Ballschrank
VfL Wolfsburg – Bayern München 3:2
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| Donnerstag, 25. März 2004
Wir haben die Schnauze voll
Aus Wolfsburg verbreitet Philipp Selldorf (SZ 15.9.), dass eine Titelstory die andere Titelstory verdrängt hat. „Die Fotografen hinter dem Tor des VfL Wolfsburg freuten sich schon auf ein gutes Geschäft: Mit ausgebreiteten Armen segelte Roy Makaay auf sie zu, das Gesicht ein Gemälde des Glücks – endlich, endlich hatte er getroffen für den FC Bayern München, zum 2:1 auch noch in Wolfsburg. Es würde die Geschichte des Tages werden, „Makaay schießt Bayern an die Tabellenspitze“ oder so etwas, und sie hätten das Foto dazu gemacht. Doch nur ein paar Minuten später mussten sie erkennen, dass sie nicht nur hinter dem falschen Tor gesessen, sondern auch den falschen Stürmer abgelichtet hatten. Der Mann des Spiels hieß Fernando Baiano. Makaay blieb nur „ein Tor ohne Wert“, wie Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld mit der rationalen Kälte eines Generals bemerkte (…) Ballack, Pizarro, Lizarazu, Deisler und Jeremies hatten die Safari in die niedersächsische Steppe bereits verpasst, weil sie ihre vaterländischen Pflichten nicht unverletzt überstanden hatten. Dazu gesellten sich nun Willy Sagnol und Zé Roberto. Zé Robertos Auftritt dauerte nur elf Minuten. Hitzfeld hatte den Brasilianer auf die Bank gesetzt, weil er am Tag vor dem Spiel erst um halbzehn abends wieder in Deutschland eingetroffen war. Dass Zé Roberto nach seiner Einwechslung für den schwer gestressten und daher stark gelb-rot-gefährdeten Tobias Rau so schnell schon wieder abtransportiert werden musste, mag die Wahrnehmung von angeblichen Missständen im Terminkalender noch geschärft haben. Jedenfalls griff Karl-Heinz Rummenigge zu einem Vokabular, das er aus dem Rudi-Völler-Wörterbuch der Fußball-Kritik entnommen haben könnte. „Wir haben die Schnauze voll“, polterte der Vorstand und stellte dem Weltverband Fifa einen Streik der Vereine in Aussicht. So etwas wie mit Zé Robertos verspäteter Heimkehr „lassen wir uns nicht länger bieten“. Unter Weißbier-Verdacht geriet aber niemand.“
Endlich einmal war der VfL die Nummer eins im Norden
Frank Heike (FAZ 15.9.) bestätigt Wolfsburger Ambitionen. „So kraftlose Münchner hat man selten gesehen. Als die Akkus sich leerten, fehlte auch die Ordnung, und Diego Fernando Klimowicz stand plötzlich frei vor Kahn: Klimowicz schoß ins Tor, beendete die Serie und ließ die Wolfsburger Fans jubeln, diese Anhänger, die ja einen ausgebildeten Minderwertigkeitskomplex gegenüber den traditionsreichen Hannover 96 und Eintracht Braunschweig haben. An diesem stimmungsvollen Nachmittag war endlich einmal ihr VfL die Nummer eins im Norden, nicht nur tabellarisch, sondern auch gefühlt. Die Erwartungen an das rundumsanierte Wolfsburger Team inklusive Trainer sind groß. Noch zweimal haben die Verantwortlichen des von VW dominierten Klubs nachgebessert, mit aller Macht will der VfL mit dem teuersten und besten Aufgebot der letzten Jahre in den Uefa-Pokal. Erste Lehren aus dem bitteren Ausscheiden im UI-Cup gegen Perugia sind gezogen – gegen die Münchner wehrten sich alle Wolfsburger bis zum Schluß und ließen sich durch allerlei Imponiergehabe der Bayern nicht einschüchtern. Im nachhinein waren die vielen Gesten und Worte der Münchner in Richtung Gegner und (vor allem) Linienrichter eher ein Zeichen von Unsicherheit.“
