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„Nationale Tränen“ (FAZ) fließen, denn Hoffnungsträger Sebastian Deisler fährt nicht mit zur WM

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für „Nationale Tränen“ (FAZ) fließen, denn Hoffnungsträger Sebastian Deisler fährt nicht mit zur WM

Nach dieser Schreckensmeldung beweist Rudi Völler zwar stoisches Talent und „fernöstlichen Langmut“ (FAZ). Die WM-Aktien Deutschlands scheinen jedoch erneut gefallen. „Unter diesen Umständen wäre das Erreichen des Viertelfinales schon eine veritable Sensation“, schreibt Erik Eggers in der „Tageszeitung“. Für einen „Nachruf“ sei es nach Auffassung Andreas Burkerts (SZ) allerdings zu früh.

Zuletzt wurde an dieser Stelle berichtet, dass Italiens Arbeitgeber und Wirtschaftsbosse durch die arbeitsfeindlichen Anstoßzeiten während der WM Produktivitätsrückgänge befürchten, da die fußballbegeisterten Italiener vermutlich auf keine Fernsehminute verzichten wollen (if 19.5.). Wie praktisch, wenn man über Dauer und Frist seiner Tätigkeit selbst verfügen darf: Die Parlamentarier aus Ekuador beschlossen, während der Weltmeisterschaft nicht regieren beziehungsweise opponieren zu werden.

Außerdem heute in der Fußballpresse: „Blaues Wunder“ für den Weltmeister, neues vom Alternativfußball und Fußball-Poesie.

Nach der verletzungsbedingten Absage Sebastian Deislers rät Andreas Burkert (SZ 21.5.) Deutschlands Anhängern zu Besonnenheit. „Dass wir nicht Weltmeister werden, ist doch schon vorher bekannt gewesen, und ist es nicht ungleich reizvoller, ohne urdeutsche Ansprüche und Erwartungen in Asien anzutreten? Einen Nachruf sollte bitteschön trotzdem niemand voreilig verfassen, dafür ist Völlers Kader weiterhin ausreichend besetzt mit Ehrgeiz und Talent.“

Michael Horeni (FAZ 21.5.) bewundert Rudi Völlers Reaktion. „Man mag sich gar nicht vorstellen, was für schlimme Dinge in Rudi Völlers Fußballwelt eigentlich geschehen müssen, damit die scheinbar unerschütterliche Gelassenheit und Zuversicht des Teamchefs ins Wanken geraten. 48 Stunden vor dem Abflug zur Weltmeisterschaft und gerade einmal elf Tage vor dem ersten Spiel gegen Saudi-Arabien bleibt der deutsche Publikumsliebling jedenfalls seinem fröhlich-optimistischen Lebensmotto weiter treu, das da lautet: Aus jeder Situation das Beste machen. Die schon fast fernöstliche Langmut des Teamchefs kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich an diesem Mittwoch eine deutsche Auswahl auf den Weg nach Asien macht, die eine unzureichende Vorbereitung ohnegleichen hinter sich hat und über deren Formation und Form sich nur hochspekulative Vorhersagen machen lassen. Früher, so kurz vor einer Weltmeisterschaft, diskutierten Millionen von deutschen Fußballexperten nur noch im Detail über die Aufstellung für das erste Spiel, und es war überhaupt keine Frage, wie es um die Fitness der deutschen Profis bestellt sein würde.“

Vom 6:2-Testspielsieg der deutschen Mannschaft gegen Österreich berichtet Erik Eggers (taz 21.5.). „Anders als Wales präsentierten sich die österreichischen Gegner weitaus artiger und offerierten ihre großartigen Qualitäten als Sparringspartner. So unternahm die Mannschaft von Trainer Hans Krankl so ziemlich alles, um das vorübergehende Stimmungstief der Deutschen in Vergessenheit geraten zu lassen. Hinterher wunderten sich alle, dass nicht auch noch Carsten Jancker, der eine weitere Leistungssteigerung hatte erkennen lassen, zu einem Tor gekommen war. Warum hatte ihn nicht einfach ein Österreicher so angeschossen, dass der Ball ins Tor trudelte?“

Die ekuadorianische Zeitung El Universo (18.5.) informiert uns über eine politische Pause in ihrem Heimatland. „Die ekuadorianische Nationalmannschaft nimmt zum ersten Mal in der Geschichte an einer Weltmeisterschaft teil. Aus diesem Grund habe das ekuadorianische Parlament die Tage zwischen dem 4. Juni und 4. Juli als Urlaubstage deklariert, um unentschuldigte Fehlstunden der Politiker während der Weltmeisterschaft zu vermeiden, wie der Präsident der legislativen Kammer Jose Cordero erklärte.“

Martin Hägele (SZ 21.5.) über Vergangenheitsverarbeitung im chinesischen Fußball. „über die jüngere Fußball-Geschichte jenes Landes, das schon allein wegen der mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern das weltweit größte Potenzial in diesem Sport besitzt, existieren keine Bücher und nur vage Daten. Man muss sich also mit den Erzählungen von Zeitzeugen behelfen, der ehemalige chinesische Nationaltrainer Klaus Schlappner hat einmal eine solche Runde zusammengestell (…) Es wurde eine lange Geschichtsstunde. Und man hat viel Tee getrunken zu den Erzählungen. Es war spannend und doch immer wieder zäh. Vor allem an jenen Punkten, wo sie nach Erklärungen suchten, nach Ausreden fürs Fußball-Schicksal. Für den Joss. Joss ist ein chinesisches Wort und bedeutet Glück, Pech, Schicksal und noch ein bisschen mehr. Und weil fast alle chinesischen Menschen abergläubisch sind, wird dieser fatalistische Begriff bis zum Geht-nicht-mehr strapaziert (…) Um den Fluch zu besiegen, hat man Bora Milutinovic gebraucht. Den serbischen Trainer-Freak, von dem manche sagen, er sei ein Clown. Und sein Zauber beziehe sich auf WM-Turniere. Andererseits hat wohl auch der asiatische Kontinentalverband bei der Auslosung ein bisschen nachgeholfen, und Boras Leuten jegliche schwere Konkurrenz aus dem Weg gelost. China ist schließlich jener Teil des Weltmarkts, auf dem auch im Fußball-Business am meisten zu akquirieren ist.“

