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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Hohn und Häme, Sarkasmus und Zynismus

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Hohn und Häme, Sarkasmus und Zynismus

Philipp Selldorf (SZ 9.9.) kommentiert die Debatte um Völlers Wutausbruch. „Was wollte Rudi Völler eigentlich sagen, als er sich über das Treiben der Gurus und Ex-Gurus beklagte? Selbstverständlich kann er sich nicht ernsthaft Kritik an seiner Mannschaft verbitten, nachdem sie – wie am Samstag – ein trostloses Spiel geboten hat. Das macht er auch nicht. „Kritik muss sein“, sagt er. Aber ihn stört „die Art der Kritik“, der Hohn und die Häme, der Sarkasmus und Zynismus. Hier teilt der Fußballer Rudi Völler das Schicksal der Künstler, Schauspieler, Musiker und Architekten, deren natürliche Feinde die Rezensenten in den Feuilletons sind. Es ist die Ohnmacht des Kritisierten vor der Allmacht des Kritikers, der sich aus der Distanz und seiner sicheren Stellung aller kränkenden Stilmittel bedienen kann. So ist es nur logisch, dass Völler nicht wegen eines fachlichen Urteils über schwaches Kombinationsspiel oder die harmlosen Stürmer in die Luft ging, sondern wegen der süffisanten Bemerkung des ARD-Kommentators Gerhard Delling, das Islandmatch reihe sich in die „Krise der Abendunterhaltung im Fernsehen“ ein. Spott kann furchtbar weh tun. Franz Beckenbauer, der mit seinen leicht dahingesagten Urteilen am Boulevard oft den Ton der Debatte angibt und deshalb ein besonders berüchtigter Guru der Szene ist, hat sich gestern effektvoll verteidigt: „Ich kann nichts dafür, dass die nicht besser Fußball spielen.“ Ist das nun ein weiterer subversiver Beitrag? Oder einfach nur zutreffend?“

Thomas Kilchenstein (FR 9.9.) warnt Völler vor Beifall von der falschen Seite. „Wer auf Nummer Sicher gehen will, wenn er öffentlich beschimpft, sollte sich auf zwei Themen beschränken: Erstens, Fußballer verdienen zu viel und laufen zu wenig, zweitens, die Medien kritisieren zu unsachlich und sind an allem schuld. Dafür gibt’s vom Mann auf der Straße garantiert Applaus, da ist man als Populist ohne großen Einsatz auf der sicheren Seite. Insofern verwundert es nicht, dass Rudi Völler aus der Branche verbal mächtig auf die Schulter geklopft bekommt für einen Ausbruch, der, wenn überhaupt, in dieser Form allemal eher was für den Kabinengang war als für die Öffentlichkeit. Weltklasse, wie Uli Hoeneß diese Kritikerbeschimpfung allen Ernstes genannt hat, war sie nun definitiv nicht. Und ob sich Rudi Völler damit einen Gefallen getan hat, wird sich auch noch weisen. Die Nationalmannschaft jedenfalls spielt nicht im luftleeren Raum ihren (mäßigen) Fußball, und Rudi Völler wird, spätestens am Mittwochabend, wieder in ein Studio zum Interview müssen, just zu jenen Leuten, die – O-Ton-Völler – nur Scheiße labern. Dass Völler relativ ungeschoren aus dieser spontanen Pöbelnummer heraus zu kommen scheint, hat er allein seiner Popularität zu verdanken.“

