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Sonstiges
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| Donnerstag, 25. März 2004sehr lesenswert! Die Zeit veröffentlicht ein Kapitel aus Marcel Reifs Autobiografie – Ultras haben in deutschen Stadien an Bedeutung, Macht und Stimme gewonnen (taz) – „bei Manchester United könnten Leute das Sagen bekommen, die mit Fußball nicht viel am Hut haben“ (FR) – Bernd Hölzenbein, der Jet von Frankfurt, klärt Holländer auf u.v.m.
So, als wäre es die Parade eines Siegers
Sehr lesenswert! Die Zeit (19.2.) veröffentlich ein Kapitel aus Marcel Reifs Autobiografie: „Im Jahr 1994 starb mein Vater. Im Mai hatte er dem Krebs in seinem Magen nichts mehr entgegenzusetzen, und wie immer in solchen Momenten gab es plötzlich so vieles, worüber ich gern noch gesprochen hätte. Oder zumindest weiter mit ihm geschwiegen, wie wir es so lange getan hatten. Ich erinnere mich daran, wie mir fast 30 Jahre zu- vor der Brief ins Auge gefallen war. Auf einen Blick konnte ich erkennen, dass es keine Geschäftspost war, und ich wunderte mich darüber, dass mein Vater ihn mir nicht gezeigt hatte. Eigentlich war es nämlich üblich, dass er seinen fast volljährigen Sohn ums Gegenlesen bat, bevor er einen Brief abschickte. Sein gesprochenes Deutsch war gut, aber beim Schreiben schlichen sich Fehler ein, die ich auszubügeln hatte. Nun lag dieser Brief auf seinem Schreibtisch, und ich begann ihn zu lesen. Adressiert war das Schreiben an die Welt, ein Leserbrief also an die Tageszeitung, die mein Vater damals abonniert hatte. Über zwei Seiten, geschrieben in gestochener Handschrift, mit sehr vielen Fehlern. Doch sie waren ihm offensichtlich egal gewesen. Einige Tage zuvor hatte er in Heidelberg auf der Straße Albert Speer gesehen. Speer war der Architekt gewesen, der Hitlers größenwahnsinnige Visionen in Gebäude und Städte umsetzen und Germania bauen sollte, die phänomenale Hauptstadt des großdeutschen Reiches. Im Zweiten Weltkrieg wurde Speer dann Rüstungsminister und saß anschließend als Kriegsverbrecher in Berlin-Spandau ein. In der Haft hatte er seine Lebenserinnerungen geschrieben, die später ein großer Erfolg wurden. 1966 war er entlassen worden und nach Heidelberg zurückgekehrt. Die Empörung meines Vaters hatte weniger damit zu tun, dass er Speer noch weiter inhaftiert sehen wollte. Ihn hatte wohl eher die Haltung des Mannes aus der Fassung gebracht, der als ehemaliger Täter stolz, gerade und ungebeugt durch die Straßen ging. So, als wäre es die Parade eines Siegers, während die Opfer ihr Leid nie vergessen konnten. Mich überraschte das nicht. Es gibt Räume in großen alten Häusern, die für Kinder ganz besonders spannend sind; man hat sie nie betreten und stellt sich Drachen oder Feen hinter der Tür vor. Auch bei uns gab es diese geschlossene Tür, nur war mir klar, was dahinter war, und eigentlich mochte ich keinen Blick durchs Schlüsselloch werfen. Ich weiß nicht, ob mein Vater den Brief wirklich abgeschickt hat. Als ich ihn las, kam es mir jedoch so vor, als wäre er sowieso nicht an eine Zeitung adressiert, sondern an die Geschichte: „Sehr verehrte Geschichte, wie kannst du es zulassen, dass jemand, der…“ Es war der Beschwerdebrief an eine Historie, über die bei uns zu Hause nie gesprochen wurde, weil sie zu grausam, blutig und leidvoll war. Mit der wir lebten, ohne sie auch nur einmal zu erwähnen. Ich habe viele Juden kennen gelernt, die jammerten wie an der Klagemauer. Das ist keine Abwertung, es war eben ihr Umgang mit einem Grauen, in das sich niemand hineinversetzen kann, der es nicht selbst überlebt hat. Mein Vater hingegen schwieg, und an dieses Schweigen ist in unserer Familie nie gerührt worden. Mir war klar, dass es für ihn schrecklich gewesen wäre, über seine Erlebnisse zu sprechen, und der Tag, an dem das geschähe, sich in furchtbares Elend verwandeln würde. Ich wollte aber, dass es meinem Vater und mir mit ihm gut ging. Allein deshalb wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn zu bitten: „Jetzt erzähl doch mal.