat der nach Abpfiff todtraurige Tscheche jedenfalls gewonnen. Premiere-Kommentator Franz Beckenbauer hatte den wie kein Zweiter beidfüßig Torgefährlichen – die ansonsten präzisen Beobachter von der FR halten ihn irriger- jedoch bezeichnenderweise für einen Linksfuß – kürzlich als soliden Handwerker dargestellt, der eine Liga tiefer spiele als Figo, Raúl Co. Die BLZ korrigiert diesen Irrtum: „Er ist kein Zauberer wie Zidane, er ist ein moderner, realistischer Spieler, flächendeckend torgefährlich, ein italienisch gefärbter Ballack. Er ist kreativ und verbissen, ein Spielmacher mit Terrierqualitäten – er ist das, was Real fehlte.“
Den Gegner ausbremsen, aber auch das Publikum unterhalten
Birgit Schönau (SZ 16.5.) räumt mit Vorurteilen über italienischen Fußball auf. „„Der italienische Fußball ist nicht so schlecht, wie alle gedacht haben“, wiederholte Juves Trainer Marcello Lippi nach dem Triumph über Real Madrid so oft, als müsse er sich selbst davon überzeugen. Der erfahrene Lippi weiß, dass hinter jedem Erfolg italienischer Mannschaften das Phantom des Catenaccio vermutet wird. Tatsächlich wirkt es in seinem Ursprungsland Italien nur noch durch den Argentinier Hector Cuper bei Inter Mailand, wo kaum noch Italiener spielen. Inter ist nach zwei quälend ereignislosen Halbfinals endlich ausgeschieden, zur riesigen Erleichterung vieler Fußballfans auch in Italien. Hinter dem Erfolg von Milan und Juventus verbergen sich die Überwindung sturen Defensivfußballs und Jahre harter Aufbauarbeit. Der AC Mailand war vor allem in der ersten Phase des Wettbewerbs durch spektakuläre Offensiveinsätze aufgefallen, Juventus stürmte gegen Real in beeindruckender Weise bis zum Schluss. Sie haben die Arroganz und Lässigkeit ablegen müssen, die Italiens Fußball zu seinen Glanzzeiten kennzeichnete, und Mannschaften geschaffen, die den Gegner auszubremsen, aber auch das Publikum zu unterhalten wissen. Vielleicht haben sie auch von der verächtlichen Attitüde profitiert, die ihnen zuletzt entgegenschlug.“
Adlige Spielweise
Dirk Schümer (FAZ 16.5.) lobt den Sieger aus Turin. „Als Höhlenbewohner des Fußballs hatte man zumal in Spanien die italienischen Defensivspezialisten verspottet. Und nun wurde der Sieg von Juventus gegen die Titelverteidiger von Real Madrid zu einer Lehrstunde, wie ein hochintelligentes Kollektiv aus einer starken Abwehr heraus den Gegner mit quasichirurgischen Schnitten bezwingen kann. So entdeckte Italiens euphorisierte Sportpresse bei der alten Dame Juve gar adlige Spielweise. Es war die souveräne, leichtfüßige Art, mit der Juventus die favorisierten Madrilenen bezwang, die begeisterte. Sämtliche drei Tore der Italiener waren die Frucht brillanter Kombinationen (…) Markante Details kündigten das schleichende Ende der großen Mannschaft von Madrid an, die den Wettbewerb in den vergangenen fünf Jahren dominiert und gleich dreimal gewonnen hatte. So vermochten sich weder Zidane noch Figo vor dem Turiner Strafraum mit ihren gefürchteten Anspielen durchzusetzen, weil vor allem Thuram, Tudor und Zambrotta mit Raumdeckung und aggressivem Forechecking den Spaniern schlicht die Luft abschnürten und weil Montero so gut wie jeden Zweikampf gewann. Hier veredelte man den Catenaccio zur hohen Schule des produktiven Verteidigens. Im Gegenzug legten die Turiner Reals Schwächen gnadenlos offen (…) Nur Pavel Nedved, der bei Spielschluß schluchzend wie ein Verlierer zusammenbrach, wurde mit einer Verwarnung, die ihn automatisch für das Endspiel disqualifiziert, neun Minuten vor Spielende zum tragischen Helden. Unnötigerweise hatte er McManaman an der Mittellinie gefoult und gab hinterher zu, in der gewohnten Leidenschaft nicht über die Konsequenzen nachgedacht zu haben. Dieser Fehler, der ihn einen Lebenstraum kostet, wurde von den pathetischen Italienern sogleich zur endgültigen Aufopferung, zur Ekstase, zum Drama des Pavel Nedved verklärt.“
Beileibe nicht der Erfolg des Destruktiven
Claudio Klages (NZZ 16.5.) schreibt. „Tränen, Freudentaumel, Küsse, Umarmungen – die Piazza San Carlo im Stadtzentrum erbebte am Mittwochabend buchstäblich. Um 22 Uhr 37 schien sich ganz Turin gehen zu lassen – und der Kater am anderen Morgen dürfte das Bruttosozialprodukt der Stadt kaum in die Höhe getrieben haben. Una festa, wie sie im „Land des Fussballs“ nicht schöner und spontaner zelebriert werden könnte. Juventus und die AC Milan werden sich am 28.Mai im Endspiel der Crème des europäischen Fussballs gegenüberstehen, die einstmals beste und teuerste Liga der Welt hat offenbar wieder an Strahl- und Anziehungskraft zurückgewonnen, auch wenn dies nur eine Momentaufnahme sein kann. Nach sieben mageren