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| Donnerstag, 25. März 2004
Themen: Gladbach setzt auf Tradition – was kann Möller ? – Mittelmaß in Wolfsburg – Völlers Wutrede und die Bundesliga – sehr lesenswert! Hitzfeld-Anhänger und Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann deutet das Wesen des Fußballs u.a.
Mythos Borussia
Daniel Theweleit (FR 13.9.) erklärt die Kraft der Gladbacher Tradition. „Zur kommenden Saison wird der Club in ein neues Stadion umziehen, und die Verantwortlichen begreifen die mehr oder weniger schlummernde Zuneigung der vielen Romantiker, die wie Reitmaier in den 70ern begeistert waren von dem bezaubernden Offensivfußball der Mannschaft, als großes Potenzial für die Zukunft. Schon jetzt wird kräftig erinnert an den Mythos Borussia. Die Titelseiten der Stadionzeitung widmen sich in dieser Saison allesamt großen Spielen aus großen Zeiten, und Heimspiel für Heimspiel wird an den nahenden Abschied vom Bökelberg erinnert, der für die jeweilige Gastmannschaft ein endgültiger ist. Ein Abschied von der wohl letzten Bundesliga-Arena, in der sich das Flair der 70er und 80er Jahre mit der Erinnerung an magische Momente mischt. Hier gab es den legendären Büchsenwurf gegen Roberto Boninsegna beim unglaublichen, aber anullierten 7:1 gegen Inter Mailand 1971, hier ereignete sich der unvergessene Pfostenbruch, und hier wurde die vielleicht am leidenschaftlichsten geliebte Mannschaft des deutschen Clubfußballs mit Günther Netzer, Jupp Heynckes, Berti Vogts, Rainer Bonhof und all den anderen geboren. Sie prägten das erfolgreichste Jahrzehnt des deutschen Fußballs und machten den Hügel mitten in einer Mönchengladbacher Wohngegend zu einem der bekanntesten Berge Deutschlands. Nun ist die Erinnerung an diese Zeit eine wichtige Ressource, die auch bei der Vermarktung der neuen Arena am Nordpark ausgeschöpft werden soll. Das neue Stadion wird 53 000 Zuschauer fassen, es wird dort 42 Logen geben und einige hundert Business-Seats. Die Borussia baut das Stadion selbst, will es aus dem Fußballbetrieb refinanzieren und muss die Einnahmen mit niemandem teilen. Möglich ist das, weil die Baukosten statt 120 bis 180 Millionen wie bei den Arenen in Köln, Gelsenkirchen, Düsseldorf oder Frankfurt insgesamt nur 85 Millionen Euro betragen. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche, erklärt Sportdirektor Christian Hochstätter die erstaunliche Diskrepanz und meint vor allem, dass weite Bereiche unter den Tribünen nicht mit Büros, Hotels, Sitzungsräumen und Ähnlichem zugebaut werden. Der Atmosphäre im Innern wird das keinen Abbruch tun, und die Anhänger scheinen an die Vision von der goldenen Zukunft zu glauben. Trotz mäßigen sportlichen Erfolges meldet der Club ständig neue Rekorde: Nie wurden so viele Dauerkarten verkauft, nie hatte man so viele Sponsoren, nie so viele Mitglieder.“
Möller-Mania
„In Frankfurt wissen sie alles über Andreas Möller – nur nicht, ob er der Eintracht noch einmal helfen kann“, schreibt Ingo Durstewitz (SZ 13.9.). „Seit Möller vor zwei Wochen zur Eintracht zurückgekehrt ist, um seiner alten Liebe zu helfen, den nach vier Spieltagen unvermeidlich erscheinenden Wieder-Abstieg aus der Beletage zu vermeiden, ist in Frankfurt der Ausnahmezustand ausgebrochen. Möller, 36, kann keinen Schritt machen, ohne mit Argusaugen verfolgt zu werden. Die Zeitungen sind voll, berichten von dem ersten Möller-Opfer (Markus Kreuz), decken auf, ob der Heilsbringer ein Schnellduscher ist (absolut, ja), Marke und Farbe seines Autos (BMW, schwarz), wie breit die Reifen sind (sehr breit), Marke und Farbe seines Handys (Nokia, schwarz), undsoweiterundsofort. Auf dem Boulevard ist eine wahre Möller-Mania ausgebrochen, eine Titelgeschichte jagt die andere; Fernsehteams tauchen beim Training auf und bestechen durch präzise Fragen: „Herr Möller, wie viele Tore schießen Sie in Gladbach?