Ralf Wiegand (SZ 15.9.) meldet gute Stimmung in Wolfsburg. „Noch nie hatten die Wolfsburger in zwölf Versuchen gegen die Bayern gewinnen können, und fast kam es einem vor, als hätten sie allein zu diesem Zweck ganz Südamerika mit einem Netz von Spionen überzogen. Die Leute haben ihre Arbeit gut gemacht: Schon seit längerem unterhält der Argentinier Klimowicz die Wolfsburger mit Tricks und Toren; sein am Samstag gesperrter Landsmann D’Alessandro weckt sogar Hoffnungen maradonesken Ausmaßes. Gegen die Bayern lernte die Bundesliga die beiden frischesten Importe kennen, die der norddeutschen Sehnsucht nach dem Temperament des Südens entsprungen sind: Juan Carlos Menseguez und Fernando Baiano. Baiano erscheint im direkten Vergleich mit dem mühevoll ins Bayern-Spiel eingebundenen Top-Transfer Roy Makaay als gelungenes Beispiel für die Blitzintegration ausländischer Mitbürger. Der 24-jährige Angreifer aus Rio de Janeiro ist seit noch nicht einmal einer Woche festes Mitglied der VfL-Trainingsgruppe und spricht weder deutsch noch englisch. Dennoch ging er so optimistisch in sein erstes Spiel, dass er sich vor dem Anpfiff noch rasch eine Mütze mit der Aufschrift „Jesus“ in der Unterhose stopfte.“
Hertha Berlin – Hannover 96 2:3
Christian Ewers (FAZ 15.9.) warnt Hertha. “Leverkusen. Dieser Name geisterte am Samstag durch zahlreiche Wortbeiträge zum aktuellen Zustand von Hertha BSC Berlin. Leverkusen steht für den steilen Absturz einer Fußballmannschaft, die antritt, um die Meisterschaft zu gewinnen, tatsächlich aber bis zur letzten Minute des letzten Spieltages um den Klassenverbleib kämpfen muß. Es geht also um die klaffende Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und in diesem Punkt weist Hertha BSC eine gefährliche Ähnlichkeit zum Leverkusener Team aus der Saison 2002/03 auf. Die Berliner waren mit dem Ziel in die Saison gestartet, einen Champions-League-Platz zu erreichen. Dieses Ziel wurde von der Mannschaft im Trainingslager selbst formuliert. Bereits nach fünf Spieltagen sind die Berliner vom oberen Tabellendrittel weit entfernt. Von 15 möglichen Punkten holten sie nur drei, schossen vier Spiele lang kein Tor, verloren zweimal im eigenen Stadion und legten damit den schlechtesten Saisonstart seit sechs Jahren hin. Was allerdings noch schwerer wiegt, ist die tiefe Ratlosigkeit, die Trainer Huub Stevens und die Elf ausstrahlen. Die Probleme verschieben sich von Spieltag zu Spieltag, ohne daß auch nur eines nachhaltig gelöst wird. So hat Hertha noch immer keine Lösung für die verwaiste Position des Regisseurs gefunden. Marcelinho ist verletzt, und niemand scheint ihn ersetzen zu können. Auch die Defensive ist noch immer ein Experimentierfeld von Stevens. Am Samstag ließ Stevens seinen Abwehrchef Dick van Burik auf der Bank und ließ mit nur zwei Manndeckern ohne Absicherung spielen. Eine mutige Aufstellung, die Stevens wohl so schnell nicht wiederholen wird. Manager Dieter Hoeneß blieb angesichts des spielerischen Chaos erstaunlich gelassen.“
Ein Hauch von Millerntor! In Berlin! Preiset den Herrn!
