indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Nach Japans Ausscheiden

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Nach Japans Ausscheiden

siehe auch Die Gastgeber

Zu den Reaktionen der japanischen Öffentlichkeit nach dem Ausscheiden ihrer Mannschaft bemerkt Anne Scheppen (FAZ 20.6.). „Das japanische Publikum ist großmütig, es freut sich über den Sieg – aber es verzeiht auch die Niederlage. Die Zeitungen sind voll von Hymnen der Dankbarkeit. Der Fußball, das Team haben das Land zumindest für kurze Zeit aus seiner Depression geholt, das Selbstbewusstsein aufblühen lassen: Für zwei Wochen durfte man sich der Illusion hingeben, dass es in schnellen Schritten aufwärts geht. „Die Nationalmannschaft inspiriert uns“, überschrieb die konservative „Daily Yomiuri“ ihren Leitartikel am Mittwoch. Seit mehr als zehn Jahren stecke Japan in der Wirtschaftskrise, die Reformen kämen nicht wie erwartet voran, die Konkurrenzfähigkeit habe nachgelassen: „Der Erfolg der jungen Mannschaft hat dem japanischen Volk einen Hoffnungsstrahl gegeben.“ „Danke Japan“, diese Inschrift trugen die Verlierer auf T-Shirts durchs Stadion von Miyagi. „Danke Mannschaft“, antwortet Japan am Mittwoch unisono. Die Spieler haben Kampfgeist bewiesen, Japans Fußball weitergebracht als jemals zuvor. Das Team hat sich aus den Kinderschuhen gespielt, ist erwachsen geworden, den Großen ebenbürtig – so will man es jetzt sehen. Die Leistungen werden aufgezählt, nicht die Defizite.“

Die Reaktionen der japanischen Medien auf das 2:2-Remis ihrer Mannschaft gegen Belgien analysiert Anne Scheppen (FAZ 8.6.). „Die Presse betätigt sich als Cheerleader für die Nation. Wieder und wieder werden die beiden Tore von Junichi Inamoto und Takayuki Suzuki im Fernsehen bejubelt. Nachdem sich die Gegner der nächsten Begegnung erstmals beim Training einem größeren Publikum gezeigt hatten, stellte die Zeitung Sankei Sports voller Genugtuung fest, die russischen Eisbären hätten offensichtlich größere Schwierigkeiten mit den hohen Temperaturen in Japan und der großen Luftfeuchtigkeit: Die Siegeschancen stehen also gut, denn der Wetterbericht sieht für Sonntag in Yokohama Hitze voraus. Die nicht zu ekstatischer Begeisterung neigende, überaus seriöse Yomiuri Shimbun vermerkte immerhin, es gebe keinen Grund, warum die Japaner sich nicht gegen die wechselhaften Russen durchsetzen sollten. Schließlich zögen Troussiers Soldaten mit etwas ins Stadion ein, das vor vier Jahren unter dem unerfahrenen Okada noch gefehlt habe: Vertrauen. Die Asahi Shimbun orakelt mit Weitblick: Japans Schicksal steht auf dem Spiel.“

Nina Klöckner (Berliner Zeitung 4.6.) über Japans Trainer Philippe Troussier. „Er hat vor allem versucht, sich nicht verbiegen zu lassen. Mit missionarischem Eifer trichtert er den Kickern seine Vorstellung des Spiels ein. Er ist sehr direkt, er schreckt nicht vor unpopulären Entscheidungen zurück. Und: Er sagt Nein (…) Die Japaner haben den eigenwilligen Franzosen letztlich akzeptiert, weil ihnen nicht verborgen blieb, dass sich die Mannschaft weiterentwickelt hat. Außerdem geht es für die Gastgeber nicht nur darum, bei der zweiten WM-Teilnahme endlich den ersten Punkt zu erspielen. Sondern um Hoffnung. Der nationale Spielbetrieb, anfangs als „Sushi-Liga“ verspottet, reißt kaum jemanden mehr von den Sitzen. Durch ein positives WM-Abschneiden, hoffen die Verantwortlichen, könnte der Negativtrend in der J-League erst einmal gestoppt werden.“

Georg Blume (Die Zeit 29.5.) berichtet vom Schattendasein des Fußballs in Japan. „Fußball ist in Japan ein Sport der Unangepassten, der Außenseiter (…) Anders als in Europa ist er nicht Volks-, sondern Subkultur, Fluchtstätte für Pubertierende, für Außenseiter oder für solche, die zumindest am Wochenende am Rande der Gesellschaft stehen wollen.“ Dies gilt auch für Hidetoshi Nakata. „Der 25-jährige Spielmacher der Nationalelf ist bisher der einzige Japaner, der im Fußball auch auf internationaler Ebene mit seinen Leistungen auffällt: zuletzt beim Pokalfinale in Italien, als er seinem Verein, dem AC Parma, mit einem spektakulären Volleytor den Sieg über Juventus Turin sicherte (…) Nakata, der Mann mit den rot gefärbten Haaren, gilt als Einzelgänger.“ Auf seiner Homepage gibt er zu, wie er „beim jüngsten Gastspiel der Nationalelf in Warschau Hotel und Mannschaft am Abend allein ließ, um die polnische Küche auszuprobieren.“

Über eine Art Geburtsstunde des japanischen Fußballs berichtet Martin Hägele (SZ 24.5.): die Teilnahme einer Studentenauswahl bei der Universiade 1953 in Dortmund. “Mit 15 anderen Studenten hatten sie zum ersten Mal Japan verlassen. Nachdem sie ihr Eröffnungsspiel gegen den Favoriten Deutschland 3:4 verloren hatten, sprach keiner auf der Rückfahrt ins Quartier auch nur ein Wort. Als sie die Mensa betraten, wo die anderen Teams schon mit ihrer Mahlzeit begonnen hatten, senkten sie den Blick. Doch plötzlich hörte das Geklapper von Besteck und Tellern auf, alle sprangen von ihren Tischen auf und jubelten den unbekannten Asiaten zu – von diesem Moment an fühlten sich Ken, Shunichiro und die andern aufgenommen in der internationalen Fußball-Familie. Es sind überwiegend solch emotionale Szenen, aus denen die Fußballpioniere die Kraft zogen, diesen Sport in Japan voran zu bringen.”