Philipp Selldorf (SZ 9.9.) berichtet Reaktionen. „Rudi Völler konnte in allen Ressorts der Zeitungen von sich lesen, in Kommentaren, Protokollen, Essays und Berichten. Bis in die Feuilletons war sein energischer Vorstoß gegen die deutsche „Kultur der Kritik“ gedrungen – so hat er sein Thema skizziert. „Ich bin ein bisschen überrascht, wie groß die Resonanz war“, meinte Völler. Die letzte Meinungsbildung zu seiner Tirade gegen die Gurus und Ex-Gurus erreichte ihn im Presseraum des Westfalenstadions. Führende Gurus der Bundesliga hatten sich am Montagvormittag telefonisch verständigt über ihre Stellungnahme zum großen Vorfall von Reykjavik, und wie die Eilmeldung über einen Geisterfahrer wurde das Kommuniqué von einem Boten in das laufende Programm getragen. DFB-Pressechef Harald Stenger teilte dann mit, dass der Arbeitskreis Nationalmannschaft, namentlich die Klubmanager Rudi Assauer, Reiner Calmund, Dieter und Uli Hoeneß sowie Michael Meier sich verständigt hätten, sie stünden „zu 100 Prozent hinter Rudi Völler“. Es hätte niemanden im Saal gewundert, wenn er bei der Gelegenheit auch telegrafische Botschaften des Bundeskanzlers und der Oppositionschefin verlesen hätte. Im Nachhinein mag es Völler zwar ein bisschen peinlich sein, welchen Wirbel er verursacht hat mit seinem jähzornigen Aufbegehren gegen die Kaste der üblichen Fußballkritiker, für die er den Sammelbegriff Gurus prägte, und für die Wortwahl hat er sich auch entschuldigt: „Das war ein bisschen zu derb und zu scharf.“ Aber außer einigen überflüssigen Flüchen bereut er nichts. „Das Grundsätzliche bleibt, da gehe ich auch keinen Millimeter von ab“, versichert er. Was aber ist das Grundsätzliche und worin äußert es sich? In diesen Diskurs konnte Völler leider nicht tiefer einsteigen. „Die Kultur der Kritik“, sagte er allgemein, „hat Formen angenommen, die einfach nicht mehr angebracht und zu ertragen ist.“ Dafür gab es zwar nicht von den Kritikern, aber von denen, die oft kritisiert werden, Beifall. Uli Hoeneß brach beim Fernsehen daheim in Ottobrunn in Begeisterung aus und lobte: „Weltklasse – ich habe mir auf die Schenkel geschlagen.““

Die „Gurus“ sind längst frei von den Unwägbarkeiten des Fußballalltags

Michael Horeni (FAZ 9.9.) analysiert die Machtverhältnisse am Fußball-Stammtisch der Nation. “Das Verhältnis zwischen dem Torjäger und dem Teamchef der Weltmeister 1990 jedenfalls ist ausgezeichnet – und auch durch eine Attacke wie in Reykjavík nicht zu trüben. Völler erwähnte bei seinen Angriffen daher auch ganz bewußt, daß er Beckenbauer mag – und die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhe: Der Franz war mein Trainer, der wird mich nie kritisieren. Beckenbauer bestätigte Völlers Erwartung zwei Tage später in seiner Kolumne öffentlich. Den Zusatz der gegenseitigen Sympathie ersparte sich Völler, als er auf seine ehemaligen Kollegen Netzer und Breitner zu sprechen kam. Unter dem Münchner Weltmeister von 1974, der in Bild am Sonntag Meinung macht und im Deutschen Sportfernsehen (in der vergangenen Saison für Sat.1), hatte Völler als Spieler noch zu leiden. Breitner forderte vor der Europameisterschaft 1988 öffentlichkeitswirksam, Völler aus der Nationalmannschaft zu werfen. Breitner glaubte, der damals in einem Tief steckende Stürmer bringt es nicht mehr. Beckenbauer hielt dem Druck jedoch stand, Völler spielte eine starke EM und hatte zwei Jahre später großen Anteil am WM-Titelgewinn. Freunde sind Völler und Breitner nie mehr geworden. Auch Völlers Haltung gegenüber Netzer ist eher reserviert. Der Teamchef schätzt ihn zwar als Fachmann, läßt aber durchblicken, daß er die Kompetenz des ARD-Experten und Sport-Bild-Kolumnisten in Sachen Nationalmannschaft für ein bißchen anmaßend hält – weil Netzer sich in der Nationalelf selbst nicht entscheidend durchsetzen konnte, dort unter seinen Möglichkeiten blieb und auch nicht zu einer Weltmeister-Elf gehörte (…) Völler spürt in der streitbaren Fußballfamilie der Ehemaligen derzeit alleine die Last, beruflich noch vom Potential der deutschen Spieler abhängig zu sein. Die früheren Kollegen indes sind längst frei von den Unwägbarkeiten des Fußballalltags. Sie steigern sogar noch ihre Popularität, je schlechter sich der deutsche Fußball darstellt – ihre Meinung und ihr Rat sind dann gefragter und teurer denn je, was auch noch das Interesse von Werbepartnern steigert. Diese lukrativen Rollen wollen sich Beckenbauer, Netzer und Breitner nicht nehmen lassen. Netzer kündigte an, seine Linie beim Spiel gegen Schottland nicht zu verlassen. Er würde sich sonst als Betrüger fühlen. Daß auch Völler irgendwann einmal in die deutsche Fußballkritikerfamilie aufgenommen wird, kann sich der Teamchef derzeit nicht vorstellen. Ein Anfang wäre mit seinem Auftritt von Island allerdings gemacht.“