Javier Cáceres (SZ 15.9.) schildert nicht nur Berliner Frohsinn. „Behaupte keiner, dass die Anhänger des Berliner Fußball-Bundesligisten Hertha BSC frei von Humor seien. Oder bar von Selbstironie. Als am Samstagabend, kaum zwei Stunden nach der 2:3-Niederlage Herthas gegen Hannover, zwei erkennbar durch den Genuss legaler Drogen belustigter Gestalten in einschlägiger Kluft gen Bahnhof Zoo zogen, da trugen sie einen Trauergospel auf den Lippen, „wir steigen ab“ zur Melodie von „Oh When The Saints“. Ein Hauch von Millerntor! In Berlin! Preiset den Herrn. Sie werden kaum geahnt haben, wie sehr sich ihre affirmative Erkenntnis mit den Befürchtungen des neuen Hertha-Wortführers Fredi Bobic deckte. Als dieser nach dem Spiel vom Auslaufen zurückkehrte und sich den Journalisten stellte, brach eine Brandrede aus ihm heraus, die nicht nur in ihrer Galligkeit Völlersche Züge trug. „Jetzt stecken wir mitten im Abstiegskampf“, rief er, „wir brauchen nicht lange drum herumzureden, das ist einfach so. Leverkusen hat letztes Jahr auch 34 Spieltage ’rumerzählt und erst am 30. Spieltag geglaubt, dass es eng wird. Wir müssen jetzt sehen, das wir da unten rauskommen.“ Einem Journalisten war das offenbar nicht deutlich genug; er fragte, ob Hertha jetzt etwa in einer Krise sei, und Bobic antwortete: „Ihr könnt mich am Arsch lecken mit Eurer Krise Ich red’ nicht über Krisen. Es ist ‘ne beschissene Situation. Aus, basta.““
Katrin Weber-Klüver (FTD 15.9.) ergänzt. „Sie hatten mit einigem gerechnet – aber damit nicht. Sie waren sicher gewesen, dass dies der Tag der Wende werden würde: endlich Tore, endlich ein Sieg. Nur ganz verborgen war der schlimmste Fall in Betracht gezogen worden, auch im fünften Bundesligaspiel ohne Torerfolg zu bleiben. Und nur ganz verschämt mag es ein kleines bisschen Angst gegeben haben, im allerschlimmsten Fall zu verlieren. Was dann in der Partie gegen Hannover 96 passierte, übertraf Berliner Befürchtungen. Es kam nicht am allerschlimmsten für Hertha BSC, es kam schlimmer. Dabei hatte es nicht schlecht, sondern richtig gut angefangen. Überraschend locker nahm die Mannschaft die erste Hürde, als Fredi Bobic nach 14 und 21 Spielminuten Herthas Bundesligatreffer eins und zwei in dieser Saison erzielte. Beide Male vertaten sich die Hannoveraner mit dem Abseitsstellen. Seine Spieler hätten sich „aus Faulheit rausgeschoben“, sagte später Trainer Ralf Rangnick und klang dabei lässig. Kein Wunder – sein Team hatte, von den frühen Fehlern unbeeindruckt, das Spiel 3:2 gewonnen. Und zwar verdient. Hertha BSC steht näher und ratloser am drohenden Flächenbrand als je zuvor.“
Borussia Dortmund – Werder Bremen 2:1
Freddie Röckenhaus (FTD 15.9.) bemerkt, dass der Sieg die Dortmunder Finanz-Sorgen nicht vergessen macht. „BVB-Manager Meier ahnte frühzeitig, dass sich kaum jemand für den Sieg und bedauerlicherweise auch nicht für die sagenhafte Zuschauerzahl von 80 500 im nun vollends ausgebauten Westfalenstadion interessieren würde. Die andauernde Debatte um einen Gehaltsverzicht der BVB-Spieler bleibt in Dortmund das Thema Nummer eins. Meier hat inzwischen eine regelrechte Weltanschauung rund um das „Modell Gehaltsumwandlung“ ersonnen. Es sei eine einmalige Chance für die Spieler, auf diesem Wege einen neuen Zusammenhalt zu finden. Das Einfrieren von 20 Prozent der Gehälter bis zum Beweis höherer Erfolge schweiße „unseren Verein zusammen“. Die Botschaft hat Meier am Samstag sehr wohl platzieren können. Ob sie jedoch bei allen Spielern und ihren in der Regel emotionslosen Beratern in all ihrer irisierenden Komplexität verstanden wurde? Meier braucht in seinem 26-köpfigen Kader einen „Konsens“, wie er im Politiker-Vokabular sagt, eine Einstimmigkeit. Denn nicht wenige der vor allem ausländischen Profis identifizieren sich vielleicht mit ihren aktuellen Mitspielern, mit der Stadion-Atmosphäre und mit der Chance, in einer sehr stark besetzten Mannschaft spielen zu können. Zum Absingen des Vereinsliedes aber fehlen nicht nur die Sprachkenntnisse. Das kann man von einer Legionärsauswahl, für die Dortmund sich im Streben nach Höherem entschieden hat, wohl auch kaum verlangen.“