“ Möller lacht sich kaputt, die Mitspieler auch. Andreas Möller, der als Fußballer alles gewonnen hat, was man gewinnen kann, ist den Hype gewohnt, er kennt es nicht anders. Wo er war (Eintracht Frankfurt, Juventus Turin, Borussia Dortmund, Schalke 04, Frankfurt), da haben sich alle um ihn gerissen; Möller ist nicht der Typ, der polarisiert, unfreiwillig tut er es trotzdem. „In den ersten zwei Wochen ist das mit dem Trubel halt so“, sagt er im Stile eines Hollywood-Beaus (…) Der Hoffnungsträger sieht sich nicht unter Druck, will versuchen, der Mannschaft durch seine bloße Präsenz beizustehen. Auf dem Spielfeld sieht er sich eher wie ein Großmeister im Schach, der das Spiel mit Köpfchen in seine Bahnen lenkt, sozusagen als Quarterback auf dem Fußballfeld. „So habe ich in Schalke in den letzten drei Jahren gespielt.“ So will er in Frankfurt die letzte Saison seiner Karriere spielen. Auch aus eigenem Interesse, denn der Anschlussvertrag bei der Eintracht als Assistent des Vorstandes (vor allem als Repräsentant) gilt nur für die erste Liga. „Sollten wir in die zweite Klasse gehen, müssen wir neu verhandeln“, sagt Möller. Andi Möller als Absteiger – irgendwie schwer vorstellbar.“
FR-Interview mit Möller
In Bremen geht es nach wie vor weniger aufgeregt zu
Frank Heike (FAZ 13.9.) lobt Bremens Sportdirektor. „Natürlich ist Klaus Allofs auch ein bißchen stolz auf seine kluge Einkaufspolitik – oder genauer: Ausleihpolitik. Nur würde der 46 Jahre alte Sportdirektor des SV Werder Bremen das nie zugeben. Das Wort zufrieden ist aus seinem Munde schon ein Superlativ. Dabei darf der SV Werder doch mehr als zufrieden mit den drei Spielern sein, die Allofs in den Sommermonaten verpflichtete: den Torwart Andreas Reinke und die Verteidiger Valérien Ismael und Ümit Davala. Alle drei gehören schon zu den Stützen der grün-weißen Gesellschaft; sie haben mitgeholfen, den Bremern den besten Saisonstart seit vielen Jahren zu ermöglichen. Doch wenn Allofs vom täglichen Geschäft erzählt, klingt es so, als sei es am allerwenigsten sein Verdienst, daß sie nach Bremen gekommen sind. Reinke habe ohnehin zurück in die Heimat gewollt, Davala sei eben gerade auf dem Markt gewesen, nun gut, bei Ismael hätten wohl seine guten Beziehungen nach Frankreich geholfen, wo Allofs einst die Karriere beendete. Dann schaut der Sportdirektor, dieser höfliche, distinguierte Mann, dem man kein lautes Wort zutraut, als wolle er fragen: Und was ist das Besondere daran? In Bremen geht es eben nach wie vor etwas weniger aufgeregt, etwas weniger marktschreierisch zu als an anderen Standorten des Unterhaltungsbetriebs Bundesliga.“
Wieder nur Mittelmaß in Wolfsburg?, fragt Thorsten Stegemann (SpOn). „Zwischen Anspruch und Wirklichkeit können manchmal Welten liegen. Diese leidvolle Erfahrung machen derzeit renommierte Bundesliga-Größen wie Borussia Dortmund oder der Hamburger SV. Doch die wirklichen Dramen spielen sich in der niedersächsischen Provinz ab. Beim VfL Wolfsburg gehört die Enttäuschung über verfehlte Zielvorgaben mittlerweile zum Vereinsalltag. Trotz nagelneuer Arena, des potenten Hauptsponsors VW und spektakulärer Spielertransfers ist es den