Jahren, seit dem Champions-League-Sieg der Juve in Rom gegen Ajax Amsterdam, stehen die Italiener wieder zuvorderst im Licht der Fussballbühne, von der die zuletzt dominanten Spanier brüsk weggestossen worden sind – zuletzt Real Madrid, der Titelhalter. Dabei schien der Calcio in diesem Land noch im vergangenen Sommer am Boden zerstört. Die „Verschwörung Blatters“ gegen Italien an der Weltmeisterschaft, der Abgang des WM-Helden Ronaldo durch die Hintertüre in die spanische Meisterschaft, das fehlende Betriebskapital, die Absage an einen lukrativen Mercato, die Streikdrohungen der Habenichtse gegen die Grossen, der verspätete Beginn der Meisterschaft – Italiens liebstes Kind schien im Chaos zu versinken. Doch die Klubs zogen sich gemeinsam aus dem Sumpf, besannen sich ihrer eigenen Stärken und Kräfte, brachten ihre Haushalte zwar noch nicht ins Gleichgewicht, lenkten sie aber wenigstens in vernünftigere Bahnen. Seit dem brillanten Auftritt des alten und neuen italienischen Meisters gegen die kräftemässig ausgelaugten „Königlichen“, die den Zenit mit den Spielen gegen Manchester United offenbar überschritten haben, dürften allerdings auch die notorischen Kritiker des „Zerstörer- Stils“ mundtot gemacht worden sein. Die Finalteilnahme zweier italienischer Teams ist beileibe nicht der Erfolg des Destruktiven, auch wenn der Vorstoss von Inter unter die letzten vier derartige Unterstellungen durchaus geschürt hatte. Die Champions League war zwar in den letzten Jahren wiederholt ein Gradmesser, an dem sich ablesen liess, wie enorm sich der Fussball entwickelt. Wer etwas gewinnen wollte, musste beherzt und kreativ spielen, aber auch der Schadensbegrenzung den entsprechenden Stellenwert einräumen. Partien wie Real – ManU, jene Ah!- und-Oh!-Erlebnisse, sind ohnehin Ausnahmen im Fussball-Business. Wer nun Häme über die beiden Finalisten verschüttet, dem sei nicht nur Juves jüngste Vorstellung im Delle Alpi, sondern auch Milans Leistungsausweis in der ersten Phase vor Augen geführt: Klubs wie Bayern München, Lyon und La Coruña, Dortmund und auch Real hatten gegen die „Diavoli“ das Nachsehen.“
Los, Juve, friss sie auf
Birgit Schönau (SZ 16.5.) berichtet begeisterte Atmosphäre. „Wie oft ist das Stadio delle Alpi als kalte Betonschüssel gescholten worden, eine graue, abwehrend wirkende Kulisse, die sich selten mit Menschen füllte. Juventus hat keine Heimspiele, heißt es in Italien, weil das Stadion keine Heimatgefühle aufkommen lässt und das Turiner Publikum für seine Zurückhaltung berüchtigt ist. Auch am Mittwoch wehten aus den Fenstern der Wohnkasernen, die die Stadt gegen die Arena abgrenzen, mehr Regenbogenfahnen der Friedensbewegung als Juve-Banner. Understatement, das ist ihr Stil. Bei Juve heißt es „umiltà“, Demut, und Marcello Lippi wiederholte das Zauberwort auch nach dem 3:1-Triumph seiner Mannschaft gegen Real Madrid und den Einzug ins Champions-League-Finale, der viele Trainer berauscht hätte. Nicht ihn. Das Publikum aber, ausgerechnet die coolen Juve-Fans, hatten das Alpenstadion beben und vibrieren lassen, zuerst anfeuernd, dann lockend, zuletzt nur noch jubelnd, klatschend, trampelnd. Alle waren sie da, vom Juventus-Club Capranica, Provinz Viterbo, bis zum Juve-Club Gianni Agnelli, New York. Sie wollten die Vecchia Signora, die Verlobte Italiens gegen Real Madrid und ihren verlorenen Sohn Zinedine Zidane fliegen sehen – und die Juve flog. Eine Fledermaus schwankte die Tribünen entlang, auf der Suche nach Insekten, und viele deuteten auf sie wie auf einen Glücksbringer: Los, Juve, friss sie auf.“
Matti Lieske (taz 16.5.) referiert präzise Juves Erfolgsrezept. “Wir haben eine wunderschöne Partie gespielt, komplett aus allen Blickwinkeln, schwärmte Juve-Trainer Marcello Lippi vollkommen zu Recht. Umso mehr dürften den Coach jene Kommentare ärgern, die einen schlechten Tag der Real-Stars als Grund für den Turiner Sieg ausgemacht haben. Wir haben gut gespielt, analysierte Roberto Carlos, dessen Madrider Team in der zweiten Halbzeit unermüdlich attackierte. Wenn er selbst sowie Zidane, Figo oder Rekonvaleszent Raúl nicht zaubern konnten wie gewohnt, so lag das an der phänomenalen Defensive von Juventus Turin. Das Spiel könnte jederzeit als Schulungsvideo für Tacklings aller Art vertrieben werden und dafür, wie man selbst an raffinierteste Anspiele noch seine Fußspitze bekommt. Anders als Dortmund oder Manchester schaffte es der neue italienische Meister mit seiner schier undurchdringlichen Viererkette und den beiden Arbeitstieren Davids und Nedved, Reals filigrane Kombinationen schon tief im Mittelfeld zu stören. Das war zugleich Gift für Reals viel geschmähte Verteidigung, obwohl diese längst nicht so schlecht ist wie ihr Ruf. Da aber bei Ballbesitz sehr viele Real-Spieler sehr weit aufrücken, sind frühe Ballverluste besonders prekär. Obwohl Trainer Vicente Del Bosque in Turin zunächst mit einer seltenen Viererkette versuchte, solchen Kontern gegen allein gelassene Verteidiger vorzubeugen, fielen alle drei Juve-Tore durch Trezeguet, Del Piero und Nedved auf diese Weise. Dabei demonstrierten Turins Offensivkräfte in Perfektion die Kunst des schnellen Umschaltens von Abwehr auf Angriff.“