“ Welches Zeitzeugnis hätte ich mir denn bei ihm abholen sollen? Wie seine engsten Familienmitglieder verschleppt wurden und nie mehr zurückkamen? Oder wie er erlebt hatte, dass irgendwelche SS-Schergen Kinder an die Wand geklatscht haben? Vielleicht sogar seine kleine Schwester?“
Christoph Ruf (taz 19.2.) schreibt über die gewachsene Bedeutung der Ultras in den Stadien: „Eine halbe Stunde vor Spielbeginn setzen im D1-Block die Gesänge ein. Das branchenübliche Gedudel aus den Boxen nimmt hier keiner wahr, die Stimmung machen wir selbst, erklärt Manuel Haas von der Ultra-Gruppe Phönix Sons. Unter Fansein verstehen wir etwas anderes als zum Anton aus Tirol die Arme zu heben und sich jedes Jahr das neue Trikot zu kaufen, erklärt Fanclub-Kollege Tom Beck das Selbstverständnis in der Kurve. Ihre Fanartikel entwerfen sie selbst, unter der Woche werden in einer Turnhalle bis zu 50 Meter lange Transparente und Papptafeln vorbereitet, die – in der richtigen Anordnung und zum richtigen Zeitpunkt hochgehalten – eine der in der Szene so beliebten Choreografien ergeben. Tagelange Kleinarbeit für zehn Sekunden Glückseligkeit. Doch der aufwändige Support sei nur das äußere Erkennungsmerkmal der Szene, so Tom, der Vokabeln wie Widerstand und Rebellion gebraucht, wenn er über sein Selbstverständnis als Ultra spricht. Die Leute, die den Fußball durchorganisieren, wollen unsere Stimmung als Kulisse für die Kameras, aber nicht unseren Widerspruch. Mit Gruppierungen wie BAFF, der 1993 gegründeten kritischen Fanorganisation, sei man inhaltlich zu 75 Prozent einig. Dort habe man allerdings zu lange ignoriert, dass eine neue Fan-Generation nachgewachsen sei, die sich anders artikuliere. Tom, der stolz behauptet, dass die organisierten Rechten bei uns keine Chance mehr haben, will nicht die Politik über die Kurve stülpen, aber auch er stellt den Jüngeren Fragen: Warum kann der Bulle dich einfach so zusammenknüppeln? Die Antwort sei politisch. Ob Versitzplatzung, Kommerzialisierung oder Repression durch Polizei und Ordnungsdienst – was bereits in den Achtzigern angeprangert wurde, stößt nun bei den Ultras auf erbitterte Gegenwehr. Michael Gabriel von der Koordinierungsstelle der Fanprojekte in Frankfurt bestätigt, dass die Ultras in den letzten Jahren landesweit immer zahlreicher geworden sind. In der zweiten und dritten Liga, auch in Frankfurt, Hannover, Stuttgart und bei Bayern München gebe es starke Ultra-Gruppen, nur bei sehr traditionellen Fanszenen wie in Offenbach oder Schalke haben sie es ganz schwer. Ultras sind auch innerhalb der Fanszenen nicht unumstritten. Vor allem wirft man ihnen vor, sie nutzten das Stadion nur als Bühne zur Selbstdarstellung. Dass Sport und Fankultur sich entkoppelt haben, und mehr in die gegnerische Kurve als auf den Platz geschaut wird, hat auch Gabriel festgestellt – was Phönix Son Manuel nicht abstreitet: Wir zelebrieren unsere eigene Show, da ist 50 Prozent des Einsatzes für die eigene Gruppe. Das Bild vom kritiklosen Fahnenschwenker, der noch den peinlichsten Fehlpass mit niemals endendem Gesang unterlegt, empört ihn dennoch: Einzelne Spieler bejubeln wir aus Prinzip nicht. Beim nächstbesten Angebot würde doch jeder von denen in die Bundesliga wechseln, das sind eben nur Angestellte des Vereins. Der logische Folgesatz Der Verein sind wir bleibt zwar unausgesprochen. Er schwingt aber mit, wenn Tom über den sportlichen und finanziellen Niedergang seines Vereins spricht: Dass der KSC trotzdem an Attraktivität gewonnen hat, ist nur uns zu verdanken.“