Niedersachsen auch in dieser Saison bisher nicht gelungen, in die Spitzengruppe der Bundesliga vorzudringen. Die Chance, in Europa Aufmerksamkeit zu erregen, hat sich nach dem verlorenen UI-Cup-Finale gegen Perugia erledigt. Trotzdem macht man in Wolfsburg keinerlei Anstalten, die Ansprüche zu mindern. Trainer Jürgen Röber, der schon Hertha BSC ins internationale Geschäft führte, hat in dieser Spielzeit die Uefa-Cup-Ränge fest im Visier. Manager Peter Pander glaubt selbstbewusst an die Erfüllung eines Fünfjahresplans: In der Saison 2007/08 soll der VfL Wolfsburg die Teilnahme an der Champions League anpeilen. Das klingt verrückt, und vielleicht ist es das sogar. Andererseits wäre vermutlich auch derjenige als Traumtänzer belächelt worden, der vor zwölf Jahren behauptet hätte, der VfL würde einmal in der Bundesliga spielen. Damals kickten die Grün-Weißen vor 1000 Zuschauern in der Oberliga. Mitte der siebziger Jahre hatten sie zwei Spielzeiten in der Zweiten Liga verbracht und verschwanden dann auf vermutliches Nimmerwiedersehen in den Untiefen des Amateurlagers. Doch Manager Peter Pander, der seinen Job im März 1991 auf der alten Geschäftsstelle am Elsterweg antrat, wollte sich mit dieser Situation nicht abfinden. Er hatte große Pläne, als VW-Mitarbeiter einen starken Partner an der Hand – und das nötige Quäntchen Glück. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt stieg der VfL in der Zweite Liga auf. Dort verbesserten sich die Wolfsburger mit Ausnahme der verunglückten Saison 1995/96 (Rang 12) von Spielzeit zu Spielzeit. 1995 erhöhten die Provinzkicker ihren Bekanntheitsgrad, als sie das Finale im DFB-Pokal erreichten. Zwei Jahre später gelang nach einem dramatischen 5:4-Sieg gegen Mainz 05 am letzten Spieltag der Aufstieg in die Bundesliga. Sogar in der höchsten deutschen Spielklasse ging es weiter aufwärts. 1999 führte Trainer Wolfgang Wolf die Mannschaft in den Uefa-Cup, wo sie erst in der dritten Runde an Atletico Madrid scheiterte. Seitdem allerdings ist der Erfolgsbilanz nichts mehr hinzugefügt worden. So als hätte der Verein die Vorliebe seines Hauptsponsors für die Mittelklasse übernommen: Zu mehr als gelegentlichen Teilnahmen am UI-Wettbewerb, dem Cup der guten Hoffnung, reichte es nicht. Auf dem Weg nach ganz oben ist der VfL Wolfsburg im Stau stecken geblieben. Damit sich der 53 Millionen Euro teure Stadionbau (Volkswagen-Arena) rechnet, muss der VfL Wolfsburg seinen hohen sportlichen Ansprüchen aber so schnell wie möglich gerecht werden.“
Der öffentlichen Meinung gerecht werden
Sprach Völler im Sinne der Bundesliga-Trainer? Richard Leipold (FAZ 13.9.) antwortet. „Rudi Völlers verbaler Feldzug gegen die angeblichen Fußballgurus und deren publizistische Plattformen hat sich fürs erste in Wohlgefallen aufgelöst: Der Teamchef schützt die Nationalelf, und die Auserwählten danken ihrem Patron mit einem Sieg über Schottland. So einfach ist das. Die kickende Gesellschaft könnte also einigermaßen beruhigt wieder in den Bundesligabetrieb eintauchen und sich lustvoll ihren Alltagssorgen hingeben. Aber ist es wirklich so einfach? Nicht, wenn Völler in allen Punkten recht hat. Seine sogenannte Brandrede in Reykjavík enthält auch eine Bemerkung zur Lage der Liga; diese Passage war vom lauten Getöse vor dem Schottlandspiel zunächst übertönt worden. Die Meinungsmacher setzten auch die Vereinstrainer unter Druck, fürchtet Völler. Mancher Klub lasse sich sogar zu Alibi-Aktionen hinreißen, um den Medien zu gefallen und sich auf diese Art Ruhe zu