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| Donnerstag, 25. März 2004
Themen: 40 Jahre Bundesliga: die FAZ gratuliert – Gerd Müller, „der erstaunlichste, der unglaublichste, der einzigartigste Spieler, den die Liga in vierzig Jahren gesehen hat“ (FAZ) – 40 Jahre ZDF-Sportstudio: kein Ort des kritischen Journalismus – sehr lesenswertes SZ-Feature: Hamid Altintop, der türkische Jung-Held Schalkes -Rudi Assauer, der mächtige Manager Schalkes, hat in seinem Verein viel erlebt, erreicht und geschaffen -der HSV steckt in seiner Tradition und im Mittelmaß fest – in Frankfurt regiert ein Emporkömmling, berichtet die FR -Soziologie meets Fußball: eine Phänomenologie des Torjubels und wie dieser den Wandel der Gesellschaft ausdrückt (FR)u.v.m.
Ein einfaches, einfach wunderbares Spiel
Die Bundesliga, die morgen 40 Jahre alt wird, „bleibt für immer jung“. Roland Zorn (FAZ 23.8.) gratuliert. „Nirgendwo sonst ist der sportliche Alltag so aufregend verankert wie in dieser ersten Klasse für Millionen. Die Bundesliga-Ergebnisse noch in den fernsten Weltwinkeln pünktlich zu erfahren gehört zum Ritual. Und der deutsche Kanzler kickt mit: Kein Regierungschef kann es sich heute noch erlauben, ohne Affinität zum Fußball vor sein Wahlvolk zu treten. Dem einstigen Oggersheimer Mittelläufer Helmut Kohl folgte der frühere Mittelstürmer des TuS Talle, Gerhard Schröder, unter einheimischen Fußballern Acker genannt, ins wichtigste politische Amt des Landes. Fußball, das ist eine breite Basis deutschen Selbstverständnisses in einem Land, dessen beste Kicker schon dreimal Weltmeister wurden. Die Bundesliga lieferte über all die Jahre den Stoff und die Helden für den deutschen Stammtisch, während die Menschen im globalen Dorf über die zähen germanischen Kämpfer staunten, die sich bei großen Turnieren immer wieder gegen größere Talente und größte Weltstars behaupten und durchsetzen konnten. Inzwischen ist diese Bundesliga zur offenen Bühne für Spieler aus aller Herren Ländern geworden. Versuche, sie wieder deutscher zu machen, wirken angesichts des paneuropäischen Zusammenrückens in Wirtschaft und Politik anachronistisch. Bei allem Kommen und Gehen ist das Wichtigste an dieser Liga identisch geblieben: Es wird nach vertrauten Regeln über neunzig Minuten gekickt, und es gibt dabei in schöner Regelmäßigkeit jene Momente, in denen sich Fans und aktiv Beteiligte sagen: Das haben wir ja noch nie erlebt! Die Wiederkehr des Immergleichen, gemischt mit den exklusiven Augenblicken, in denen man dabeigewesen sein muß: auch das macht die Faszination Bundesliga aus und die unverbrüchliche Treue zu diesem einfachen, einfach wunderbaren Spiel.
Verlust der Urteilsfähigkeit
„40 Jahre alt wird das Sportstudio an diesem Wochenende, und wenn man Geburtstag hat, ist es das Schlimmste, dauernd zu hören: Früher war aber alles besser bei euch. Aber, so ist es nun mal.“ Holger Gertz (SZ 23.8.) vermisst kritischen Sportjournalismus im TV. „Der Sport ist mehr denn je ein schmutziges Geschäft, von IOC bis Fifa regieren oder regierten dubiose Gestalten, abgesehen von den gefeierten Helden in den Arenen, die irgendwann als dopende Betrüger auffliegen. Aber, das sind Randthemen im Sportstudio. Harry Valérien, der knorrige Sportstudio-Mann von damals, hat drei Sondersendungen zum Doping in den Plan genommen, gegen den Widerstand im Sender. Und er hätte aufgehört, wäre ihm die Aufklärung verboten worden. Bei Poschmann, dem glatten Chef von heute, war einmal die Weitspringerin Susen Tiedtke zu Gast, ihr rotes Kleid wurde belobigt, und insgesamt fand Poschmann sie so betörend, dass er vergaß, nach ihrer Doping-Sperre zu fragen. Das Sportstudio ist eine Unterhaltungsshow geworden, konsumierbar, schnell vergessen. Wenn ein brasilianischer Fußballer zu Gast ist, laden sie schon mal eine Rhythmusgruppe aus Rio dazu ein, damit der Fußballer ein bisschen Samba tanzen kann. Die Interviewer sind Conférenciers, Wolf-Dieter Poschmann filtert haspelnd jede Spitze aus seinen Fragen heraus, Michael Steinbrecher kommt samtener daher als früher der zarte Meister Dieter Kürten. Und der fast tägliche Quälgeist Johannes Baptist Kerner umkurvt mit seiner Kunst der sterilen Interviewführung bereits unter der Woche in seiner Talkshow jede Gelegenheit, Gästen Relevantes zu entlocken (…) Der Journalist Josef-Otto Freudenreich, studierter Soziologe, hat ein Buch