Cullmann-Pass
Ulrich Hesse-Lichtenberger (taz 15.9.) meint zum Spiel. „Vor vielen Jahren führte der Aphoristiker Max Merkel den Begriff Cullmann-Pass ein und meinte damit jenen Fünf-Meter-Sicherheitspass, mit dem es der Kölner Bernd Cullmann einst bis in die Nationalelf schaffte. Auch gegen Bremen bestand der Dortmunder Spielaufbau wieder aus zu vielen Cullmann-Pässen, was beim BVB aber weniger am Sicherheitsdenken liegt, sondern an unkoordinierter Laufarbeit, die dem Ballführenden keine Optionen lässt. Wenn dann noch Jan Koller, wie gegen Werder, einen schlechten Tag hat und kaum eines jener halbhohen, spekulativen Zuspiele (Ramelow-Pass) unter Kontrolle bringt, dann kann der BVB nur mit Glück gewinnen.“
Bayer Leverkusen – Hamburger SV 1:0
Der Verlierer empfand sich als eigentlicher Gewinner des Tages
Erik Eggers (FR 15.9.) bezweifelt den Hamburger Optimismus. „Bekanntlich ist das, was der Deutsche Wetterdienst einst nüchtern aus Offenbach vermeldete, ein Anachronismus. Jörg Kachelmann revolutionierte das Genre, als er Temperaturangaben und Windstärken um neue Faktoren ergänzte. So vermeldet der Schweizer den Windchill, der das subjektive Kälteempfinden beschreiben soll, wenn’s kräftig bläst. Die Rede ist dann von gefühlter Temperatur. Daran fühlte sich der Beobachter am Samstag Abend in Leverkusen erinnert. Beim Hamburger SV sprach man zwar vom nackten Ergebnis (Torwart Pieckenhagen). Und Trainer Jara bekannte: Wenn man die nackten Zahlen sieht, sind wir am Boden. Sprechen ein Punkt nach fünf Spielen und Tabellenplatz 18 doch eine deutliche Sprache. Aber das Gefühl, sagte Nico-Jan Hoogma vor der Abfahrt nach Hamburg, sei anders als bei den anderen Spielen. Der Verlierer also empfand sich, obwohl die Fakten gegen ihn sprachen, als eigentlicher Gewinner des Tages (…) Der HSV erinnerte nicht nur an die moderne Wetteranalysen, sondern auch an den Zustand des Gegners in der vorigen Saison. Damals gerierte sich der Triple-Vize Leverkusen ebenfalls oft als gefühlter Sieger, bis die vielen Niederlagen in eine bedrohliche Eigendynamik mündeten.“
Irrsinn in Leverkusen
Aus Leverkusen wird Christoph Biermann (SZ 15.9.) nicht mehr schlau. „Warum eigentlich, so muss man sich langsam fragen, sollte der Irrsinn in Leverkusen nicht einfach weitergehen? Denn offensichtlich kommt es dort doch mit gnadenloser Konsequenz immer anders als man denkt. Wer hätte gedacht, dass Bayer im Vorjahr fast abgestiegen wäre, davor fast die Champions League gewonnen hätte, fast im Strudel der Daum-Affäre untergegangen wäre oder in Unterhaching noch den Titel verspielte? Und wer hätte gedacht, dass die Schaukler vom Rhein am kommenden Samstag schon wieder als Tabellenführer beim FC Bayern antreten werden? Ob das Leben in Extremen – das der bizarren Logik des Klubs folgend in dieser Spielzeit nur positiv sein kann – wirklich eine Fortsetzung findet?“
Schalke 04 – VfB Stuttgart 0:0