verschaffen oder wenigstens eine kleine Verschnaufpause. Geldstrafen oder personelle Bauernopfer dienen nach dieser Theorie hauptsächlich dazu, der öffentlichen Meinung gerecht zu werden. Die Stimmen der Gurus wachsen sich zu Stimmungen aus, denen die Trainer oft hilflos ausgesetzt sind: Wenn der Teamchef Völler in seine These von der öffentlichen Miesmacherei die Bundesliga einbezieht, läßt er auch seinen Trainerkollegen in den Vereinen ein wenig Schutz angedeihen. So kommen die Institutionen Bundesliga und Nationalmannschaft in diesen Tagen als eine Solidargemeinschaft daher, die nicht zuletzt von den Medien oft vergeblich angemahnt worden ist (…) Der Stuttgarter Trainer Felix Magath hält die Wechselwirkung zwischen den Meinungen sogenannter Experten und dem Geschehen rund um die Mannschaft für ein mittlerweile selbstverständliches Phänomen der Mediengesellschaft. Die Bundesligatrainer werden ohne Ende unter Druck gesetzt, aber ich habe mich damit arrangiert. Die Medienwelt wird sich nicht ändern, sagt er. Die Aufstellung lasse ich mir nicht vorschreiben, doch wenn massiv eine Meinung gebildet wird, kommt man nicht daran vorbei, dann muß man sie in seine Überlegungen einarbeiten. Das Einarbeiten könne aber auch darin bestehen, daß er genau das Gegenteil dessen mache, was die Gurus forderten, sagt Magath. Das Ballyhoo um Völlers Brandrede hält er für eine flüchtige Erscheinung, ohne große Auswirkung auf den Bundesliga-Alltag.“
Evi Simeoni (FAZ 13.9.) klagt. “Start in den Tag. Der Motor springt sofort an. Das Losfahren gelingt reibungslos im schumacherschen Sinne. Volle Traktion, kaum Schlupf der Reifen. Sattes Geräusch. Die Katze hat sich schon vorher im Gebüsch versteckt. An der nächsten Kreuzung Bremsen, Quietschen, der Gegner läßt die Scheibe herunterschnurren und erinnert daran, daß er eigentlich Vorfahrt hat. Das lasse ich mir nicht länger gefallen. Also, ich weiß nicht, woher der überhaupt das Recht nimmt. . . Ja gut, okay, es stimmt, er kam von rechts. Das ist ja auch alles in Ordnung. Aber ich kann diesen Käse nicht mehr hören. Von jetzt an machen wir für euch alle den Rudi. Der Mann läßt sich nicht alles gefallen, das ist ihm die Geschichte nicht wert. Er ist der wahre Guru und bekommt am Ende recht. Nur, wo findet unsereins ein Spielfeld, auf dem alle bohrenden Sinnfragen binnen vier Tagen umfassend und zufriedenstellend beantwortet werden? Wo können wir unsere Tore und Elfmeter schießen, um den Frust der alltäglichen Hilflosigkeit loszuwerden? Wer das Pech hat, eines Vormittags das wahre Ausmaß seines eigenen Nicht-Völler-Seins zu erkennen, läuft bestimmt mit gesenktem Kopf auf den gläsernen Aufzug zu und kann nur noch zuschauen, wie der langsam mit anderen Leuten (doch wohl keine Isländer und Schotten?) davonschwebt. So ein Sch. . .! Sind wir, die wir nach individueller, nach edlerer geistiger Nahrung streben, also auch diesmal darauf angewiesen, uns von Typen läutern zu lassen, die wir eigentlich für verwöhnte, kickende Schnösel im Nationaltrikot halten?“
SpOn-Interview mit Ralf Zumdick, Trainer Ghanas
Im Unwägbaren des Spiels berührt die Sphäre meine Seele