„Bei Manchester United könnten Leute das Sagen bekommen, die mit Fußball nicht viel am Hut haben“, warnt Raphael Honigstein (FR 19.2.): „Wenn es um existenzielle Dinge geht, lassen sich die eigentlich stoischen Engländer nicht lange zu Protesten bitten: Vor zwei Jahren legten Aktivisten mit einer Blockade die Benzinversorgung des ganzen Landes lahm, weil ihnen der Ölpreis zu hoch erschien; 400 000 Menschen marschierten im September 2002 gegen das Fuchsjagdverbot durch die Hauptstadt, vergangenes Jahr schwappte eine riesige Protestwelle gegen den Irak-Krieg durchs Land und vor zwei Wochen kraxelten in Bristol, London und Newcastle ein Dutzend nicht mehr ganz junger Männer in Superheldenkostümen auf Autobahnbrücken, damit sie die Scheidungsrichter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen lassen. Für den nächsten Monat plant die Independent Manchester United Supporters Association (Imusa) einen ähnlichen Stunt: Beim Cheltenham Festival, einem der wichtigsten Pferderennen der Saison, will der Fanclub mit Bannern und Störaktionen Stimmung gegen John Magnier und JP McManus machen. Die Rennpferd-Milliardäre haben nach einem neuerlichen Zukauf ihre Anteile an United vergangenen Mittwoch auf 28,89 Prozent erhöht; nur noch ein Prozent mehr, und die Gesetze der Aktienaufsichtsbehörde würden ein Übernahmeangebot vorschreiben. Nicht nur der United-Vorstand (Wir haben ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, was die vorhaben) ist besorgt. Weil Alex Ferguson mit seinen ehemaligen Geschäftspartnern vor Gericht um etwa 75 Millionen Euro für Decktaxen des Preishengstes Rock of Gibraltar streitet, wird die Einlassung der Iren von der Basis als persönliche Vendetta gegen den Trainer interpretiert. Der Druck der schwerreichen Coolmore Mafia hat zwar nicht gereicht, um Sir Alex aus dem Amt zu jagen, doch der Schotte musste sich peinliche Fragen zu Transfer-Kommissionen gefallen lassen sowie eine Vertragsverlängerung zu deutlich schlechteren Konditionen akzeptieren. 7,5 Millionen Euro jährlich bis 2007 hätte das Salär betragen sollen, jetzt wurden es sechs Millionen. Magnier und McManus sind geldgierige Spekulanten, die kein Interesse an Manchester United haben, keine Fans sind, keine Spiele besuchen und sich nicht um die Interessen des Vereins sorgen, hieß es auf einem Imusa-Flugblatt. Der Unmut der Fans könnte die Falschen treffen, denn seit ein paar Tagen macht ein neuer Akteur den Iren die Rolle des Bösewichts streitig. Nachdem Malcolm Glazer seine United-Anteile auf 16,3 Prozent erhöht hat, rechnet man im Londoner Finanzbezirk mit einem Übernahmeangebot des reichen US-Amerikaners. Die Aufsichtsbehörde sah sich am Montag veranlasst, eine offer period für United vorzuschreiben: Bis Glazer, der die NFL-Mannschaft Tampa Bay Bucaneers besitzt, sich konkret für oder gegen eine Übernahme ausspricht, dürfen Vorstandsmitglieder nicht mit Aktien handeln, und der Club muss seine 37 000 Anteilseigner ständig über die Entwicklungen informieren.