geschrieben, in dem die Kräfte analysiert werden, die Sportsendungen zu dem werden lassen, was sie sind. Die Sportler müssen umschmeichelt werden, sonst kommen sie nicht mehr oder sagen nicht mehr „Poschi“ zu Poschmann. Die Zuschauer wollen sich ihr Bild vom Sport nicht durch den ewigen Dopingschmutz zerstören lassen, da schalten sie weg, heißt es. Jetzt, wo es so viele Konkurrenzkanäle gibt, ist das noch leichter. Aber früher war es auch nicht einfach für die Macher des Sportstudios. Der Moderator Bruno Moravetz, schreibt Freudenreich, „warf schon nach vier Sendungen das Handtuch, nachdem er gemerkt hatte, dass ihm das Talent zum seichtfröhlichen Entertainment fehlt“. Moravetz sprach zum Abschied einen großen Satz: „Ich bin zu ernst für diese Arbeit.“ Der ehemalige ZDF-Sportchef Alfons Spiegel sprach zum Amtsantritt 1981 einen noch größeren. „Das wesentliche Merkmal der Begeisterung ist der Verlust der Urteilsfähigkeit.“ Er wollte den Sport versachlichen, Helden wieder zu Menschen machen, Lichtgestalten wieder zu Beckenbauers. Gleich kriegte er Prügel von der Boulevardpresse, nicht nur die Hamburger Morgenpost mäkelte, dass seit Spiegels Amtsantritt dem Sportstudio „die Zuschauer entschlummern“, eingelullt von zu viel Kritisiererei. Inzwischen werden sie eingelullt von großer Beliebigkeit, aber, immerhin, das Sportstudio hat seinen Vierzigsten noch erlebt. Das ist schon eine Leistung. Die meisten anderen Sportmagazine im Fernsehen, etwa im ZDF der Sportspiegel, wurden für immer entsorgt: keine Quote – und so enthält jede Kritik am Sportstudio auch eine an den Zuschauern, die zugelassen haben, dass es so heruntergekommen ist. Poschmann und seine Mainzelmänner mit den orangenen Mikros wähnen sich schließlich im Auftrag des Publikums, wenn sie den Sport als Show verkaufen, und so gesehen kann ihm das Geschwätz der Puristen egal sein.“
Ein Machtwort von Beckenbauer beendete den letzten Versuch, das ZDF-Sportstudio zu einer Instanz des kritischen Journalismus werden zu lassen
„1963 startete das Aktuelle Sportstudio als affirmatives Gute-Laune-Fernsehen, hatte dank kompetenter Moderatoren aber auch immer wieder lichte Momente. Heute präsidieren schleimige Entertainer über seinem Niedergang.“ Matti Lieske (taz 23.8.) übt Fundamentalkritik am Sportstudio. “Natürlich war es der Kaiser höchstpersönlich, der die Dinge wieder zurechtrücken musste. Ein Machtwort von Franz Beckenbauer beendete in den späten 80er-Jahren den letzten Versuch, das ZDF-Sportstudio zu einer Instanz des kritischen Journalismus werden zu lassen. Einige jüngere Mitarbeiter um den aus der Politikredaktion herübergewechselten Marcel Reif hatten es gewagt, ketzerische Anmerkungen und unbotmäßige Untertöne in die Berichterstattung über das deutsche Kickerwesen einfließen zu lassen. Der Gegenschlag der Fußballbonzen und ihrer willfährigen Medien-Handlanger folgte auf dem Fuß. Reif, von der Springer-Postille Welt als Agitprop-Reporter tituliert und von Beckenbauer als Zauberer bespöttelt sowie als Nestbeschmutzer in Grund und Boden verdammt, wurde zurückgepfiffen, und das Sportstudio mutierte endgültig zum lupenreinen Schmuse-TV. Eine Tendenz, die von Anfang an so fest zu dem am 24. August 1963 erstmals auf Sendung gegangenen Format gehörte wie die Wetterkarte zur Tagesschau. Fernseh-Sportberichterstattung vor 40 Jahren war ohnehin streng affirmativ, beschränkte sich aber bis dahin fast ausschließlich auf die sachliche Darstellung des Geschehens. Im damals noch Aktuellen Sportstudio wollte man hingegen die sportelnden Menschen dem Zuschauer näher bringen – auf möglichst unterhaltsame Weise und in einem positiven Licht. Ein revolutionäres Konzept des Gute-Laune-Fernsehens, das kritisches Nachfragen zwar nicht ausschloss, aber kaum förderte. Kontroversen waren nicht erwünscht und entwickelten sich eher zufällig, wie zum Beispiel beim legendären Interview, das Rainer Günzler mit dem eisern schweigenden Boxer Norbert Grupe, Prinz von Homburg, führte. Ausnahmen bestätigen die Regel, zum Beispiel Harry Valériens knallharter Dialog mit Paul Breitner an einem spanischen Swimmingpool, nachdem sich die deutschen Fußballer bei der WM 1982 als charakterlich äußerst fragwürdig erwiesen hatten (Gijón!). Irgendwann musste man fürchten, der bärbeißige Fußballzyniker aus München würde den tapfer bohrenden Reporter jeden Augenblick im Pool ertränken.“