Thomas Hürlimann (FAZ 13.9.) deutet Wesen und Wirken des Fußballs. „Zug, das Schweizer Städtchen, aus dem ich stamme, ist im Gang der Geschichte dreimal durch Klugheit aufgefallen. Im Mittelalter öffnete es der erstarkenden Eidgenossenschaft die Tore; in der Neuzeit senkte es den Steuerfuß, und 1983 machte Zug einen deutschen Fußballspieler zum Trainer seines Clubs: Ottmar Hitzfeld. Mit Hitzfeld, dessen Qualitäten ich lange vor anderen erkannt habe, wechselte ich die Städte, und als wir mit Borussia Dortmund zum ersten Mal Meister wurden, saß ich vor dem Fernseher, schluchzend wie ein Kind. Da betrat meine Frau das Zimmer. So hatte sie mich noch nie gesehen. Was ist denn mit dir los! stieß sie hervor. Fußball. Der Fußball hatte es geschafft. Ich war ihr zum Rätsel geworden (…) Ein Spiel dauert neunzig Minuten, also in etwa so lange wie ein Pontifikalamt oder ein klassischer Hollywood-Western, und wer je mit seinem Club lebte, litt und unterging, weiß, daß der Blick mit wachsender Spieldauer immer öfter nach oben geht, zur Stadionuhr. Die Zeit vergeht, und sie tut dies auf gespaltene Weise. Den Young Boys läuft die Zeit davon, den Grasshoppers fliegt sie zu. Was auf dem Platz geschieht, ist spannend, weil es dem agonalen Prinzip untersteht, die wahre Agonie jedoch erleben wir da oben, auf der runden Uhr. Im Fußball spielen die höheren Mächte mit, und nicht immer, wie wir wissen, gerecht. Ihr Vertreter auf dem Platz hat es in der Hand, über die Zeit hinaus nachspielen zu lassen. Auch kann er ein Foul übersehen oder eine Schwalbe mit einem Elfmeter belohnen, und wiewohl ich schon wie ein Hund unter falschen Pfiffen gelitten habe, bin ich entschieden gegen eine Oberaufsicht durch Kameras. Die Unwägbarkeit gehört zum Spiel. Wir wollen erleben, wie die Götter – moderner gesagt: die Zeit und die Pfeife – die Ballspieler zu Spielbällen degradieren. Auf diese Weise wird uns Spaltwesen bewußt, wer uns den Urknall verpaßt, wer uns in die Teilung und in den Kampf verstoßen hat. Indem wir spielen, sagt Platon, setzen wir uns in das richtige Verhältnis zu den Göttern. Das heißt, im agonalen Spiel rennen wir nicht nur gegen die andere Platzhälfte an, sondern zugleich gegen die höchste Instanz, gegen die Zeit. Sie kann nicht besiegt werden, natürlich nicht, allerdings trifft sie in jedem Spiel ihre Entscheidung, den einen gibt sie ihre Gunst, den andern nicht, und spielt sie mal mit meinem Verein, wölbt sich über dem Stadion oder über dem Ikeamief meiner Wohnwabe der Götterhimmel und lächelt mir zu. So wird in der Freude oder in der Verzweiflung die Traumkugel für Augenblicke sichtbar – im Unwägbaren des Spiels berührt die Sphäre meine Seele (…) Der Schiedsrichter blickt auf die Uhr. Die Nachspielzeit läuft. Auf Schalke feiern sie bereits den Meistertitel. Da ich mit Hitzfeld zu den Bayern übergelaufen bin, verkrieche ich mich todtraurig in den Ikeakissen auf dem Sofa. Ein Tor, nur ein einziges, fehlt uns zum großen Sieg. Wieder geht die Tür auf: meine Frau. Sie lächelt, ich leide. Da gibt der Schiedsrichter den Bayern einen Freistoß. Äußerst zweifelhaft, zugegeben, doch liegt es in seinem Ermessen. Ich wage kaum zu atmen. Kahn stürmt aus seinem Tor, will sich den Ball greifen. Effenberg schubst ihn weg. Dieser Wahnsinnige! Anderson hat für Bayern noch nie ein Tor erzielt, aber Effenberg schiebt den Ball zu Anderson, Anderson schießt, er ist drin. Er ist drin! Bayern, Hitzfeld und ich sind Meister. Ich tanze, ich schreie. Meine Frau schließt das Fenster – zu spät. Ein auf der Straße sich langweilendes Kind dürfte das Geheul aus dem Innern gehört haben – und wird gepackt sein. Für immer. Wie ich. Wie die Welt. Sepp Herberger sagte einmal: Ich war ein Besessener. Einer, der auf die letzte Erkenntnis aus war. Die letzte Erkenntnis war schon die erste. Unser Acker hat vier Ecken, aber die Sphäre, die Seele, der Ball sind rund.“
Gewinnspiel für Experten