Mutter aller Niederlagen
Was macht Bernd Hölzenbein in Holland? Christoph Biermann (SZ 19.2.) sagt es uns: „In der ersten Nacht schläft Bernd Hölzenbein schlecht. Sein Hotel liegt am Ende von Rotterdams Straßenbahnlinie Nummer 5. Die Eisenräder der Bahnen kreischen, weil die Schienen dort einen Bogen machen. Hölzenbein macht kein Auge zu. Am nächsten Morgen fährt er mit seiner Frau ans Meer, am Nachmittag interviewt ihn ein holländisches Fernsehteam. Die Frager sind gut vorbereitet; sie wissen sogar, was Hölzenbein am Morgen des 7. Juli 1974 zum Frühstück gegessen hatte. Später an jenem Tag vor fast drei Jahrzehnten hatte Hölzenbein Fußball gespielt. In der 26. Minute des Spiels war er von der linken Seite mit dem Ball am Fuß in den Strafraum gelaufen. Ein Gegenspieler hatte den Ball wegzuspitzeln versucht, Hölzenbein war gestürzt, der Schiedsrichter hatte Elfmeter gepfiffen. Paul Breitner verwandelte den Strafstoß zum 1:1 im Endspiel der Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Holland, das die Mannschaft von Helmut Schön schließlich mit 2:1 gewann. Holland ist besessen von diesem Spiel. Die Psychologin Anna Enquist nennt es die „Mutter aller Niederlagen“. Seit dem Finale von München ist die holländische Sprache um ein deutsches Wort bereichert: „Schwalbe“. Vielleicht hat Hölzenbein nicht allein wegen der quietschenden Straßenbahn kaum geschlafen. Abends sitzt er auf der kleinen Bühne des Goethe-Instituts in Rotterdam. Dort wird es über das ganze Jahr hinweg Veranstaltungen zum deutsch-holländischen Fußballverhältnis geben, das problematisch zu nennen eine freundliche Untertreibung wäre. Andererseits: Wie könnte man sich besser näher kommen, als im Gespräch über das, was so viele Menschen in beiden Ländern beschäftigt. Also, war es eine Schwalbe? „Wenn ein englischer Schiedsrichter einen Elfmeter für eine deutsche Mannschaft gibt, muss es einer gewesen sein“, sagt Hölzenbein. Das Publikum lacht. Er sei ein schneller Stürmer gewesen und die Verteidiger oft zu langsam. Überhaupt sei nach dem Spiel der Strafstoß kein Thema gewesen. Mit Wim Suurbier hätte er die Trikots getauscht, niemand hätte ihn der Schauspielerei bezichtigt. Später veröffentlichte Bild ein vermeintliches Geständnis von Hölzenbein, er erwirkte eine Gegendarstellung, aber die Legende war in der Welt. Aber, behauptet Hölzenbein, die Holländer hätten nicht wegen des Elfmeters verloren, sondern weil sie nach ihrer frühen Führung durch den Strafstoß von Neeskens, „versucht haben, uns zu verarschen“. Das Publikum lacht, und Johnny Rep nickt. Der holländische Linksaußen sieht seine Mannschaft nicht als Opfer von Schiedsrichterwillkür. „Wir wollten sie erniedrigen, das hat sie wütend gemacht“, sagt er.“