Daniel Theweleit (SZ 15.9.) sah wirkungslose Schalker Offensive. „Es war Glück für die Schalker, dass dem VfL Wolfsburg in letzter Minute noch der Siegtreffer gegen den FC Bayern gelang. Als Schiedsrichter Herbert Fandel die torlose Partie gegen den VfB Stuttgart in Gelsenkirchen abgepfiffen hatte, da erklang wie schon nach dem 0:0gegen den FC Superfund im UI-Cup-Finale ein kollektives Pfeifen in der Arena. Allerdings nur für wenige Sekunden, denn schon einen Moment später erschien auf der Anzeigetafel die Nachricht vom 3:2 der Wolfsburger – und Schalke jubelte. Der Konkurrent aus Niedersachsen verhinderte neuen Ärger über das Verhalten vieler Schalker Zuschauer, das in einem offenen Brief der wichtigsten Fangruppierungen heftig kritisiert worden war. „Man sollte und darf doch NIEMALS die Mannschaft derart fertig machen, wie es gegen Pasching passiert ist!!!“, stand auf einem Handzettel, der vor dem Spiel verteilt worden war. Wenigstens während der 90 Minuten hielt sich das Publikum weitgehend an die Bitte. Die Mannschaft machte einen spielerisch reiferen Eindruck, sie kombinierte vor allem in der ersten Halbzeit flüssig und schnell. „Wir haben über weite Strecken richtig guten Fußball gespielt“, lobte Trainer Jupp Heynckes, er musste aber auch feststellen, dass „wir keine so klare Torchance hatten, dass man sagen kann, das muss jetzt ein hundertprozentiges Tor sein“. Es mangelt eben an Individualisten, denen wie einstmals Jörg Böhme, Andreas Möller oder Emile Mpenza eine überraschende, spielentscheidende Aktion gelingen kann. Dass Hamit Altintop so einer werden kann, zeigten die ersten Spiele, dass er dafür noch Zeit braucht, zeigte die Begegnung mit dem VfB Stuttgart. Glücklich schätzen können sich die Schalker, dass auch den Stuttgartern ein solcher Spieler fehlte. Hätten die Gäste eine ihrer drei guten Chancen verwertet, wäre ihr Auftritt der einer Spitzenmannschaft gewesen.“
Mangel an Kreativität
Richard Leipold (FAZ 15.9.) erlebte einen träumenden Schalke-Trainer. “Seit Jupp Heynckes im Hochsommer seinen Dienst beim FC Schalke 04 angetreten hat, ist im Gelsenkirchener Fußballbetrieb noch kein Fortschritt zu erkennen, jedenfalls keiner, der sich in Punkten oder Toren messen ließe. Der Mann von Welt garantiert noch nicht den Erfolg, aber er hat wenigstens Visionen. Für einen Augenblick der grau-blauen Welt auf Schalke entrückt, faßte Heynckes das krampfhafte Bemühen seines uninspirierten Personals in einem Satz zusammen. Wir haben in der zweiten Halbzeit versucht, das 3:2 zu machen. Das 3:2? In diesem Spiel? Ein Fernsehreporter fügte dezent die unvermeidliche Korrektur an. Sie meinen das 1:0? Heynckes gab seinem Gesprächspartner recht. Er muß für einen Augenblick weit weg gewesen sein, irgendwo in der Zukunft, bei einem Spiel, das seinen Visionen nahekommt. Während Heynckes in Gedanken das dritte Tor vor dem ersten machte, trafen seine Spieler beim 0:0 gegen den VfB Stuttgart überhaupt nicht. Die Schalker mögen einen Hauch besser Fußball gespielt haben als sonst, aber nur bis zum Strafraum. Für einen Mann wie Heynckes muß der Mangel an Kreativität besonders schwer zu ertragen sein. Wenn man Real Madrid und Bayern München trainiert hat, ist man extrem anspruchsvoll, sagte er. Nach fünf Bundesligarunden sind die Schalker von ihren eigenen Ansprüchen weit entfernt und von den Visionen eines Heynckes noch ein Stück weiter.“
Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Holger Pauler (taz 15.9.) fordert von den Stuttgartern mehr Risiko und den Schalkern mehr Realitätssinn. „Immerhin haben die Stuttgarter einen neuen Startrekord aufgestellt: Fünf Spiele ohne Gegentor, das schaffte noch niemand. Leider schien es so, als hätte Trainer Magath alles diesem einzigen Ziel untergeordnet. Das Spiel nach vorne verkümmerte, erst gegen Ende wagten die Stuttgarter sich wieder nach vorne, ohne den Blick zurück zu vergessen: Hauptsache, die Null stand. Fast eine kleine Beleidigung, an diesem, auf die stehende Null bezogen, historischen Ort. Heraus kam ein Null zu Null der schlechteren Sorte, da auch