Nedved prägt den Stil von Juventus
In der BLZ (16.5.) liest man über den entscheidenden Spieler. „In jeder Hinsicht ist Pavel Nedved der Mann dieses Abends gewesen, an dem Juventus zumindest für 90 Minuten alle ehrabschneidenden Klischees widerlegte. Ausgerechnet Juve demonstrierte gegen den Catenaccio, spielfreudig wie selten. Nedved war nicht nur der beste und der traurigste Spieler – in seiner Person fanden sich gebündelt die Erkennntisse über dieses Spiel. Nedved machte den Unterschied – nicht nur, weil er das Duell gegen Zinedine Zidane gewann, seinen Vorgänger im Juve-Trikot. Es war ein Abend, in dem auch dem Letzten auffiel, wie prägend Nedved für den Stil von Juventus ist. Er ist kein Zauberer wie Zidane, er ist ein moderner, realistischer Spieler, flächendeckend torgefährlich, ein italienisch gefärbter Ballack. Er ist kreativ und verbissen, ein Spielmacher mit Terrierqualitäten – er ist das, was Real fehlte.“
Ich bin so traurig, dass ich sterben könnte
Wolfgang Hettfleisch (FR 16.5.) fühlt mit Nedved, „dem Mann aus Cheb (Eger) nahe der deutschen Grenze, der, bloß ein paar Kilometer weiter westlich geboren, DFB-Teamchef Rudi Völler derzeit mutmaßlich einen Tick ruhiger schlafen ließe. Dann kam die 83. Spielminute und machte aus dem wohl schönsten Abend in der Fußballerkarriere des Pavel Nedved den zugleich grausamsten. Ohne Not fuhr der tschechische Nationalspieler dem eingewechselten Steve McManaman in der Spielfeldmitte derart ungestüm in die Parade, dass der souveräne Schweizer Schiri Urs Meier einfach keine Wahl hatte: Die der eigenen Dummheit geschuldete gelbe Karte, seine fünfte im laufenden Wettbewerb, setzte Nedveds Traum vom Champions-League-Finale am 28. Mai in Manchester gegen den Serie-A-Konkurrenten AC Mailand ein Ende. Mit Tränen in den Augen stand der kleine Mann nach dem Abpfiff fassungslos auf dem Rasen, blind und taub für den Jubel seiner Mitspieler. Immer wieder vergrub Nedved das Gesicht in beiden Händen und schüttelte ungläubig den Kopf, keiner der herbei eilenden Kollegen vermochte den Untröstlichen aufzumuntern. Ich bin so traurig, dass ich sterben könnte, gewährte Nedved ein wenig später einen Blick in seine aufgewühlte Gefühlswelt.“
Die zweite große romantische Ära von Real neigt sich ihrem Ende entgegen
Michael Horeni (FAZ 16.5.) beleuchtet die Konsequenzen für den Verlierer. “Vor einer Woche noch genoß Real Madrid unermeßlichen Besitzerstolz über eine Fußball-Mannschaft, wie es sie in hundert Jahren zuvor nur einmal gegeben hat: in den fünfziger Jahren, als aus den fünf Titeln im damaligen Europapokal der Landesmeister der weltweit unvergleichliche Ruhm des königlichen Klubs erwuchs. Und nun werden für den Mythos vom scheinbar anderen Fußballstern noch immer nicht die irdischen Gesetzmäßigkeiten verwendet. Juve verschluckt die Sterne der Galaxie, schrieb die spanische Sportzeitung Marca erschrocken über das zwar überraschende, aber dennoch nicht mehr ganz unerwartete Ende der strahlendsten Erscheinungen am Himmel dieser Fußballwelt. Die Fixsterne – Ronaldo, Figo, Zidane und Co. – sind in der Nacht von Turin kollabiert. Das physikalische Ergebnis dieses Prozesses in neunzig Minuten kennt man aber auch jenseits des Universums Real Madrid: ein schwarzes Loch (…) Die zweite große romantische Ära von Real neigt sich ihrem Ende entgegen. Diesmal gelang es den spielerischen Exzellenzen nicht mehr, die defensiven Mängel, die auch bei den Triumphen der vergangenen Jahre stets erkennbar blieben, glanzvoll zu überspielen. Es ist kein Zufall, daß Real in Turin nun an einer an diesem Abend perfekten Mischung aus robuster Defensive und spielerischem Potential scheiterte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, daß Madrid mit dem nahenden Abschied des alternden Abwehrchefs Hierro über sein mäzenatenhaftes Konzept nachdenkt, Gelder verschwenderisch allein an die Künstlernaturen des Fußballs zu verteilen. Nach Erfolgen um jeden Preis ohne große Aussicht auf Profitabilität wird Real zwar weiter streben. Aber eine pragmatische Erweiterung des wirtschaftlich irrationalen Geschäftsmodells steht aus.“
(15.5.)
