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Ballschrank

Heute: Italien ist empört, Brasilien spielt mit China, Winnie Schäfer u.a.

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Heute: Italien ist empört, Brasilien spielt mit China, Winnie Schäfer u.a.

Die Sportseiten der italienischen Tageszeitungen am Sonntag sind beherrscht von den Lamenti über die als ungerecht empfundenen Schiedsrichterentscheidungen, aber auch harscher Kritik an Trapattoni und den Azzurri. „Zwei Tore annuliert und drei Minuten Krise: Azzurri KO“ und „Italien in Schwierigkeiten“ heißt es im Corriere della Sera (9.6.), der die Agonie Tommasis, Zanettis und Panuccis an den Flügeln konstatiert, die Isolation Vieris beim Spiel nach vorn, den ebenso verzweifelten wie glücklosen Angriff der Azzurri bei Spielende. La Repubblica (9.6.) dämpft den Aufschrei der Tifosi: Auch wenn die Annulierung zweier Tore durch den Schiedsrichter mehr als „discutibile“ sei, solle sich die Squadra italiana lieber in Selbstkritik üben. Die Niederlage habe in Wahrheit aber bereits vor dem Spiel begonnen, mit Trapattonis Entscheidung, dieselbe Mannschaft antreten zu lassen wie beim Spiel gegen Ekuador, und nur Zanetti (gegen Di Biagio) auszutauschen. „Die einzige Gewissheit auf dem Spielfeld ist die Konfusion (…) Das Wunderduo Totti-Vieri leidet unter Einsamkeit. Der Ball findet außer Di Biagio nie jemanden, der ihn spielt. Maldini ist in Schwierigkeiten und sogar Doni hat Mühe, die richtige Position zu finden.“ Nach Trapattonis Motto „Entweder – Oder“ bleibe nun das „Warten auf die Entscheidung“.

Vincenzo Delle Donne (Tsp 9.6.) zum Spiel der Italiener. „Dass die 1:2-Schmach der Squadra azzurra ausgerechnet unter der Ägide des Defensivfetischisten Giovanni Trapattoni passieren sollte, ist womöglich Ironie des Schicksals. Trapattoni verlor angesichts der unglücklichen Niederlage vollkommen die Fassung, hatte das Gesicht verzerrt, Tränen vor Wut in den Augen, die sonst immer korrekt sitzende Krawatte war völlig verdreht. Schon nach der ersten Halbzeit hatte es aber Pfiffe von den Fans gegeben. Trapattoni sprang immer wieder wild gestikulierend von der Bank auf und versuchte, seine Mannschaft aus der Lethargie zu wecken. Aber die Offensive der Italiener funktionierte gegen aggressive Kroaten nicht.“

Offenbar sind Italiens Journalisten sangesfreudiger als seine Fußballer. Andrija Kacic-Karlin (Vjesnik 8.6.) berichtet von der Pressekonferenz vor de Spiel Italien gegen Kroatien. „Die italienische Arroganz vor dem Spiel mit Kroatien kannte keine Grenzen. Während das Überlegenheitsgefühl von Trainer Trapattoni durchaus verständlich war, der auf Grundlage des Spiels gegen Mexiko die kroatische Mannschaft für langsam und ungefährlich hielt, verhielten sich die italienischen Journalisten gegenüber ihren kroatischen Kollegen und den Fans unverschämt herablassend. Als die kroatischen Reporter das Pressezentrum anlässlich der Pressekonferenz betreten wollten, sorgten deren italienische Kollegen für eine unschöne Überraschung: Beflügelt vom Sieg der italienischen Mannschaft gegen Ekuador stimmten sie in Richtung der Kroaten ein spöttisches Siegeslied an. So wie es scheint, werden die italienischen Spieler wohl mit einer ähnlichen Einstellung in das Spiel gehen. Schließlich bleibt es, abzuwarten und zu sehen, wer letztlich für eine Überraschung sorgen wird. Diese gab es bei dieser WM bereits zuhauf.“

Über die mögliche heilsame Wirkung einer Niederlage sinniert Michael Ashelm (FAS 9.6.). „Wie im richtigen Leben können Rückschläge zu neuer Stärke führen; man muss nur wissen, mit ihnen umzugehen. Wer sich zwischenzeitlich also auf einem Irrweg wiederfindet, kann mit einheitlicher Geschlossenheit und festem Willen ins Hauptgeschehen zurückkehren. Aus den vielen kleinen Zwischenprüfungen bei einem WM-Turnier, die nicht immer mit Bestnote abgeschlossen werden müssen, können die Spieler großen Nutzen ziehen. Nur wen fortan die Versagensängste plagen, wer im Nervenspiel zu oft die Kontrolle verliert, wird sich hoffnungslos verlaufen. Der Champion, wer kennt heute schon seinen Namen, ist jedenfalls gerade dabei, sich sein widerstandsfähiges Nervenkostüm für den finalen Schlagabtausch anzueignen.“

Vom 4:0-Sieg Brasiliens gegen China berichtet Roland Zorn (FAS 9.6.). „Auch Fußball-Weltmeisterschaften bieten Gelegenheit zu angenehmen Trainingsspielchen. Der viermalige Weltmeister Brasilien hatte am Samstag auf der Ferieninsel Cheju in Seogwipo die Chance, ganz entspannt und doch konzentriert genug seine zweite Probe aufs Exempel locker zu bestehen. WM-Neuling China tat den Stars auch Südamerika nie weh, und die waren so freundlich, die Asiaten nicht vorsätzlich zu demütigen.“