die Schalker ihren Teil dazu beitrugen. Felix Magath rechtfertigte die Spielweise seiner Mannschaft hinterher damit, dass dies für seine Mannen das beste Ergebnis sei, welches in der Arena jemals erzielt wurde. Und Torhüter Timo Hildebrand pflichtete bei: Auswärts auf Schalke muss man auch mal mit einem Punkt zufrieden sein. Doch welchen FC Schalke hatten die Stuttgarter dabei im Hinterkopf. Die aktuelle Schalker Mannschaft ist meilenweit davon entfernt, Angst und Schrecken zu verbreiten (…) Mit zunehmender Spieldauer wurde deutlich: Der FC Schalke 04 des Jahres 2003 verkörpert nur biederes Mittelmaß. Auf Dauer werden Heynckes, Assauer und Co. Probleme bekommen, den Fans derartigen Fußball glaubhaft zu verkaufen. Das Geschehen auf, vor allem aber außerhalb des Platzes hat bei den Zuschauern Spuren hinterlassen. Die gescheiterten Transfers von Morientes oder Forssell, die schließlich in der Verpflichtung des 34-jährigen Österreichers Edi Glieder mündeten, sorgen für eine seltsame Stimmung: Die Einwechselung Glieders wurde mit einem Mix aus wohlwollendem und ironischem Beifall begleitet. Vor dem Spiel mussten die Fans sogar aufgefordert werden, die eigenen Spieler doch nicht schon bei den ersten Fehlpässen auszupfeifen, und auch der 25-jährige Geburtstag des Dachverbandes Schalker Fanclubs ging stimmungsmäßig eher in die Hose. Nicht wenige wünschen sich in solchen Momenten die graue Tristesse der anonymen Betonschüssel Parkstadion zurück, wo die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit nie ganz so offensichtlich wurde wie in der Glamourwelt der Arena.“
1860 München – 1. FC Köln 2:1
Christian Zaschke (SZ 15.9.) reibt sich die Augen. „Es war etwas Außergewöhnliches geschehen: Der TSV 1860 München hatte den 1. FC Köln verdient besiegt und dabei das Spiel gestaltet. Es muss in einer weit entfernten Zeit gewesen sein, irgendwann im vergangenen Jahrhundert, als die Sechziger zuletzt das Spiel selbst, wie man sagt, „gemacht“ haben. Seither tönt die Klage, dass man kontern könne, sehr gut sogar, dass es aber zum Gestalten nicht reiche. Werner Lorant ist daran gescheitert, Peter Pacult ist daran verzweifelt, und er, Falko Götz, hat nun begonnen, den Stil des TSV 1860 München zu ändern. Dazu genügte ihm ein einfacher Kniff. Götz hat Michael Wiesinger auf die Bank gesetzt, „das war verdammt hart, weil der Michael überragend trainiert hat“, und stattdessen Francis Kioyo aufgeboten. Auf dem Papier spielten die Löwen mit drei Stürmern, das ist in der kleinen Welt dieses Vereins eine Sensation. Tatsächlich aber hat Götz Benjamin Lauth hinter die Spitzen Schroth und Kioyo gesetzt, er ließ also 4–3–1–2 spielen statt des gewohnten 4–4–2. Zum einen wollte er die Mannschaft etwas offensiver ausrichten, zum anderen sollte Lauth öfter an den Ball kommen. Im gewohnten System der Löwen war es oft so, dass die Stürmer vorne allein agierten, weil die Bindung ans Spiel über das Mittelfeld fehlte. So waren sie bei Kontern stets gefährlich, verbrachten aber viel Zeit eher nutzlos auf dem Platz. Das ist bei einem Torjäger normal, bei einem Laufstürmer wie Lauth ist es verschenktes Potential. „Lauth muss Bälle bekommen“, hatte Götz während der Saison immer wieder gesagt, und er hat es auch am Samstag wieder gesagt. Dabei lächelte er zufrieden, weil sein Konzept funktioniert hatte. Einzuwenden ist: Wenn nicht gegen Köln, gegen wen sonst hätte man so spielen können? Die Kölner stellten eine der schwächsten Bundesliga-Mannschaften, die zuletzt im Olympiastadion aufgetreten sind. Die taktische Umstellung bei den Sechzigern hat sie verwirrt, bereits nach 24 Sekunden hatte Schroth die erste gute Möglichkeit, ein Tor zu erzielen, nach sieben Minuten besorgte Kioyo nach Kopfballvorlage von Schroth das 1:0 aus vier Metern Entfernung. Es reihte sich Chance an Chance. „Nee“, behauptete Kölns Trainer Funkel, „das hat mich nicht überrascht, dass Falko Götz so aufgestellt hat.“ Vielleicht hätte er seine Mannschaft an seinem Wissen teilhaben lassen sollen.“
