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Mangel an Sensibilität in der Bundesliga

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Mangel an Sensibilität in der Bundesliga

„Im Fall von Sebastian Deisler wurde nicht frühzeitig eingegriffen“, kritisiert Michael Ashelm (FAS 23.11.) den Mangel an Sensibilität in der Bundesliga: „Immer wieder weisen Experten darauf hin, daß gerade im Profifußball die psychische Befindlichkeit der Spieler vernachlässigt würde, ihnen nur wenig Hilfe zuteil käme, um den extremen Belastungen standzuhalten. Eberspächer spricht von einem irrationalen Verhalten der Klubs, die viel Geld und Manpower vor allem in die physische Betreuung ihrer Profis stecken, aber das mentale Wohl oftmals vernachlässigen. Ganze Bataillone stehen bereit, um die Knochen, Muskeln und Sehnen der Spieler zu flicken, sie für die wichtigen Minuten auf dem Platz geschmeidig zu halten. Einen Sportpsychologen sucht man aber meist vergeblich auf der Gehaltsliste der Vereine. Im Fall Deisler geben die Verantwortlichen des FC Bayern vor, professionell gehandelt zu haben. Doch erst als der Nationalspieler seinen alarmierenden Hilferuf abgab, tat sich etwas, wurde er zur stationären Behandlung in das Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie eingewiesen.Das Schwierige ist, daß keiner im Umfeld genau weiß, damit umzugehen, weiß Uwe Harttgen. Der ehemalige Fußballprofi, der mit Werder Bremen den Europapokal der Pokalsieger gewann und deutscher Meister wurde, arbeitet heute wieder für seinen früheren Klub – als ausgebildeter Sportpsychologe. Die professionelle Hilfe eines psychologisch geschulten Fachmanns gilt in der Macho-Welt des Fußballs noch immer als Schwächesignal und wird meist abschätzig belächelt. Als in Frankfurt der Junioren-Nationalspieler Jermaine Jones wegen einer Disziplinlosigkeit auffiel, schickte ihn Trainer Willi Reimann zur Strafe in die Oberligamannschaft und verweigerte ihm wochenlang das Wort. Wo bei einem jungen, in der Entwicklung befindlichen Menschen Fingerspitzengefühl gefragt ist, zeigte Reimann gnadenlose Härte: Sollen wir ein paar Seelenklempner einstellen? fragte er. Oder eine kleine Kapelle aufmachen? Die Realität in der Bundesliga zeigt noch immer Verhaltensformen längst vergangener Jahrzehnte.“

Niemand hat sich anders verhalten, als in der knochenharten Branche üblich

Jan Christian Müller (FR 24.11.) berichtet Hintergründe: „Neulich, Anfang September, vor einem seiner vielen Comebacks in der Nationalmannschaft, hat es der Deutsche Fußball-Bund geschafft, Deisler bei einer Pressekonferenz aufs Podium zu bugsieren. Er hat nur widerwillig mitgemacht, aber dann hat er bemerkenswerte Sätze formuliert. Etwa diese: Ich habe schon viele Leute kennen gelernt, die gesagt haben, so und so ist das Fußballgeschäft. Wenn andere sagen, das und das muss man als Fußballstar machen, dann können die das so sehen. Ich habe da meine eigenen Ansichten. Die eigenen Ansichten waren mit denen seines langjährigen Beraters Jörg Neubauer nicht mehr kompatibel. Neubauer hatte für Deisler eine Karriere geplant, die den modernen Ansprüchen des Marketings gerecht wird. Zum Abschied beschied Neubauer seinem ehemaligen Mandanten, es lohne sich nur, Spieler zu beraten, die sich auch beraten lassen. Jetzt braucht Deisler professionelle Beratung, und es scheint, als nehme er sie an. Auch Hertha-Manager Dieter Hoeneß hatte seinerzeit wissen lassen, er halte Deisler für beratungsresistent. Der hatte sich nach Bekanntgabe des Wechsels von den Berlinern zu Bayern München nach Ansicht seines Noch-Arbeitgebers wenig kooperativ in der Kommunikation mit den lautstark maulenden Hertha-Fans gezeigt. Deisler war damals öffentlich erstmals erheblich unter Druck geraten und fühlte sich von den ihrerseits vergrätzten Herthanern im Stich gelassen, nachdem bekannt geworden war, dass er vorab ein Millionen-Handgeld von den Bayern kassiert hatte. Da wurde er bei jedem Heimspiel ausgepfiffen. Später, beim FC Bayern, hat er von der Clubführung bald Kritik aushalten müssen. Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge machte deutlich, dass ein Fußballspieler seiner Klasse in einem Unterhaltungsunternehmen wie dem FC Bayern München mehr sein muss als ein guter Passgeber. Ich glaube, sagte Rummenigge, er macht einen gedanklichen Fehler. Er meint, es reicht, wenn er trainiert und am Samstag spielt. Beim FC Bayern ist das nicht genug. Hier muss er außerhalb des Platzes seine Rolle spielen. Manager Uli Hoeneß hatte es gar drastischer formuliert: Die Schonfrist ist vorbei. Das war im Juli. Sebastian Deisler hat auf die unzweideutigen Forderungen ablehnend reagiert. Er hat sich nie in die ihm zugedachte Rolle pressen lassen. Sein Credo: Man sollte mich akzeptieren, wie ich bin. Das tue ich auch bei anderen. Seit fast zwei Wochen weiß Rummenigge nun, dass Deisler, den die Mitspieler aus früheren Zeiten als umgänglich und lebenslustig in Erinnerung haben, nicht nur ein scheuer Sonderling geworden ist, der nur sehr schwer Vertrauen zu anderen Menschen fasst, sondern an Depressionen leidet und Hilfe von Fachleuten benötigt. Die bekommt er nun. Es ist in diesem Fall nicht so, dass Verantwortliche und Öffentlichkeit sich etwa Vorwürfe machen müssten, für Deislers Krankheit in fahrlässiger Art und Weise mitverantwortlich zu sein. Niemand hat sich auffällig anders verhalten, als es in der knochenharten Branche allseits üblich ist.“