Perfekte Ballbehandlung, Zweikampfstärke, hohe Präzision im Zuspiel
Vom Sieg Juves über den Titelhalter ist Claudio Klages (NZZ15.5.) sehr angetan. „Der warme Frühling im Piemont hat dem Titelhalter und dreimaligen Finalisten in der Champions League der letzten fünf Jahre, Real Madrid, weit mehr Schweiss auf die Stirn getrieben als ihm lieb war. In einem qualitativ vor allem vor der Pause finalwürdigen, vom Schweizer Referee Urs Meier hervorragend geleiteten Match konnten die noch vor wenigen Wochen hoch gelobten Madrilenen den knappen Vorteil aus dem Hinspiel (2:1) nicht nutzen. Sie mussten sich spielerisch eher unerwartet einer Juve-Equipe beugen, die trotz Schwierigkeiten nach der Pause über weite Strecken dominant blieb und den Gegner immer wieder in die Zuschauerrolle drängte, so konsequent und diszipliniert interpretierte sie die taktischen Vorgaben ihres Trainers. Es waren trotz Glanzpunkten Einzelner nicht nur Individualisten, die diese lebhafte, spannende Partie so eindeutig entschieden, sondern vor allem eine kompakte Mannschaft, die vor Spielfreude sprühte und durchaus zwei Gänge zurückschalten und auf die Reaktion des hoch gelobten Favoriten warten konnte. Um dann fast im Gegenzug (bekannte) Positionsmängel der iberischen Abwehr resolut auszunutzen (…) Die gut gemeinten taktischen Dispositionen des Real-Trainers wurden von den Hausherren buchstäblich zerzaust. Sie wussten, dass sie das Spiel der Madrilenen im Keime ersticken mussten, das heisst, bevor diese sich zu ihren variantenreichen Angriffen ordnen konnten. Diese Taktik verfolgten die Italiener mit einer physisch ungemein anspruchsvollen Präsenz und Konzentration, die den Gegner irritierte und ihm den Schnauf raubte. Jede Position schien genau fixiert, jeder Pass „blind“ geschlagen, und in der Zonendeckung vermochten weder Raúl noch die stereotypen Rochaden von Zidane (nur beim unbedeutenden 1:3 im Finish in bekannter Manier) und Figo Unruhe zu stiften. Im Gegenteil: Das Feuerwerk zündeten die Italiener. Schnelligkeit im Erfassen von Situationen wie in der Ausführung, perfekte Ballbehandlung, Zweikampfstärke, hohe Präzision im Zuspiel und letztlich auch die Risikobereitschaft, alle kritischen Vorurteile zu widerlegen, zeichneten sie aus. Es war kaum ein schwacher Punkt auszumachen, ja es schien zeitweise, als hätten die beiden Teams die Trikots gewechselt, so souverän trat Juve vor der Pause auf, angetrieben von Zambrotta, Davids und Tacchinardi wie von Nedved oder Thuram. Unter diesen Umständen konnte nicht erstaunen, dass Juve diesen Match vorerst auf eine Weise gestaltete, dass die Socios um den Titelhalter bangen mussten.“
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Internazionale – Milan 1:1
Brot und Spiele
Peter Hartmann (NZZ 15.5.) beschreibt anschaulich den entscheidenden Moment im Mailänder Derby. „Ein magischer Moment, eine dieser Situationen, in denen etwas völlig Überraschendes geschieht, ein einziger Zug, der das Spiel, der Karrieren verändert: Seedorf zerriss das enge Inter-Abwehrnetz mit einem blitzschnellen Pass in die Tiefe, Schewtschenko sprintete los, war einen Augenblick vor dem herausstürzenden Torhüter Toldo am Ball, und San Siro stand in Flammen. In der surrealen Stimmung der italienischen Arenen, in diesem brodelnden Inferno aus Lärm und heissem Atem, agieren die Spieler wie in Trance. Es unterlaufen ihnen panische Fehler. Jeder spielt um sein Überleben. In den Fussballstadien ist etwas von der Mentalität der Gladiatorenkämpfe erhalten geblieben, die Grausamkeit und Leidenschaft des Publikums, List und Verschlagenheit der Spieler, die irgendwie ihre Haut retten wollen. Brot und Spiele. Der Regent Berlusconi hält sein Volk bei Laune und am Ende den Daumen nach oben für seinen Trainer Ancelotti. Am Tag, als sein „Diavolo“, der Teufel, wie Milan genannt wird, die „Bene-amata“, die wohl geliebte Internazionale, gedemütigt hat, verkündete Berlusconi, der wegen seiner Korruptionsverfahren in der EU unter Druck geraten ist, die Wiedereinführung des Tatbestands der Majestätsbeleidigung. Das war vielleicht kein Zufall. Das Land schaute auf Milan und seinen Präsidenten, und der Fussballsachverständige Berlusconi ist in letzter Zeit spöttisch kritisiert worden, weil er Mühe hat mit der Gewaltentrennung zwischen Mäzen und Trainer. Er beharrte auf seinen Lieblingsspielern, er wollte ultimativ den Doppelsturm mit Schewtschenko und Inzaghi, und Schewtschenkos Tor hat ihm Recht gegeben. Aber wie stets, wenn „Sheva“ brilliert, spielte