Wenn Sie je ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt
Christian Eichler (FAZ 23.8.) erinnert an Gerd Müller im Superlativ. „Ein Fußballspiel ist gar nicht leicht, weil es nur schwer zum Torschuß reicht – der Schlager, den Gerd Müller einst sang, scheint aktueller denn je. Das heißt: Zum Torschuß reicht es schon noch bei Müllers Erben in Bundesliga und Nationalelf. Doch immer seltener zu Müllers Refrain: Dann macht es bumm! Es machte nicht bumm gegen Italien am Mittwoch, auch nicht letzten Samstag bei Roy Makaay, den der FC Bayern kaufte, um einer Müller-Quote näher zu kommen. Deshalb und weil die Bundesliga dieses Wochenende runden Geburtstag begeht, ist es der Tag, Gerd Müller herauszuheben. Denn er war der erstaunlichste, der unglaublichste, der einzigartigste Spieler, den die Liga in vierzig Jahren gesehen hat. Im Nationalteam erzielten andere mehr Außenwirkung: Beckenbauer mit heroischer Eleganz, Netzer mit wehender Weiträumigkeit. Dabei war es Müller, ohne den die Erfolge unmöglich waren: EM 1972, WM 1974. Tore, die Gerd Müller schießt, sagte Kommentator Rudi Michel nach dem Siegtor gegen Holland: Tore, die eigentlich nur Gerd Müller schießt. Mit 68 Treffern in 62 Länderspielen kam er auf die Quote von 1,1 Toren pro Spiel. Seit dem Krieg hat kein anderer Deutscher auch nur die Hälfte geschafft. Die Zweitbesten, Walter, Rahn, Völler, Bierhoff und Streich (DDR-Auswahl), bewegen sich bei 0,5 bis 0,55 pro Länderspiel. Wer die verpaßten Gelegenheiten gegen Italien sah, mußte sich wehmütig erinnern, daß Müller es sogar schaffte, den Meistern des Zu-null-Fußballs ein Tor zu stehlen, ein Tor ohne Torchance – jenes Stochertor durch die Beine von Verteidiger und Torwart im Spiel des Jahrhunderts, dem 3:4 im WM-Halbfinale 1970. Wenn Sie je ein echtes Müller-Tor gesehen haben, sagte Reporter Huberty, dann jetzt. Doch Müllers wahre Bühne war die Bundesliga. Seit der knubblige Bursche, dem man die Schnelligkeit und Wachheit nicht ansah, aus Nördlingen zum aufstrebenden FC Bayern gekommen war, wo ihn Trainer Cajkovski kleines, dickes Müller taufte, war er ein Naturereignis in deutschen Strafräumen. Er schoß genug Tore für einen täglichen Abreißkalender: 365 in 427 Bundesligaspielen. Er machte sie mit allen Körperteilen, nicht nur mit seinen an der dicksten Stelle 48 Zentimeter Umfang messenden Beinen; nicht nur mit den Füßen, die er, obwohl sie nur Größe 38 maßen, in 41er-Schuhen unterbrachte, dick bandagiert, um die Knöchel zu schonen und sich noch schneller drehen zu können. Und es war so, daß er als wahrer Torjäger die Bälle gar nicht immer ins Tor jagte, sondern eher: schob, drückte, blockte, tropfte, köpfelte, spitzelte, stocherte. Oder einfach: müllerte. Daß er ein eigenes Verb prägte, das Müllern, zeigte, wie einzigartig seine Kunst war. Dabei waren Müller-Tore keine Traumtore. Nur eines wurde Tor des Jahres, 1976 gegen TB Berlin, als er einen Ball per Grätsche abfing und in 0,8 Sekunden per Drehschuß ins lange Eck setzte. Meist waren es Tore, die einfach aussahen und die doch kein anderer schoß. Doch auch der größte Torjäger brauchte fürs Toreschießen das Erfolgsgefühl des letzten Treffers. Lag der zu lange zurück, kam auch bei ihm die Unsicherheit. Trainer Dettmar Cramer schilderte, wie er Müller von dessen seltenen Ladehemmungen befreite: Er ließ ihn stundenlang von seinen schönsten Toren erzählen. Schon traf er wieder.“
Rudi Assauer hat bei Schalke auf allen Bühnen gestanden
Philipp Selldorf (SZ 23.8.) referiert Bedeutung und Macht Rudi Assauers. „Der FC Schalke 04 zählt mittlerweile zu den wichtigsten Steuerzahlern in Gelsenkirchen, seine Chefs behaupten sogar, nur der Industriekonzern Veba bezahle mehr. „Ja“, sagt Manager Rudi Assauer, „demnächst gehört uns hier die ganze Stadt. Dann bestimmen wir den Bürgermeister. Wir sagen, was gemacht wird. Und dann geht’s wieder bergauf mit dieser Stadt.“ Der Stadt Gelsenkirchen geht es nicht gut, sie leidet unter der seit Jahren höchsten Arbeitslosenrate in Westdeutschland, derzeit rund 17 Prozent. Zuletzt waren ihre Bürger so verzweifelt, dass sie bei der Kommunalwahl 1999 einen CDU-Mann zum Bürgermeister wählten, was eine Revolution im sozialdemokratischen Ruhrgebiet bedeutete. Besser ist die Lage dadurch nicht geworden. Rudi Assauer lacht und spricht: „Wir sagen einfach: Schalke 04 bewirbt sich als Partei für das Stadtparlament. Dann hauen wir sie alle weg, dann hat keiner mehr eine Chance, und dann haben wir alles in der Hand!