Doofe Fragen sind solche, die auf Fehler der Verantwortlichen zielen

Joachim Mölter (FR 24.11.) findet die Kommunikations-Strategien des FC Bayern findig: „Anders als Hannover 96 im Fall Jan Simak hat der Meister die Situation kontrolliert und die Medien geschickt gesteuert. Wenn eine schlechte Nachricht nicht mehr zu verhindern ist, dann schafft es der Pressesprecher Markus Hörwick zumindest regelmäßig, die Bekanntgabe auf einen Termin zu verschieben, zu dem sie am wenigsten Imageschaden anrichtet. Das war schon so in der Rosi-Affäre von Trainer Ottmar Hitzfeld, die just an dem Tag in Deutschland publik wurde, als die Mannschaft weit weg war, beim Weltcup-Finale in Tokio. Dank des sportlichen Erfolges und der guten Beziehungen zum Boulevard geriet Hitzfelds Geständnis einer außerehelichen Beziehung schnell in den Hintergrund (…) Wir haben uns in Abstimmung mit Sebastian Deisler entschieden, eine offensive Darstellung zu machen, sagte Bayern-Manager Uli Hoeneß. Nun gehen die Chefs in München mit ihrem erkrankten Angestellten zweifellos stilvoller um als die in Hannover, aber mit ihrer offensiven Darstellung bestimmen sie natürlich auch das Spiel mit den Medien. Hoeneß bat am Freitag um sachliche Berichterstattung, und was sachlich ist, bestimmte er gleich selbst. Auf die Frage eines Radioreporters, ob man Deislers Probleme nicht hätte vorhersehen oder verhindern können, reagierte Hoeneß jedenfalls über Gebühr gereizt: Auf doofe Fragen gibt’s keine Antwort. Doofe Fragen im Selbstverständnis des FC Bayern sind solche, die auf Fehler der Verantwortlichen zielen, und mit derartigen Rüffeln hat Hoeneß bislang noch jeden Fragesteller zum Schweigen gebracht. Es ist ja auch im Fall Deisler auffällig, wie sehr die Bosse ihre Fürsorge betonen und ihren möglichen Beitrag zu vernachlässigen suchen. Man sollte jetzt den Fehler nicht machen und die Ursachen eruieren, sagte Hoeneß; zudem wies er darauf hin, dass dem Spieler schon während seiner Knieverletzung alle Zeit zur Genesung gewährt worden war: Wir haben ihn nie unter Druck gesetzt. Während der Heilung nicht, das stimmt. Aber danach.“

Warum sollte der Sport von diesem Phänomen ausgeklammert werden?

FR-Interview mit Oliver Kirchhof, Sportpsychologe

FR: Nach Jan Simak ist Sebastian Deisler der zweite prominente Fall binnen kurzer Zeit, der wegen psychischer Probleme seinen Beruf nicht ausüben kann. Sind Fußball-Profis im Allgemeinen und in dieser Spielzeit im Besonderen anfällig für Depressionen?

OK: Als ich am Freitag vom Fall Deisler hörte, habe ich noch gesagt, dass man da keinen Trend ablesen kann. Dann habe ich nochmals darüber nachgedacht. Was eine Rolle spielen könnte, ist, dass es Spieler betrifft mit Potenzial, die innerhalb kürzester Zeit mit immensen Summen gelockt, aber auch mit sehr hohen Erwartungen konfrontiert werden, die ihre Leistung aber noch gar nicht so recht bewiesen haben. Simak war ein guter Zweitligaspieler, dann ist er zu Bayer Leverkusen als neuer Messias gekommen als Ballack-Ersatz. Und was hat Deisler geleistet? Er hat bei Gladbach einige gute Spiele gemacht, dann ist er sofort zur Hertha gekommen, war da schon häufig verletzt, ist dann mit Potenzialerwartungen und viel Geld von den Bayern geholt worden. Da hat ein Spieler schon das Gefühl, das alles rechtfertigen zu müssen. Es wird schon in Potenzial viel investiert, möglicherweise überproportional viel. Das setzt die Spieler unter einen ungeheuren Druck und möglicherweise können sie dieses Potenzial gar nicht realisieren.