Christof Kneer (FTD 9.9.) sieht Völler fest im Sattel. “Ungeachtet seines Ausbruchs vom Sonnabend gilt Völler immer noch als bestmögliche Besetzung. Spätestens seit gestern ist klar, dass die große Fußball-Familie ihren Rudi auf keinen Fall verlieren möchte. Franz Beckenbauer, von Völler bei seinem Rundumschlag gegen die „Gurus“ mit gemeint und mit getroffen, hat dem Wüterich in seiner Hauspostille „Bild“ sicherheitshalber Absolution erteilt. „Ich kann das nachempfinden“, schreibt er, „du reagierst wie eine Glucke, die ihre Jungen beschützen muss.“ Für den Fall, dass der Leser noch nicht verstanden haben sollte: „Die Diskussion um seine angebliche Amtsmüdigkeit halte ich für Schmarrn. Er soll und wird weitermachen. Da habe ich gar keine Zweifel.“ Das Lustige am deutschen Fußball ist ja, dass es wirklich keine Zweifel mehr gibt, wenn der Franz keine hat. Und was der Franz für Schmarrn hält, ist Schmarrn. Noch lustiger ist, dass der Kolumnist Beckenbauer gleichzeitig Organisationschef der WM 2006 ist, und keiner muss meinen, dass er bei seinem Turnier einen Trainer auf der deutschen Bank dulden würde, der ihm nicht passt. Der Rudi passt ihm.“

Der Schriftsteller Georg Klein (SZ 9.9.) bezweifelt die Substanz des Fußball-Diskurses. „Es ist ein offenes Geheimnis: Nicht die Literatur, nicht der gute Film, sondern das aktuelle Fußballgeschehen ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich ein Gespräch unter männlichen Intellektuellen bringen lässt. Der deutsche Intellektuelle ist in seinem Alltag Sportintellektueller. Und in dieser Zeitung liest er natürlich zuerst den Sportteil, bevor er sich ins Feuilleton aufmacht (…) Gibt es ein Milieu, das blinder für den eigenen Habitus, bornierter und aggressiver gegen die Sportler ist als das der bundesdeutschen Sport-Intelligenzia? Dem privaten wie dem professionellen Sportintellektuellen wird das Raisonnement über Fußball schnell zur Allzweckrede, in der er alles, was ihm zu Gott und der Welt einfällt, und alles, was ihm Gott und die Welt anderenorts versagt haben, auf die projiziert, die versuchen, allein mit ihren Körpern ein sehr komplexes Spiel zu erzählen. Vergeblich hat Rudi Völler für dieses subtile Verhältnis Respekt eingeklagt. Soll sich Rudi Völler in Zukunft ausgerechnet an jenen Sportsmännern orientieren, die in der Überdruckkammer des Fernsehens zu Phrasendreschmaschinen, zu verkrampften Karikaturen des Sport-Intellektuellen, mutiert sind? Vor lauter Scham, selbst Sport-Intellektueller zu sein, könnte mir zur Zeit Hören und Sehen vergehen. Aber es hilft nichts, mindestens bis zum Länderspiel sollte jeder, dem öffentliches Sprechen wichtig ist, unseren medialen Sport-Intellektuellen genau aufs Maul schauen.“