“ Es ist ein Scherz, aber wahrscheinlich drückt er die Wahrheit aus. In den 40 Jahren Profifußball haben sich einige Vorzeichen verkehrt. „Vom Zyklus her ist das natürlich falsch: Die Stadt wird immer ärmer und ärmer, und der Verein wird wohlhabender und größer“, sagt Assauer. Aber was soll daran falsch sein? Es ist ein Prozess, der in der Logik der Beziehung von Staat und Großunternehmen liegt, und Schalke hat inzwischen mit all seinen Tochtergesellschaften die Struktur eines Konzerns. In den Sechzigern musste die Stadt dem Verein für 850000 Mark das Stadion abkaufen, die 1928 eingeweihte Glückaufkampfbahn, damit er seine Schulden zahlen und in der Liga bleiben konnte. „Und heute“, erklärt Assauer, „müssen wir alles machen, damit die Stadt überleben kann.“ Schalke ist der einzige Klub in der Bundesliga, der drei Stadien bespielt hat. Glückaufkampfbahn, Parkstadion, Arena – drei Häuser eines großen Volkstheaters. Drei ganz verschiedene Bühnen, die für die drei Zeitalter der Bundesliga Modell stehen können, denn der Werdegang dieser urdeutschen Gesellschaftsinstitution lässt sich gut an ihren Stadien ablesen. Die Glückaufkampfbahn, in der während der Dreißiger der Schalker Kreisel geboren wurde, symbolisiert die vormodernen, schwarz-weißen Gründerjahre der Liga und erlangte daher bald den Rang einer Antiquität, denn die Liga entwickelte zügig Geschäftstüchtigkeit. Die Menschen standen dort bis zum Spielfeldrand, Zäune gab’s nicht, aber auch keine Fan-Krawalle. Dann kam die WM 1974, die Ära des Buntfernsehens setzte ein, und die alten Spielplätze wurden ausradiert. Für die sperrigen Geschmack der Siebziger stehen beispielhaft Bauten wie das radikal offene und umso ungemütlichere Parkstadion; das Hamburger Volksparkstadion, als „Kühlschrank von Stellingen“ berüchtigt, das unüberschaubare Düsseldorfer Rheinstadion oder das Frankfurter Waldstadion, für das gedankenlos eine denkmalwürdige Haupttribüne geopfert wurde. Schon im nächsten Jahrzehnt betrachtete man die tristen Riesen als Relikt eines überholten Zeitgeists, und mit der Vergabe der WM 2006 eröffnete sich die Chance zur großen Vergangenheitsbewältigung. Der Fußball spielte seine ganze Macht aus, die größer ist als je zuvor. Hoch verschuldete Städte stürzten sich in aberwitzige Kosten, um irgendwie am großen Turnier teilzuhaben – und blieben, wie Düsseldorf, trotzdem auf der Strecke; in München führten die Löwen und die Bayern für den gewünschten Stadionneubau eine trickreiche Kampagne, die jede politische Partei neidisch machen müsste. Nur Dortmund und Schalke brauchten sich mit ihren Palästen keinem Wettbewerb mehr zu stellen. Die beiden Ruhrpottklubs, jahrzehntelang Schauplätze chaotischen Wirtschaftens, hatten den Fußball früher als alle anderen in die Zukunft geführt, und während in Dortmund der geschäftssinnige Notar Gerd Niebaum und der kluge Manager Michael Meier verantwortlich zeichneten, hatte in Schalke ein Mann den Aufbruch organisiert, der die Bundesliga durch ihre Babyjahre begleitet und sie nie verlassen hat. Rudi Assauer hat bei Schalke auf allen Bühnen gestanden, als Darsteller in allen denkbaren Rollen: Er gehörte zum Ensemble, als er mit Borussia Dortmund in der Glückaufkampfbahn und mit Werder Bremen im Parkstadion spielte. Und später wirkte er hier als führender Bösewicht, als Zampano, Schauspielleiter und Generalintendant, und schließlich als Bauherr des neuen Hauses, der 2001 eröffneten Arena, einem von der Technik geprägten, dem Kommerz geweihten Vergnügungstempel, wie sie nun reihum in den Bundesligastädten entstehen.“
Ein Fußballheld, der goldener Ball heißt: eine fast unglaubliche Geschichte