FR: Kann es sein, dass im Zuge der geringeren finanziellen Mittel der Clubs der Leistungsdruck für den Einzelnen größer wird, sich beweisen zu müssen?

OK: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, der Leistungsdruck ist jetzt so groß, jetzt werden die Spieler alle depressiv. Letztlich ist Depression ein Phänomen, das in der Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, sie ist die am weitesten verbreitete psychische Störung in unserer Gesellschaft. Und warum sollte der Sport von diesem Phänomen ausgeklammert werden? Letztlich muss man damit leben, dass der Fußball ein Spiegel der Gesellschaft ist. Von daher ist es geradezu normal, dass jemand auch im Fußball mal eine Depression entwickelt.

FR: Das heißt also, bisher wurden Depressionen bei Spielern unter der Decke gehalten.

OK: Ich habe in meiner sportpsychologischen Praxis mit Sportlern zu tun, die sich in einer depressiven Entwicklung befinden. Es ist ein Phänomen, mit dem man sich im Sport wie in anderen Bereichen der Gesellschaft auseinander zu setzen hat.

FR: Gibt es denn statistische Werte, wie im Sport im Vergleich zur Normalbevölkerung Depressionen auftreten?

OK: Im Sport tritt es auf keinen Fall stärker auf. Im Fußball sogar eher weniger, weil es viele schützende Faktoren gibt. Schützend ist zum Beispiel, dass viel Geld verdient wird und dass die Fußballer durch die starke öffentliche Aufmerksamkeit etwas fürs Selbstwertgefühl tun. Das hat ja für die Depressionsentstehung immer eine zentrale Bedeutung.

Wer träumt davon, ein gläserner Mensch zu sein?

Jan Christian Müller (FR 24.11.) hält inne: “Es ist das Leben, von dem viele, die es niemals schaffen werden, immer geträumt haben: Bei der Nationalhymne stramm stehen dürfen als Auserwählter der Nation. Tore schießen und Flanken schlagen für den großen FC Bayern. Der Geruch von Massageöl in der Umkleidekabine, die Geborgenheit im Kreis der Kameraden, die kalten Schauer beim Auflaufen, die Freude am Spiel, der ungehemmte Jubel nach einem Treffer, der Stolz, es geschafft zu haben bis ganz nach oben, das Lob von den Schulterklopfern, das Interesse der Medien. Das Geld, das viele Geld, ein teures Auto, Designer-Klamotten, eine hübsche Frau, ein Anwesen auf parkähnlichem Grundstück. Die ganze Leichtigkeit des Seins. Das ist die eine Seite. Wer träumt schon von der anderen? Wer träumt vom Ärger nach einer vergebenen Torchance, vom Frust nach einer Niederlage, von der Hilflosigkeit auf der Ersatzbank, der Einsamkeit beim Aufbautraining nach schwerer Verletzung, der gnadenlosen Kritik nach schwachen Leistungen, den Erwartungen der Öffentlichkeit, den eigenen Erwartungen. Wer träumt davon, ein gläserner Mensch zu sein?“

Heinz-Wilhelm Bertram (BLZ 22.11.) bedauert die Schwermut Sebastian Deislers: „Dass der Spieler sich seit Monaten in einem psychisch labilen Zustand befand und sich selbst zu finden versuchte, hatte nicht nur der Umstand verdeutlicht, dass er unter dem Einfluss des Kollegen Mehmet Scholl zum Buddhismus konvertiert war. Einem engen Vertrauten hatte er gestanden: Richtig wohl fühle ich mich nur, wenn ich alleine in meinem Auto bin und bei geschlossenen Scheiben Musik höre, am liebsten von Schwarzen. Es war dies ein intimes Geständnis von großer Tragweite: Nur abgeschieden und isoliert ist Sebastian Deisler offenbar ganz er selbst. Nicht einmal die Wohnung reicht ihm als Fluchtpunkt. Mobilität, Flucht, bereitet ihm am meisten Wohlbehagen. Sebastian fühlte sich sehr oft eingekreist, bedrängt, ja verfolgt. Nicht nur von Menschen, sondern auch von Ansprüchen und Anforderungen, sagt dieser Vertraute. Ob Sebastian Deisler, den Franz Beckenbauer einmal als das größte Talent bezeichnete, das wir im deutschen Fußball haben, jemals wieder der sorglose Fußballer von einst werden wird? Deislers Vater schwärmt in seinem Bekanntenkreis noch heute von jenem sonnenbeschienenen Tag, als er zusammen mit seinem Sohn auf die Zugspitze fuhr und der Kleine zum maßlosen Staunen des Vaters nicht etwa ein Picknick, sondern einen Fußball aus dem Rucksack kramte. Und den verblüfften Vater bat, mit ihm auf Deutschlands höchstem Punkt zu spielen. Nie war der Sebastian Deisler von heute entfernter von jenem glücklichen Augenblick als in diesen Tagen.“

Tsp: „Wie Sebastian Deislers ehemalige Kollegen bei Hertha BSC auf die Nachricht aus München reagierten“

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