Die Anteilnahme der englischen Öffentlichkeit beim Erfolg gegen Argentinien beschreibt Christian Eichler (FAS 9.6.). „Am Morgen danach strahlte David Beckham von allen Kiosken ein Volk an, das einen solchen Feiertag lange nicht mehr erlebt hatte. Auch sein Vorgänger als Charismatiker des englischen Fußballs, Paul Gascoigne, trug das Trikot mit den drei Löwen – er hatte sich unter Tausende feiernde Fans auf dem Londoner Trafalgar Square gemischt. Am Freitag Mittag war England praktisch zum Erliegen gekommen, hatten sich zwanzig Prozent der Arbeitnehmer frei genommen, siebzig Prozent das Spiel während der Arbeitszeit angeschaut und die meisten anderen sich krank gemeldet. Volkswirte befürchteten bis zu vier Milliarden Mark (sic!) an Produktivitätsverlust, aber das wäre nichts gegen den nationalen Gefühlsgewinn, den das 1:0 gegen Argentinien bedeutete.“

Vor dem entscheidenden Spiel der gegen Kamerun reflektiert Christian Eichler (FAS 9.6.) den internationalen Stellenwert der deutschen Nationalmannschaft. „Ein 0:0, und wir sind mal wieder wer; ein 0:1, und wir sind nur noch irgendwer. Seltsam, wie abhängig deutsche Selbsteinschätzung von äußeren Einflüssen geworden ist. Uns kann keiner was, diese in Mimik und Körpersprache übersetzte Arroganz einer Fußballmacht, jahrzehntelang von Titel zu Titel zu tragen, verschwand mit dem späten Lothar Matthäus in der Mottenkiste; tatsächlich hat sie ja am Ende längst nicht mehr funktioniert. Nur hat sie immer noch keine passende Nachfolge gefunden, keine Neudefinition eines modernen Selbstbildes als Team; bisher nur eine allzu jugendliche Wankelmütigkeit von Leistung und Selbsteinschätzung.“

Georg Nolte (WamS 9.6.) übe die Karriere von Winnie Schäfer. „Sein steiler Abstieg begann jedoch früher. Nach zwölf erfolgreichen Jahren wurde er am 25. März 1998 in Karlsruhe entlassen, und es folgten zweieinhalb düstere Jahre. Beim VfB Stuttgart mobbten die Fans ihn nach fünf Monaten weg, die Schwaben wollten eben keinen Badener. Im März 1999 begann bei Zweitligist Tennis Borussia Berlin die wohl schwärzeste Zeit seines Trainerlebens. Für 5,76 Millionen Euro hatte er neue Spieler gekauft und besaß den teuersten Kader der Liga (Etat: 20 Mio. Euro). „Wir steigen auf“, lautete Schäfers Marschroute, er erwartete sogar den ersten Platz. Doch der Charlottenburger Nobelklub wurde nur Meister der Roten Karten und internen Suspendierungen. Schäfer fehlte es an Autorität, mit kuriosen Übungen gab er sich der Lächerlichkeit preis. So mussten die Spieler mit verbundenen Augen am Boden kriechen und eine Raupe bilden, nur der Vordermann hatte freie Sicht. Das stärke das Zusammengehörigkeitsgefühl, versicherte Schäfer. Tatsächlich brach alles auseinander. Die Spieler tanzten ihm auf der Nase herum, gaben ihm böse Spitznamen wie „Konfusio“. Ein Mal passierte es, dass er seinem Spieler Sasa Ciric Kommandos gab, obwohl der neben ihm auf der Bank saß. Ansgar Brinkmann sagte ihm in der Kabine: „Trainer, Sie können ja nicht mal einen Kiosk leiten.“ Als Schäfer ein anderes Mal eine Strafpredigt halten wollte, verzettelte er sich. Brinkmann riet ihm süffisant: „Trainer, gehen Sie doch nochmal vor die Tür. Und sobald Sie einen geraden Satz herausbringen können, dürfen Sie wiederkommen.“ Die Saison endete im Chaos, TeBe wurde mit der teuersten Mannschaft der Vereinsgeschichte Vierzehnter, verlor später gar die Lizenz. Schäfer reflektiert die Intermezzi in Stuttgart und Berlin mit Sätzen wie „Mein Ruf hat gelitten“ und „Ich habe zweimal in die Scheiße gegriffen“. So war der Ruf aus Kamerun eine echte Wohltat für Schäfer, hier begegneten ihm keine Vorurteile. Hinzu kam, dass der Deutsche rein optisch etwas Einzigartiges zu sein schien. „Blonde Haare sind für Afrikaner vor allem etwas Anziehendes, weil sie das nicht kennen. Ständig werde ich gefragt, ob man sie anfassen dürfe.“ Sollte er am Dienstag gegen Deutschland bestehen, wird er das wohl noch öfter hören. Es wäre nicht nur ein Sieg gegen das Heimatland, sondern auch gegen alle Kritiker.“

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