Sehr lesenswert! Holger Gertz (SZ 23.8.) schreibt ein Feature über Altintop, den Jung-Helden Schalkes. „Berühmt werden, das geht im Fußball manchmal ziemlich schnell, noch schneller als im Fernsehen. Hamit Altintop kannte vor vier Wochen praktisch keiner, aber dann fing die Bundesliga an und mit ihr sowas wie Hamits Reise, vielleicht kann man sich das wirklich als Reise vorstellen, als Alpentour. Was für Bergsteiger ein Berg ist, ist für Hamit Altintop ein großes Spiel, und wo Bergsteiger Fähnchen in den Gipfel rammen, hinterlässt Altintop: Tore. 40 Jahre alt wird die Bundesliga an diesem Wochenende, aber so einen Einstand hat noch selten jemand gehabt. Ohne Altintop, den Zugang aus Wattenscheid, hätte Schalke jetzt vielleicht vier Punkte weniger, ohne Altintop, bis zum Sommer noch in der dritten Liga, würden sie vielleicht noch immer ihren Anführern aus den letzten Jahren, Andreas Möller und Marc Wilmots, hinterher trauern. Aber jetzt, wo er da ist, suchen sie ihn richtig auf dem Feld, gegen Köln war das gut zu beobachten. Ein Schalker hat den Ball und schaut und schaut und findet endlich den dünnen Mitspieler mit der Nummer neun auf dem Hemd und dem Namen Altintop darüber. Altintop, auf deutsch „goldene Kugel“ oder „goldener Ball“. Ein Fußballheld, der goldener Ball heißt. Es ist schon eine fast unglaubliche Geschichte (…) Dann erzählt er davon, wie alles über ihn gekommen ist, und über seine Familie. Über Mutter Merydem und über die drei älteren Schwestern Güllü, Fatima und Gülnaz. Zwillingsbruder Halil, zehn Minuten jünger, hat in dieser Saison als Profi in Kaiserslautern angefangen, aber er, Hamit, lebt noch daheim bei Mama, auf 80 Quadratmetern im vierten Stock. Der Vater ist 1985 gestorben. Nach seinen Toren gegen Dortmund hat er den Reportern gesagt: „Ich geh jetzt nach Hause und erzähl meiner Mutter, wie der Tag so war“, aber als er zu Hause ankam, hatten sich schon Reporter bei der Mutter erkundigt, wie der Tag so war. Ihre Nummer steht im Telefonbuch (…) Vor ein paar Tagen sagt dann seine Mutter zu ihm: Junge, was hast du da eigentlich angestellt. Auf türkisch, sie sprechen türkisch zu Hause, weil die Mutter deutsch nicht so gut kann. Hamit Altintop spricht sehr viel über seine Mutter. Er ist ja erst zwanzig, man vergisst dass manchmal, wenn man auf der Tribüne eines Stadions sitzt und „Scheiß-Millionäre“ brüllt: dass da zum Teil noch halbe Kinder spielen, viel jünger als man selbst. Früher, sagt er, hat sich die Mutter nichts aus Fußball gemacht, er und sein Bruder spielten vor der Grundschule auf einem umzäunten Tartanplatz, den er Affenkäfig nennt, und das Spiel wäre wohl jeden Tag erst mit dem Untergehen der Sonne zu Ende gewesen. Aber bevor die Sonne unterging, kam die Mutter. „Aufhören jetzt, Abendbrot!“ Seine Väter hat er sich später gesucht, in seinen Mannschaften, das waren seine Trainer. Frank Kontny, der Jugendtrainer, hat selbst mal gespielt, zweite Liga, er war keiner, an den man sich erinnert hätte wegen seiner Spielkunst, aber er hat den Laden zusammengehalten und den jungen Spielern gesagt, wo es langgeht. Deswegen ist er später Trainer in Wattenscheid geworden, in der Jugend, wo noch alles ungeschliffen aufeinander prallt: Talent, Schlampigkeit bei den einen, nicht ganz so viel Talent, aber brennender Eifer bei den anderen. Ein Jugendtrainer muss diejenigen trösten, denen der Ball nicht gehorcht, und er muss den Schnelleren, Besseren, Begabteren die Versuchung abgewöhnen, auf die anderen hinabzuschaun. Am Ende muss das eine Mannschaft sein, gebaut aus Arbeitern und Zauberern, Tormaschinen und Abwehrwänden, Vollstreckern und Vorbereitern; der Trainer muss ein unsichtbares Band knüpfen, das elf Jungs zu einem Ganzen schnürt. Frank Kontny sagt: „Manchmal hast du welche in der Mannschaft, die können alles – und sind sich trotzdem für nichts zu schade. Die schleppen die Kisten mit Klamotten, alles. Wenn du solche hast, bist du als Trainer ein glücklicher Mann.“ So gesehen war er vom Glück geküsst, in Wattenscheid, mit seinen Altintops, Hamit und Halil (…) Hamit Altintop könnte sein, in den Medien und Bewusstsein des Publikums: der arme Junge aus Gelsenkirchen, ein bisschen stotternd, aufgewachsen ohne Vater, einer, der sich mit dem Ball aus dem Nichts dribbelt, aber das stimmt schon deshalb nicht, weil er auch ohne Ball etwas gehabt hätte, als Abiturient mit den Leistungskursen Mathe und Bio und der Durchschnittsnote 3,1, immerhin. Altintop könnte sein: perfekte Mischung aus deutschem Ehrgeiz und südländischem Temperament, so ein Zauberer aus 1001Nacht, aber in Schalke achten sie darauf, dass keine Klischeebilder gemalt werden. Altintop könnte schließlich sein: Symbol für die Integration der Türken in Deutschland, besonders dann, wenn er in der deutschen Nationalmannschaft spielte. Allerdings: Würde ein deutscher Nationalspieler Altintop etwas daran ändern, dass auch im Arbeitsamt Gelsenkirchen täglich Dutzende Türken auflaufen, die ihren Job verloren haben und nicht wissen, was mit ihnen werden soll? Könnte ein deutscher Nationalspieler namens Altintop einen deutschen Glatzkopf davon abhalten, einem Türken in der U-Bahn „Kanake“ entgegenzubrüllen? Das kann er nicht (…) Bei der Mutter ist alles wie immer, wie vor vier Wochen, als ihn noch keiner kannte. Fast alles. Jetzt, wo er dauernd im Fernsehen ist, hat sich ihr Verhältnis zum Ball gewandelt, radikal. „Neulich komm’ ich nach Hause, und da erzählt sie mir, wer in der türkischen Liga da und da in der Tabelle steht, wer ausgewechselt worden ist, und von ein paar Torschützen kannte sie sogar die Namen. Meine Mutter!