Inzaghi einen Stiefel. In der gegenseitigen Umklammerung der Mannschaften mit ihrem klebrigen Pressing und den raubeinigen Körperattacken kann ein einziger Einfall, eine Virtuosen-Nummer, ein raffiniertes Dribbling, ein ballistischer Geniestreich den Ausschlag geben. Spiele italienischer Mannschaften werden fast immer durch Einzelleistungen entschieden, nicht durch Überlegenheit und Effizienz eines Systems und schon gar nicht durch „schönen“ Fussball. Deshalb werden Stars wie die Tormaschine Vieri (der Inter schmerzlich fehlte), wie Totti, Del Piero und selbst mit 36 Jahren auch noch Roberto Baggio in den Himmel gehoben und höher bezahlt als Manager in der Wirtschaft; und keinem Menschen fällt es ein, gegen ihre Gehälter zu protestieren, auch nicht Fausto Bertinotti, dem Parteichef von Rifondazione comunista, dessen Herz für die alte Kapitalisten-Dame Juventus schlägt. Das alles ahnt der ausländische Fernsehzuschauer kaum. Er hört die aufgeregte Stimme seines Reporters, der erklärt, wie langweilig dieser Catenaccio ist, weil er nichts so liebt wie den „Goool!“-Schrei. Der atmosphärische Druck ist unsichtbar.“
Lobrede auf den Catenaccio
Italien-Korrespondent Dirk Schümer (FAZ 15.5.) sah Typisches, auch bei der Zeitungslektüre. „Bei einem italienischen Fußballspiel steht das Wesentliche meist schon vorher fest. Am Tag vor dem glanzlosen 1:1 hatte die Gazzetta dello Sport, das Zentralorgan von Italiens Fußball, das Spiel mit Seherblick bereits analysiert. In einer Lobrede auf den Catenaccio zog der Autor die römische Kontertaktik seit den Hunnen ebenso wie die Armut der italienischen Nachkriegszeit (Wir hatten nur unsere Schlauheit) als Argumente für einen listigen Fußball heran, für den man sich nicht zu schämen habe. Italiener betrachteten Fußball eben als Sache des Verstandes und schauten nur aufs Resultat: Es ist dieses Leiden, das uns Freude bereitet – und nicht das Spiel. Die Partie hatte dieser masochistischen Deutung dann nicht mehr viel hinzuzufügen. Wie schon beim torlosen Hinspiel am selben Ort versuchte der AC Milan aus aggressivem Mittelfeld mit Steilpässen wenigstens anzugreifen, wohingegen Inter unter der Ägide des argentinischen Trainers Cuper jegliches Kombinieren nach vorne verweigerte; einzig mit langen Pässen eine doppelt abgedeckte Sturmspitze Crespo anzuspielen, sorgte im ersten Durchgang niemals für Gefahr. Kein Wunder, daß bei solcher Zerstörertaktik auch nach 135 Minuten – das Hinspiel eingerechnet – noch kein Tor gefallen war. In der Nachspielzeit vor dem Pausenpfiff erst konnte sich der quirlige Schewtschenko endlich einmal durchsetzen und verwandelte hoch ins Eck. Bis zum Ende sollte dies tatsächlich der einzige Schuß auf Inters Tor bleiben, doch dieser Lichtblick reichte. Getreu der Nationalphilosophie des Catenaccio zog sich der AC Mailand danach für die Schlußdreiviertelstunde zur kollektiven Abwehrschlacht zurück. Und Cupers Bollwerk Inter tat, was nun unumgänglich war: Man griff tatsächlich an. Hätte Kallon kurz vor Schluß aus spitzem Winkel nicht am Wackelkandidaten Abbiati und zugleich am Tor vorbeigeschossen, dann hätte Inters Stahlriegelfußball tatsächlich noch fürs Endspiel gereicht.“
Große Oper und starke Emotion
Birgit Schönau (SZ 15.5.) beschreibt anschaulich das Geschehen außerhalb des grünen Rechtecks. „In der Stunde seines größten Triumphs setzte Carlo Ancelotti an zu einer nie da gewesenen Gardinenpredigt, die hellen Augen in seinem gutmütigen Gesicht Funken sprühend, die Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen. Nicht gerade die Mimik eines Gewinners, und tatsächlich war ja Ancelottis AC Mailand mit zwei zwischen Langeweile und Hysterie schwankenden Unentschieden ins Finale eingezogen, die Zuschauer und Akteure besser schnell vergessen sollten. Aber nicht deshalb war der Milan-Trainer so wütend, dass er nach den dramatischen Schlussminuten schier zu platzen schien. „Dieses Massakrier-Spiel ist übertrieben worden“, schnaubte er, „Sie haben Hector Cuper und mich regelrecht gegrillt. Eine historische Chance wurde so verschenkt: Wer weiß, wann es wieder ein Mailänder Derby im Halbfinale geben wird.