An der Entwicklung des Fußballs in Japan war maßgeblich ein Deutscher beteiligt, schreibt Martin Hägele (NZZ 14.5.). “In der deutschen Bundesliga wird über den ehemaligen Meistertrainer Dettmar Cramer gelächelt, dessen Ära bei Bayern München vor allem deshalb in Erinnerung geblieben ist, weil sich der kurz gewachsene Fußballlehrer als Napoleon hatte porträtieren lassen. In der Chronik von Team Nippon bekommt der Entwicklungshelfer viel freundlichere Züge. Cramer betreute die Heimmannschaft an den Olympischen Spielen 1964 in Tokio. Und gewissermaßen als Übervater schwebte er vier Jahre später in Mexiko über dem Trainergespann Okana/ Naganuma, das mit dem Gewinn der Bronzemedaille den bisher größten Erfolg des japanischen Verbandes verzeichnete.”

Tunesien

Christoph Kieslich (FR 5.6.) hält die Mannschaft Tunesiens nicht zuletzt wegen der häufigen Trainerwechsel im Vorfeld der WM für einen krassen Außenseiter. „Tatsächlich sorgte Tunesien zuletzt mehr hinter den Kulissen denn auf dem Spielfeld für Wahrnehmung. Dem ungeliebten Italiener Francesco Scoglio folgte Henri Michel. Doch auch der international reputierte Franzose brachte den undurchsichtig organisierten, von viel en Egoismen bestimmten sowie dem Einfluss der Regierung ausgesetzten Fußball nicht voran. Der Auftritt beim Afrika Cup in Mali war desillusionierend, die Mannschaft erzielte keinen Treffer und hatte die Ausstrahlung einer Alt-Herren-Truppe.“

Nach Aussagen der tunesischen Tageszeitung La Presse (3.6.) sind „die Beobachter der Fußball-WM nicht dazu geneigt, der tunesischen Mannschaft eine reelle Chance zuzugestehen. Das Gesetz des Spieles könnte aber alles ändern. In einigen Stunden, werden wir eine Mannschaft bei ihrem Spiel sehen, die, wie man gestehen muss, für viele Beobachter die schwächste des Turniers sein könnte. Diese Situation ist auch mit einem Vertrauensmangel der eigenen Medien in das Team zu erklären. Für die tunesischen Spieler könnte diese gängige Einschätzung jedoch vorteilhaft sein. Ein Kämpfer ist dann besonders wirkungsvoll, wenn er mit einer ungünstigen Prognose startet.“

Der Schweizer Trainer Tunesiens – Michel Decastel – ist ob der Perspektiven der tunesischen Mannschaft pessimistisch. Matthias Erne (NZZ 30.5.) darüber. “Zwar ist Decastel als Ausländer gegenüber seinem Gastland der Höflichkeit verpflichtet, doch große Chancen mag er dem tunesischen Nationalteam nicht einräumen. Das gravierendste Problem, sagt er, sei das Nervenkostüm. Immer wieder würden tunesische Spieler unter Druck Konzentrationsfehler begehen. Fussballerisch seien sie ganz ordentlich, fügt Decastel hinzu, konditionell auch, der Wille sei vorhanden, aber eben: «Sie sind mental einer Situation, wie sie an der WM entsteht, nicht gewachsen.» Das Startspiel gegen Russland hält Decastel für die Schlüsselpartie. Eine Niederlage würde seiner Meinung nach bereits das Ende aller Träume bedeuten, «weil die Tunesier vermutlich nicht die Moral aufbringen würden.”

Russland

Die Ausschreitungen russischer Jugendlicher nach der öffentlichen TV-Übertragung des Spiels Russland gegen Japan kommentiert Elfie Siegl ( FAZ 11.6.). „Es ging am Sonntag in Moskau um mehr als um ein verlorenes Fußballspiel. Auch wenn Russen nicht selten schlechte Verlierer sind, wie die Olympischen Winterspiele erst im Februar gezeigt haben. Nicht die Misserfolge beim Fußball, sagte ein Vertreter des Nationalen Olympischen Komitees, seien Gründe für die Krawalle gewesen, sondern jene Lebensweise, die russische Jugendliche pflegten: eine Huldigung des Kults der Gewalt und des Alles-ist-erlaubt, der seine Wurzeln im Fernsehen habe, das unentwegt Reklame für negative Sachen mache (…) In Russlands Hauptstadt verherrlichen nicht nur bierselige Jugendliche Gewalt, sondern vor allem äußerst nüchterne Patrioten und Neofaschisten. Stunden vor dem Fußballspiel sind fünf japanische Studenten verprügelt worden. Keine Ausnahme: Seit Monaten läuft eine Hatz auf Menschen, die anders aussehen als Europäer. Die japanische Botschaft wird verstärkt geschützt. Viele weitere ausländische diplomatische Vertretungen in Moskau haben ihren Bürgern den Rat gegeben, sich äußerst vorsichtig auf Moskaus Straßen zu bewegen.“

Gewinnspiel für Experten

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

104 queries. 0,596 seconds.