weitere PressestimmenFR

Leserbriefe zur Sache an die FR-Sportredaktion

Martin Pütter (NZZ 9.9.) schreibt über englische Sorgen. „Rund 250 englische Anhänger waren nach Mazedonien gereist und hatten Karten auf dem Schwarzmarkt gekauft: Tickets für bis zu 70 Pfund waren ein Klacks im Vergleich mit den sonst branchenüblichen Preisen. Im Stadion bekamen sie dann die Feindlichkeit des heimischen Publikums zu spüren: Provokationen, verbale Beschimpfungen, dazu wurde eine England-Fahne verbrannt. Selbst die englischen Spieler waren darüber schockiert, mehr noch als über die rassistischen Beschimpfungen etwa gegen Sol Campbell oder Emile Heskey. Die mazedonischen Spieler schienen sich nicht besser zu verhalten. Da soll gespuckt und gedroht worden sein, so erzählte David Beckham. Er sei sogar davor gewarnt worden, dass er das Stadion nicht lebend verlassen werde. Das alles sei jedoch harmlos im Vergleich zu dem, was die englischen Fans und Spieler in der Türkei erwarte, glaubten die englischen Medien in den letzten Tagen (…) Zwischen türkischen und englischen Fans herrscht seit einigen Jahren eine besondere Animosität, die vor über drei Jahren ihren negativen Höhepunkt hatte. Damals waren zwei Anhänger von Leeds United vor dem Uefa-Cup-Spiel ihrer Mannschaft gegen Galatasaray Istanbul erstochen worden. Auch deswegen war es im Februar in Sunderland zu Ausschreitungen gekommen, und darum hat Eriksson die englischen Fans nun gebeten, nicht nach Istanbul zu reisen – eine Empfehlung, die zuvor schon das Innenministerium der britischen Regierung abgegeben hatte.“

zur Lage der Schweizer Nationalauswahl NZZ

der Start zur WM-Qualifikation in Südamerika NZZ

Georg Bucher (NZZ 9.9.) berichtet das Freundschaftsspiel zwischen Portugal und Spanien. „Abgesehen von einem Intervall zu Beginn der zweiten Halbzeit war Spanien den Lusitanern in allen Belangen überlegen und gewann nach 45 Jahren wieder eine iberische Classique. Das Ergebnis (3:0) schmeichelt dem Verlierer; sensationell ist es auch insofern, als Portugal unter Luis Felipe Scolari, dem Coach des brasilianischen Weltmeisterteams, im taktischen Bereich Fortschritte machte und nur Italien (1:0 in Genua) unterlegen war. „Desaster“ und „Schande“ stand am Sonntag auf den Titelseiten der Sportzeitungen. Ausgerechnet vom Erzrivalen, dazu noch in Guimarães, der „Wiege Portugals“, waren die Ausrichter der EM 2004 vorgeführt worden. Hätte Scolari einen portugiesischen Pass, man würde ihn nach dieser Blamage absetzen, hiess es maliziös in einem Kommentar. Seine Spieler zweifelten nicht mehr an ihren Fähigkeiten, sie könnten den kapitalen Match am Mittwoch gegen die Ukraine selbstbewusst angehen, resümierte Saez die Generalprobe. Baraja hatte das Spiel magistral gelenkt, in den Korridoren brillierten Michel Salgado und Etxeberria, Puyol und Vicente zeigten defensiv wie offensiv Wirkung. Torres liess Meira und Fernando Couto in den Zweikämpfen schlecht aussehen, musste allerdings nach einer üblen Attacke des von allen guten Geistern verlassenen ehemaligen Barça- Verteidigers Couto den Platz verlassen. Die eingetretenen Joaquin und Tristan vollendeten Gegenstösse zu sehenswerten Toren und überzeugten ebenso wie Valeron und der schnelle Sevillano Reyes. Es fällt schwer, einen Spieler herauszuheben.“

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