“ Nun war die „historische Chance“ zur Imageverbesserung des Mailänder Fußballs vor aller Augen auf dem Platz verspielt worden, aber Ancelotti meinte etwas anderes. Er wollte es nicht schlucken, dass am Vorabend der Begegnung sein Job und der des Kollegen Cuper zur Disposition gestellt wurden: Siegen oder gehen, diese Alternative hatte die Presse an die Wand gemalt, und die Reaktion des Siegers zeigte, dass der ungeheure Druck ganz offensichtlich auch anderswo erzeugt worden war. Siegen oder gehen, nach dieser Maxime läuft der italienische Fußball. Ancelotti selbst musste bei Juventus nach zwei hervorragenden Jahren weichen, weil er nur Zweiter geworden war. Das reichte bei Juve nicht, und es reicht auch nicht bei Milan, wo der Präsident Silvio Berlusconi, begleitet von den Regierungschefs Serbien-Montenegros und Albaniens, nach Andrej Schewtschenkos Führungstreffer in der Halbzeitpause noch Freude strahlend seine Bewunderer empfing, um nach dem Abpfiff eilig in seine gepanzerte Limousine zu steigen: „In der zweiten Halbzeit haben wir gelitten.“ Aber doch das Finale erreicht, das sechste seiner Ägide, wie Berlusconi nicht zu unterstreichen vergaß, während sein Angestellter Ancelotti sich jede Ergebenheitsadresse an den Padrone verkniff. Es wäre – zumal in Italien – der beste Zeitpunkt gewesen, den Finaleinzug dem Klub zu widmen, dem Ancelotti auch als Spieler viel gegeben hatte. Aber der Trainer dankte ausdrücklich nur seiner Mannschaft. Alle hatten verstanden. Nur nichts falsch machen an diesem Abend – das war die Vorgabe für Ancelotti wie Cuper, und das Ergebnis war ein großer Krampf, der die folkloristische Szenerie der fast 80000 von San Siro ad absurdum führte. In tagelanger Arbeit hatten die Tifosi riesige Spruchbänder bemalt, sie ließen tausende Wunderkerzen brennen und hunderte nachtblauer Luftballons in den Himmel steigen. Es war eine bewegende Kulisse, die zeigte, was der Fußball sein könnte in Mailand: immer noch große Oper und starke Emotion, obwohl alle wissen, dass nur das Ergebnis zählt.“
(14.5.)
Der legendäre Stratege mit der versteinerten Wodka-Gesichtslandschaft
Peter Hartmann (NZZ 14.5.) berichtet den Einzug Milans ins Finale. „“Heute Abend spielt Inter gegen Milan. Geht ins Kino“, hatte das spanische Blatt As dem Publikum empfohlen. Und hätte beifügen müssen: Aber seid noch vor der Halbzeit zurück vor dem Fernsehapparat. Denn die eigentliche Auseinandersetzung begann mit 45 Minuten gespielter Verspätung, nach einem verkrampften, hektischen, nicht enden wollenden Hickhack zweier vor Nervosität fast besinnungsloser Mannschaften, einem Patt, das durch die unglaublich hohe Fehlpassquote gewährleistet blieb. Erst die Verwarnungen von Inzaghi, Cristiano Zanetti und Rui Costa innerhalb von vier Minuten legten bei den Spielern das Adrenalin frei, die taktischen Zwangsfesseln fielen, und Hauptdarsteller waren nicht mehr die zwei einsamsten Männer in der Arena, die in ihren Kreide-Rechtecken um ihren Job gestikulierten. Plötzlich, in der Nachspielzeit, nach 47 Minuten und 28 Sekunden, war Schewtschenko eine Fussspitze näher am Ball als der herausstürzende Toldo, auf der linken Seite des Fünferraumes, links, wo Schewtschenkos Reflexe vielleicht noch immer besser funktionieren. Denn links hatte ihn Oberst Lobanowski, der legendäre Stratege mit der versteinerten Wodka-Gesichtslandschaft, bei Dynamo Kiew immer eingesetzt, und dies war ein wunderbar passendes Erinnerungsgeschenk für den alten Trainer. Lobanowski ist vor genau einem Jahr gestorben (…) Obschon der „Diavolo“ im Herbst das Land mit einer Trendwende zu einem beschwingt offensiven Spiel verblüfft und in der Euroliga Gegner wie etwa Bayern München, Borussia Dortmund und Deportivo La Coruña richtiggehend ausgespielt hatte, begann der Präsident und Mäzen Silvio Berlusconi in taktischen Fragen mitzureden. Der „Cavaliere“ konnte der populistischen Verlockung nicht widerstehen, als grosser Erwecker und Inspirator dieser Erneuerungsbewegung zu posieren. Die anfängliche Erfolgsformel des Trainers bestand in einer Löschblatt-Kopie des Schemas von Real Madrid. Mit nur einer eigentlichen Angriffsspitze: mit Filippo Inzaghi in der Rolle von Ronaldo. Eine kreative Reihe mit Seedorf, Rui Costa und Rivaldo und, als kühne Eigenerfindung, ein frei schwebender Libero vor der Abwehr in der Person von Pirlo, der zuvor bei Inter schon durch den Personalraster gefallen war. Der Padrone forderte auch immer seinen Favoriten Schewtschenko, gelegentlich sogar über Mobiltelefon zur Trainerbank (…) Dieser Milan-Sieg mittels doppelten Remis, aber mit dem “Auswärtstor” im gemeinsamen Stadion, ist das Ergebnis einer Art Kompromissformel: Alle spielten, bis auf Rivaldo, der auf Grund der letzten Auftritte nicht mehr vorzeigbar war. Der oberste Chef des Landes hat auch wieder seine wahrsagerische Fussballkompetenz zurückgewonnen, und Ancelottis Berufsehre bleibt trotzdem unangetastet.“