Fifa-Präsident Blatter sieht sich seitens seines Generalsekretärs Zen-Ruffinen unter anderem massiven Bestechungsvorwürfen ausgesetzt. Blatters Verteidigungsrede kommentiert Roland Zorn (FAZ 21.5.). „In seinem ausführlichen Schreiben versucht Blatter, seinen Gegenspieler in der Fifa-Administration Punkt für Punkt zu kontern, und erklärt sich dabei selbst zum K.-o.-Sieger. Allerdings fällt beim Lesen der Erwiderung auf, dass die Argumentation des Fifa-Präsidenten im Fall der ihm von Zen-Ruffinen zur Last gelegten Zahlung eines Bestechungsgeldes an einen ehemaligen afrikanischen Fifa-Schiedsrichter viel Goodwill in die mitmenschliche Wärme Blatters voraussetzt (…) Über sein gelegentlich selbstherrliches Handeln vorbei am Exekutivkomitee, über seine diktatorisch verfügte Suspendierung des internen Untersuchungsausschusses zur Prüfung der Fifa-Finanzen und über die Bildung eines nur ihm verpflichteten Beraterteams an der klassischen Fifa-Administration vorbei erfahren Blatters Leser nichts bis wenig. Und wenn, dann in Form einer geschönten Darstellung.“

Matti Lieske (taz 21.5.) berichtet von der Entscheidung um die deutsche Alternativfußballmeisterschaft. „Alternativfußball, das ist, wenn die Ersatzspieler eines Teams ihren Torwart nach dem gelungenen Einfangen einer Flanke mit dem Chorus Toni, Toni, Fußballschrott anfeuern. Wenn es Einwurf am Mittelkreis gibt, weil man für Zuschauer und Reservisten zwecks Regenschutzes dort einen Baldachin errichtet und den Bereich kurzerhand zu Aus erklärt hat. Wenn jedes Päuschen zu ein paar hastigen Zügen an der Kippe genutzt wird, bevor es wieder ins Getümmel geht. Dass ausgerechnet der Rote Stern Bremen, das älteste aller Teams und in der Vergangenheit zwar durch hohe Sympathiewerte, aber nicht unbedingt sportliche Triumphe aufgefallen, im 28. Jahr seines Bestehens den Titel holte, darf getrost als die Sensation des Berliner Turniers betrachtet werden.“

Ralf Itzel (SZ 21.5.) hat das Testspiel der beiden WM-Teilnehmer Frankreich und Belgien gesehen, in dem der Weltmeister mit 1:2 sein „blaues Wunder“ erlebte. „Zu hoch sollte man die Niederlage sicher nicht hängen, schließlich gilt es, in zwei Wochen in Form zu sein, nicht schon jetzt. Einige der Blauen schleppten sich so kurz nach der Klubsaison müde über den Rasen – wie schon vor den dann erfolgreichen Turnieren 1998 und 2000. Und natürlich waren die Belgier gegen den Weltmeister hoch motiviert, engagierter und aggressiver. Die Schlappe nervt die Franzosen aber zumindest, zumal sie Marc Wilmots von Schalke 04 auf eine Art und Weise herbeiführte, die zuletzt ihnen vorbehalten war: Durch ein Tor in der Nachspielzeit. Spielerisch brillant sind die Belgier nicht, aber sie präsentierten sich gut organisiert, abwehr- und zweikampfstark. Abgesehen von den Russen vor drei Jahren war es bisher niemandem gelungen, Frankreich im Stade de France zu besiegen.“

Spaniens Poeten wissen Heldentaten gebührend zu feiern. Die Schriftsteller Javier Marías und Vicente Verdú (El País 20.5.) widmen Zinedine Zidanes „übernatürlichem Tor“ im Champions-League-Finale hymnische Prosa. „Das Tor von Zidane war so wunderbar, weil es unerwartbar war. Die Spieler von Real Madrid haben damit nicht gerechnet. Flankengeber Roberto Carlos nicht; dieser wollte lediglich vermeiden, dass der Gegner den Ball erobert. Auch Zidane nicht; er stand nur am Rande des Strafraums. Erst als er gesehen hatte, dass der Ball nicht mehr flog, fiel ihm ein, dass es ein Tor werden könnte. Diese Tore haben etwas Undenkbares an sich. Sie sind ein Geschenk, nicht ein Geschenk des Gegners, sondern ein himmlisches Geschenk.“ (Marías)

Verdú spricht über eine zunehmende Verweiblichung des Fußballs. Dabei denkt er an Beinschüsse, Effektschüsse oder Heber. „Dazu gehört auch das Tor von Zidane. Man kann nur von einem perfekten Tor sprechen, wenn der Ball eine Kurve beschreibt. Zidanes Ball entwickelte sich in einer Form, die im Gegensatz zu den Toren der früheren Machos eine Melodie und eine innere Welle beinhalten. Die wertvollsten Spieler haben heutzutage einen milden Stil und strahlen ein weibliches Aroma á la Zidane aus. Es ist ein Fußball mit festen Kurven und Glamour.“

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