“ Und wie er das erzählt, klingt es, als wäre das von allen Veränderungen in den letzten Wochen die wichtigste.“
Die Vergangenheit ist allgegenwärtig beim HSV
„Beim Hamburger SV ist nur die Selbstzufriedenheit konstant“, schreibt Frank Heike (FAZ 23.8.). „Im Fanshop des Hamburger SV liegt ein Stapel des neuen Jahrbuchs. Gebunden, Hochglanzpapier, ganz auf edel gemacht und doch schlicht: Auf dem Titelbild sind die vier wichtigsten Trophäen des deutschen und europäischen Fußballs abgebildet – die Meisterschale, der Pokal des Deutschen Fußball-Bundes, der Landesmeister-Pokal und der Pokalsieger-Cup. Seht her, signalisiert das Cover, alle diese Titel hat der Hamburger SV schon gewonnen! Im Buchinneren sind dann die Klassiker der HSV-Moderne zu sehen: Das erste Tor in der Bundesliga durch Gert Dörfel, Felix Magath mit der Landesmeister-Trophäe 1983, Horst Hrubesch und die Torjägerkanone 1982. Und natürlich Uwe Seeler, waagrecht in der Luft liegend, gleich mehrfach. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig beim HSV. Leider ist die Tradition des Vereins auch fast das einzige, worauf er stolz sein kann. Denn die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart dokumentieren den Abstieg eines großen Klubs von der Spitze der Bundesliga zum heutigen Mittelmaß – seit dem DFB-Pokalsieg 1987 hat der HSV keinen wirklich wichtigen Titel mehr geholt. Das innewohnende System, die Beständigkeit in der Unbeständigkeit, hat auch Kurt Jara längst erkannt, seit zwei Jahren Trainer der Hamburger: Beim HSV geht es ständig bergauf und bergab. Wir stehen jetzt wieder da, wo wir vor zwölf Monaten auch standen. Da bleiben dem Verein und seinen Fans nur der Stolz, als einziger deutscher Klub der Bundesliga seit ihrer Gründung vor vierzig Jahren anzugehören (…) Zwischen 1979 und 1987 war der HSV viermal deutscher Meister, viermal Zweiter. Der HSV, Meister und Europapokalsieger 1983, sollte der norddeutsche Gegenentwurf zu den auch wirtschaftlich so erfolgreichen Münchnern werden. Doch aus verschiedenen Gründen, vor allem dem steten Wechsel auf verantwortlichen Positionen, fiel der HSV nach großen Zeiten ins Mittelmaß. Dort sitzt der Klub mit Ausreißern nach unten und oben bis heute fest.“
Jörg Marwedel (SZ 23.8.) hat gehört. „dass etliche HSV-Profis die in der vergangenen Saison als Tabellenvierter erworbene Popularität allzu gründlich auskosteten. Nachts sollen sie vermehrt in die In-Lokale der Stadt ausgeschwärmt sein, was die Lokalpresse zu der These anregte, „nur auf der Piste“ seien sie „so gut wie die Bayern“. Trainer Jara will zwar nun „nicht rumfahren und um drei Uhr die Diskotheken kontrollieren“, doch sollten neue Fälle bekannt werden, will der Verein, so Sportchef Dietmar Beiersdorfer, „Konsequenzen ziehen“. Schon länger offenbar ist auch die Spannung im Verhältnis zwischen Klubführung und Profis. Seit zu Saisonbeginn die Siegprämien gestrichen wurden, um einen Teil des Vorjahrsdefizits von 14,5 Millionen Euro aufzufangen, reagieren die Spieler sensibel auf die Vereinspolitik. Als Hoffmann und Beiersdorfer kürzlich in London ausloteten, ob der HSV namhafte Bankdrücker der Spitzenklubs Chelsea und Arsenal wie Zenden, Groenkjaer oder Forssell günstig ausleihen könnte, formierte sich gleich die interne Opposition, der sich sogar Trainer Jara anschloss – aus Furcht vor atmosphärischen Störungen im bis dato harmonischen Team. Die Bosse verzichteten auf Verstärkungen, doch die geschlossene Gesellschaft dankte nicht mit Leistung. Kapitän Nico Hoogma mag die Beziehungen zu den Oberen derzeit lieber „nicht kommentieren“. Auch innerhalb der Mannschaft, die Jara zuletzt als „nur noch lieb, nett, brav“ erlebt hatte, gab es nun den von ihm gewünschten „Zoff“. Torwart Martin Pieckenhagen machte dort „Feiglinge“ aus – Spieler, die „vor den Kameras stehen, wenn es gut läuft“, nach Niederlagen aber „nicht zu sehen“ seien. Unschwer zu erraten, dass Pieckenhagen damit auch Sergej Barbarez meinte.“