Armutszeugnis für die Squadra Cúpers
Über das Spielgeschehen informiert Felix Reidhaar (NZZ 14.5.). „Schliesslich gab das Auswärtstor zugunsten der in der Meisterschaft hinter Inter klassierten Milanisti den Ausschlag in einem Match, der ausser dem dramatischen Finale wenige Höhepunkte aufwies. Die Pausenführung des Diavolo entsprach dem Kräfteverhältnis,obwohl die beiden Parteien mit ihren grundverschiedenen taktischen Dispositiven wie schon im Hinspiel vor knapp einer Woche im Patt zu ersticken drohten. Weil die AC Milan in den ersten 45 Minuten erneut die initiativere und offensivere Mannschaft war, verdiente sie sich die späte Führung in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Schewtschenko, der in der 24. Minute mit einem Flachschuss das Tor in der bisher besten Chance knapp verpasst hatte, traf nach einem Dribbling im Strafraum an Cordoba vorbei in den Netzhimmel -eine Art Erlösung für den zuletzt oft gescholtenen Ukrainer, und für ein Duell mit vielen Fehlpässen beiderseits, mit vier Verwarnungen innert ebenso weniger Minuten und – verglichen mit dem ersten Match -sehr wenigen verheissungsvollen Strafraumszenen (…) Hochkarätige Inter-Stürmer wie den Argentinier Crespo nahm man erstmals an diesem Abend wahr, als erausgewechselt wurde, ein Armutszeugnis für die Squadra Cúpers, der jegliche Phantasie in der Offensive abging und die fast nur durch Standardsituationen Wirkung Richtung Tor erzeugte. Gleichwohl war es in den letzten zwanzigMinuten das Heimteam, das nun bedeutend mehr unternahm, um dem Match doch noch eine Wende zu geben – gegen einen Gegner freilich, der sich zunehmend stärker zurückzog und auf die Verwaltung des Vorsprungs beschränkte. Inter versuchte es zuweilen mit der Brechstange, allein die Abwehr Milans fiel erst in der 85. Minute, als der antrittsstarke Martins den Milan-Abwehr entwischte.“
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Vor dem Match Juve-Real
Real schafft sich seine Stars auch selber
Ronald Reng (FR 14.5.) beschreibt den immensen Stellenwert Raúls in Madrid. „Draußen in der Welt mag dieses Real-Team legendär für seine einzigartige Kollektion von magischen Spielern sein. In Spanien jedoch – und in Madrid, der in sich gekehrten Hauptstadt, sowieso – werden weder Ronaldo noch Luís Figo oder Zinedine Zidane jemals den Status von Raúl erreichen, der erst 25 Jahre alt ist, aber schon dreimal die Champions League gewonnen hat, der Kapitän und Rekordtorschütze der spanischen Nationalelf und vor allem einer von ihnen ist: einer aus Madrid. Drei Buchstaben und ein sehnsüchtiger Blick prangten vor dem Rückspiel im Champions-League-Halbfinale an diesem Mittwoch gegen Juventus Turin auf der Titelseite von Spaniens meistverkaufter Tageszeitung Marca: S.O.S. stand dort, darunter war Raúls Gesicht abgebildet. Wenn die Not am größten ist, rufen sie ihn. Drei Wochen nachdem ihm der entzündete Blinddarm entfernt wurde, soll der Angreifer in Turin zurückkehren, um den mageren 2:1-Vorsprung aus dem Hinspiel verteidigen zu helfen. Jedes Jahr kauft Real einen neuen Star, sagte Alex Ferguson, der Trainer von Manchester United, nachdem sein Team von Cupverteidiger Real beim 1:3 im Viertelfinal-Hinspiel sauber zerlegt worden war, und jedes Jahr wieder ist ihr bester Spieler der Junge aus der eigenen Nachwuchsschule. United mit seiner statischen Vier-Mann-Abwehr wusste nie, was zu tun war gegen Raúl, diesen Zwitter aus Angreifer und Mittelfeldspieler, der sich für einen Stürmer ungewöhnlich weit zurückfallen lässt, um dann für einen Mittelfeldspieler ungewöhnlich oft in den Strafraum einzudringen. Man braucht die Diskussion, wer denn der allerbeste unter all den wunderbaren Fußballern von Real ist, gar nicht erst anzufangen, weil man dann nie aufhören würde. Fergusons Zitat jedoch führt auf eine andere Spur: Real, das vor allem als die den Erfolg kaufende Supermacht wahrgenommen wird, schafft sich seine Stars auch selber, wie sonst im internationalen Spitzenfußball allenfalls noch United: Drei aus der eigenen Jugendschule spielen fast immer, Torwart Iker Casillas, Verteidiger Pavón, Guti oder Miñambres im Mittelfeld, Portillo im Sturm; und über allen Raúl, das Symbol dieser unbeachteten Seite von Real.“
Der Gruppe den eigenen Ehrgeiz unterordnen