Sieh an, die Löwen!, wirft Elisabeth Schlammerl (FAZ 15.9.) ein. „Als Abstiegskandidat waren die Münchner vor Saisonstart gehandelt worden, weil sie mit Thomas Häßler und Martin Max zwei routinierte Profis abgaben, aber aus finanziellen Gründen keinen adäquaten Ersatz besorgten konnten. Der Kader wurde mit jungen und unbekannten Spielern aufgefüllt – ganz nach dem Vorbild des VfB Stuttgart und vermutlich auch in der leisen Hoffnung, ähnliche Husarenstreiche zu vollbringen. Die Rolle von Häßler sollte eigentlich Markus Weissenberger übernehmen, doch der sitzt mittlerweile auf der Bank. Die Akzente setzen tatsächlich die Jungen im Team: Andreas Görlitz zum Beispiel. Der erst 19 Jahre alte Oberbayer hat sich in seinem ersten Profijahr gleich einen Stammplatz erkämpft, weil er auf der rechten Seite defensiv wie offensiv überzeugt. Gerade genesen von einem Bänderriß, lief er unermüdlich an der Außenlinie auf und ab, gefiel mit klugen Pässen und gewann fast jeden Zweikampf. Der andere Spieler, der im System des TSV 1860 eine wichtige Rolle einnimmt, ist Benjamin Lauth, allerdings ein wenig anders als vor der Saison geplant. Der Nationalspieler hat nach dem glänzenden ersten Profijahr nun Schwierigkeiten, den Ball ins Tor zu bringen, dafür überzeugt er immer mehr als Vorbereiter.“
Hansa Rostock – VfL Bochum 0:2
Schmaler Grat zwischen Verehrung und Verachtung
Matthias Wolf (BLZ 15.9.) sah einen verdienten Gästesieg. „Die oft bemühte Szene ereignete sich kurz vor dem Anpfiff. Da nahm Martin Max von drei Herren im feinen Zwirn die Trophäe für seine Wahl zum Spieler des Monats entgegen, welche die Deutsche Fußball-Liga neuerdings veranstaltet. Für Max war es eine Würdigung seiner sechs Tore im August. Die Zeremonie auf dem Rasen wurde von den Spielern des VfL Bochum boykottiert. Während der von den Hansa-Spielern freudig beklatschten Lobeshymnen bildeten die Gäste einen Kreis und steckten verschwörerisch die Köpfe zusammen. Später, nach dem 0:2 des FC Hansa, darf man das Ganze so interpretieren: In Rostock verlassen sie sich zu sehr auf Max allein. In Bochum wird zusammengerückt und das Kollektiv betont. Oder, um es mit VfL-Trainer Peter Neururer zu sagen: Meine Jungs haben Leidenschaft gezeigt und sind als Mannschaft aufgetreten. Genau das habe er gefordert nach dem peinlichen Scheitern im DFB-Pokal bei Jahn Regensburg. Dort sei das Image des VfL beschädigt worden und er habe danach die schlimmsten zwei Wochen erlebt, seit ich beim VfL bin. Im Ostseestadion fand er seinen inneren Frieden (…) Wir sind abhängig von Max und seinen Toren, sagte Vorstandschef Manfred Wimmer: Wenn er nicht trifft, wird es schwierig. Nach dem 0:1 durch Vahid Hashemian begleitete die Hanseaten in vielen Szenen ein Pfeifkonzert ihrer eigenen Fans. Das kam früh, beklagte Trainer Armin Veh die Ungeduld der Masse: Die Jungs waren angeschlagen und hätten Hilfe gebraucht. Nach der zweiten Heimniederlage, die durch den Kontertreffer von Bjarni Gudjonsson besiegelt wurde, zeigt sich, wie schmal der Grat zwischen Verehrung und Verachtung ist. Bei Hansa hatten sie geglaubt, Mannschaften wie Bochum hinter sich zu lassen. In einer Anzeige im Stadionheft wurden die Gäste sogar als elf graue Mäuse begrüßt.“
morgen auf indirekter-freistoss: Pressestimmen zu den Sonntagspielen in Gladbach und Kaiserslautern
siehe auch die Lage der Liga
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