Oliver Trust (Tsp 23.8.) berichtet die Prämiendiskussion beim VfB Stuttgart. “In der Tat können nur wenige verstehen, dass der Vizemeister seine sportlichen Erfolge nicht auch auf den Marketingbereich übertragen kann und höhere Einnahmen erzielt. Präsident Erwin Staudt, erst seit kurzem im Amt, sagt: „Ich kann nur das Geld ausgeben, das ich in der Kasse habe. Wenn ich jetzt eine Regelung für die ganze Saison treffe, habe ich ein negatives Betriebsergebnis und verstoße gegen die Lizenzauflagen.“ Rund 15 Millionen Euro Schulden drücken den VfB. Magath aber fühlt sich allein gelassen und sieht den sportlichen Erfolg gefährdet. Die beiden Jungnationalspieler Kevin Kuranyi und Andreas Hinkel wollen längerfristige Verträge mit höheren Bezügen, doch der Verein zögert auch damit. Kuranyi und Hinkel haben mehrfach betont, sie hätten bald die Nase voll. Aber auch diese Botschaft ist beim Stuttgarter Präsidium, das nur aus Wirtschaftsfachleuten besteht, noch nicht angekommen.“
Erbärmlich kleines Karo
Bei Eintracht Frankfurt dirigiert offenbar ein Gernegroß das Geschehen, wenn wir den Worten von Ingo Durstewitz (FR 23.8.) glauben dürfen. “Peter Schuster spricht von Meilenstein-Monitoring. Yeah! Hört sich verdammt gut an. Genauso wie Balanced Scorecard, Due Diligence, Benchmarking oder – schon leicht abgegriffen – Shareholder Value. Noch ein Yeah! Mit Begriffen dieser Art, Marke Erstsemester BWL, kann man Eindruck schinden, zumindest bei jenen, die von den globalen Netzwerken der Wirtschaft keinen Schimmer haben. Andere lassen sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen und attestieren hohles Management-Chinesisch mit nervenden Anglizismen. Wenn Peter Schuster, Vorstandschef der Eintracht Frankfurt Fußball AG, also von Meilenstein-Monitoring spricht, meint er: Er studiert die Tabelle (vermutlich im verhassten Sportteil der Tageszeitung) und liest ab, wie viele Zähler die Eintracht aufs Punktekonto geschaufelt hat. Sind es zu wenige, werden gegebenenfalls Ziele revidiert. Chapeau! Mit solch tiefen Einsichten und herrischem Gehabe hat der 60-Jährige, ein promovierter Jurist, nun auch Bernd Hölzenbein brüskiert. Schuster, der den Weltmann mimt, indes mehr als 20 Jahre bei der Hoechst AG als Syndikusanwalt die Ärmelschoner abwetzte, bot Hölzenbein – über dessen Verpflichtung sehr wohl zu streiten ist – einen Vertrag bis 31. Januar an. 2004, wohlgemerkt. Fünf Monate! Im schnelllebigen Geschäft rund um die Balltreterei, da Schuster selbst Kontinuität das Wort redet, zeugt das von unglaublicher Weitsicht. Schlimmer noch: Schuster hat den Weltmeister von 1974, ein bodenständiger Mann aus Diez, vorgeführt, hat ihn im Gespräch mit englischen Einträgen aus dem Wirtschafts-Lexikon bombardiert, um dann abzuwinken, frei nach dem Motto: So einen Provinz-Heini kann ein expandierendes mittelständisches Unternehmen wie die Eintracht nicht brauchen. Nicht nur Hölzenbein vermutet, dass Schuster ihn in vollem Bewusstsein der Lächerlichkeit preisgegeben hat. In jedem Fall ist Schusters Vorgehen nicht nur provinziell, der Neue aus Kelkheim trägt auch noch erbärmlich kleines Karo. In weiten Teilen des Vereins löst der Name des blasierten Hobby-Kickers Schuster, der mit seinem Fachwissen hausieren geht wie Zeugen Jehovas mit dem Wachtturm, inzwischen ohnehin blankes Entsetzen aus.“
Hintergrund FR
Aus der Rubrik Sport und Ökonomie: Hermanus Pfeiffer (FR 23.8.). „Seit Juli leben Branchenprimus FC Bayern und die Hypo-Vereinsbank (HVB) in einer strategischen Finanz-Partnerschaft. Mit den rund zehn Millionen Bayern-Fans erschließen wir uns ein enormes Kundenpotenzial, freut sich HVB-Boss Dieter Rampl, dessen Fan-Herz dem Vernehmen nach freilich für den Ligakonkurrenten 1860 schlägt. Einzigartig sei diese Liebesheirat. So will die bodenständige Hypo-Vereinsbank, die in diesem Jahr weitere 1000 Stellen streicht, exklusive Finanzprodukte für die Bayern-Anhänger entwickeln und träumt von FCB-Anleihen, deren Kurs an den sportlichen Erfolg gekoppelt ist. Im Gegenzug ist der so genannte Fußballclub sogar bereit, einen ausführlichen Finanz-Bereich auf seiner Internetseite aufzubauen, erklärte der frühere Auswahlstürmer und heutige Vorstandsvorsitzende der Bayern AG, Karl-Heinz