Birgit Schönau (SZ 14.5.) erläutert den Einfluss Lippis. „Während um sie herum die Starensembles der Konkurrenz in Finanzkrisen zerbröselten, schaffte es Juventus als einziger Großklub im sechsten Jahr in Folge, auch die geschäftliche Bilanz positiv abzuschließen. Und Lippi schuf eine Mannschaft, DIE Mannschaft in Italien. Sicher, es gibt Alessandro Del Piero, einen der bestverdienenden Fußballer des Erdballs, und neben ihm den wendigen Franzosen David Trezeguet. Das Herzstück der Juve aber ist der schweigsame Tscheche Pavel Nedved, der in jedem Spiel rennt wie ein Besessener, ein echter Instinktfußballer. Oder Edgar Davids im Mittelfeld, der vor keinem Einsatz zurückschreckt und deshalb für das Spiel gegen Real Madrid – wieder einmal – gesperrt ist. „Es ist wichtig, Spieler zu haben, die verstehen, dass eine Mannschaft nicht aus Individualismen zusammengewürfelt sein kann“, hat Lippi in seinen Memoiren „Mein Fußball, meine Juve“, gepredigt, noch bevor er zu Inter ging, wo die Kicker genau das bis heute nicht verstanden haben. Der Gruppe den eigenen Ehrgeiz unterzuordnen, das ist Marcello Lippis Programm, und in diesem Sinn ist er die Inkarnation des italienischen Trainers. Geniale Individualisten wie Roberto Baggio hatten es schwer mit ihm. Noch heute wirft Baggio seinem früheren Trainer vor, wie Lippi ihn geschleift habe, und dass er, Baggio, noch nicht einmal scharfes Paprika-Gewürz im Salat essen durfte, weil Lippi befand, das täten alle anderen ja auch nicht.“
Nedveds anhaltende Weltklasseform
Dirk Schümer (FAZ 14.5.) porträtiert den tschechischen Star im Juve-Dress. „Der Spieler, der Italiens Meisterschaft entscheidet, heißt Pavel Nedved. In seinem zweiten Jahr bei Juventus Turin holte der tschechische Mittelfeldspieler am Wochenende den zweiten Scudetto. Nedved wird der Titel beinahe zur Gewohnheit, hatte der 30 Jahre alte Spielmacher vor drei Jahren doch bereits mit Lazio Rom triumphiert. Seinem heutigen Gegenspieler, dem gleichaltrigen Zinedine Zidane in Diensten von Real Madrid, blieb diese Freude in seinen letzten drei Spielzeiten bei Turin versagt, bevor er 2001 nach Madrid wechselte und dort ebenfalls die für die Meisterschaft erforderliche Konstanz vermissen ließ. Während Zidane in den Pokalwettbewerben lieber als Feiertagsspieler brilliert, ist auf Nedved auch im ödesten Liga-Alltag Verlaß. Nicht zuletzt wegen Nedveds anhaltender Weltklasseform wird der jüngste Meistertitel dem Tschechen von Italiens Sportpresse quasi persönlich gutgeschrieben. Auch als Weltfußballer des Jahres hat sich der Tscheche jetzt nachhaltig ins Gespräch gebracht. Trotz überharter Manndeckung schaffte es der wendige Spieler, in der Serie A auch die vermeintlich schwachen, aber tückischen Gegner mit Freistößen oder Feldtoren niederzuzwingen. Nedved, dessen Ausnahmetalent in jungen Jahren noch eine gewisse Laxheit entgegenstand, hat sich seit seinem Arbeitsantritt in Italien vor sieben Jahren die verbissene Härte und die Durchsetzungsfähigkeit angeeignet, die ein Spieler seines Formats heute benötigt (…) Weniger ballverliebt und genialisch als Zidane und nicht so athletisch und kämpferisch wie Figo, hat Nedved gleichwohl diverse Qualitäten, die ihn an beide Stars heranreichen lassen: das Auge für den überraschenden Paß, große Schußkraft, latenten Zug zum Tor sowie unermüdliche Verbissenheit in den Zweikämpfen.“
Wie Moses durch das geteilte Meer
Stefan Hermanns (Tsp 14.5.) schreibt eine Hymne auf Zidane. „Zinedine Zidane wird im Juni 31 Jahre alt, zwei Jahre will er noch spielen, und wenn er dann seine Karriere beendet, werden Dichter Epen über ihn schreiben. Kaum ein Fußballer vor ihm hat die Phantasie der Intellektuellen so sehr angeregt wie Zidane. Oder besser: wie sein Spiel. Günter Netzer wurde in Deutschland auch deshalb besungen, weil er lange Haare trug, als seine Kollegen noch aussahen wie Panzerschützen, weil er Ferrari fuhr und eine Diskothek betrieb. Der fast schüchterne Zidane aber spricht nicht durch sein Aussehen oder seine Aussagen, er spricht allein durch seine Ballbehandlung. Es gibt ein Bild aus dem Viertelfinale der Champions League zwischen Manchester und Madrid, eine fast perfekte fotografische Komposition: Zidane aufrecht in der Mitte, von links rutscht Ole Solskjaer heran, von rechts Nicky Butt, aber Zidane hat den Ball schon über sie hinweggespielt. Er schreitet durch seine Gegner hindurch wie Moses durch das geteilte Meer. Doch Zidane ist nicht immer derart elegisch gefeiert worden. Der „Stern“ hat über ihn geschrieben: „Er stand lange unter dem Verdacht, ein französischer Andy Möller zu sein.“ Solange, bis er im WM-Finale 1998 gegen Brasilien zwei Tore köpfte.“
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