Rummenigge. Der Fußballfirma geht es nach Meinung von Beobachtern auch darum, sich im Business-Feld zu etablieren, schließlich ist der frühere Verein selbst dem normalen Fußballgeschäft inzwischen entwachsen. Bislang sind solche Finanzangebote nur bei den internationalen Marktführern Manchester United und Real Madrid üblich. In Deutschland ging dagegen die expansive Koppelung von Fußball und Finanzen zunächst einmal ziemlich schief. Ein FC-Bayern-Fonds der Allianz lief lustlos, Mathematiklehrer Ottmar Hitzfeld hatte sich vor Jahresfrist bei seinem lukrativen Werbevertrag mit der Hypo-Vereinsbank verrechnet, weil er (noch) mit anderen Werbeaktivitäten des FCB konkurrierte, und der FC Schalke 04 wurde vom Oberlandesgericht Hamm kürzlich gerüffelt, weil die Werbung für eine Rentenpolice der Victoria-Versicherung irreführend sei.“
Verborgene Wirken Gottes
Eine Phänomenologie des Torjubels von Martin Hecht (FR 23.8.). „Nicht viele werden sich noch daran erinnern, wie der Dortmunder Timo Konietzka nach seinem ersten Treffer in der Bundesliga im Spiel gegen Werder Bremen am 24. August 1963 in der ersten Minute gejubelt hat. Wie er jubelte, wissen nur die, die dabei waren. Es gibt keine Bilder davon. Aber man darf vermuten, dass er nicht die Eckfahne herausgerissen hat, sich auf den Rücken gelegt und Waaaaahnsinn gebrüllt hat. So etwas tat man damals nicht. Früher wurde nicht nur anders Fußball gespielt, es wurde auch anders gejubelt. Die Art zu jubeln ist keine sich kulturhistorisch konstant abspielende Gebärdenfolge, die bei tausend Kickern aufgrund des gleichen Glücksgefühls im Torerfolg in etwa gleich abgelaufen wäre, als solche sich durch die Zeiten hindurch sozusagen statisch unverändert gezeigt hätte, sondern selbst schwer wiegenden Veränderungen unterworfen. Der Wandel des Torjubels entpuppt sich als Wandel seiner gesellschaftlichen Vorbilder. Der Torjubel ist kein Affekt, sondern gestalteter Auftritt. Der Trend in 40 Jahren Bundesliga ist eindeutig: der Anteil des Affekts geht in dem Maß zurück, in dem der Torjubel inszeniert wird. Von diesem gestalteten Auftritt scheint in der Frühzeit der Bundesliga – und auch noch 1969 – noch nicht viel zu sehen gewesen zu sein, denn noch impfte der Zeitgeist den Menschen ein, Verzicht zu üben – wie im Leben der Knappheitsgesellschaft so im öffentlichen Feiern. 1969 wird Bayern München erstmals Deutscher Meister: Die streng gezogenen Seitenscheitel auf den Häuptern nahezu aller Spieler auf dem Meisterschaftsfoto zeugen trotz der sozialen Unruhen des Jahres von einem Überhang von Werten wie soziale Konformität und Unterordnung, ja Kadavergehorsam, der als unumstrittenes Erfolgsrezept im Fußball gilt. Die Art zu jubeln, die dem Zeitgeist entsprach, vollführte idealtypisch Gerd Müller nach seinem legendären 2:1 im Endspiel der Weltmeisterschaft 1974 in München. Der Luftsprünge machende, sich im Kreise drehende und die Arme in die Luft werfende Müller markiert gleichsam Höhepunkt und Ende dieser frühen traditionellen Epoche. Man konnte in seinem Freudentanz tatsächlich, wie Thomas Hobbes sagt, noch jenes alte verborgene Wirken Gottes erkennen, das man gewöhnlich Glück nennt. Die Geste zeigte eine Freude über ein Gelingen, die zwar dem Stolz über die eigene Leistung entsprang, aber mindestens genauso sehr Dankbarkeit den Göttern des Himmels gegenüber ausdrückte, die so günstig gestimmt waren, dass sie dem Helden diesen Erfolg schenkten. Es steckte darin Enthusiasmus und Naivität. Die Freude war so übermächtig, dass sie jegliche Art einer kontrollierten Choreographie verhinderte. Der Jubel drang unwillkürlich von innen nach außen, und er kannte noch etwas, das sich bald mehr und mehr zurückziehen sollte: das Lachen als Ausdruck der Freude. Das Beispiel Gerd Müllers zeigt einen zweiten Wandel. Das Fehlen einer eigenen Inszenierung im Jubel zeugte noch vom Überhang einer gefühlten Mannschaftsidentität. Anfangs drückte der Torjubel vorwiegend eine Kollektiv- beziehungsweise Mannschaftsidentität aus. Heute bejubelt der Torschütze nicht nur sein Tor, sondern viel mehr als früher sich selbst dafür, dass er es geschossen hat. Ein Gerd Müller, der nach dem Torerfolg in die Fankurve gerannt wäre und in Effenberg-Manier auf seinen Nachnamen auf dem Trikot gedeutet hätte, war damals schlicht undenkbar gewesen.“
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