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Weshalb benutzen die ihre Hände nicht?

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Weshalb benutzen die ihre Hände nicht?

„Die taktischen Fortschritte der Underdogs auch in der Offensive haben den Ausgang der Spiele wieder zufälliger werden lassen“, schreibt der Tagesspiegel – und weiter: „Zumindest strukturell hat das DFB-Team die Modernisierungslücke geschlossen, die unter seinen Vorgängern aufgerissen worden ist. Taktisch hat der deutsche Fußball wieder Anschluss gefunden.“

Stefan Hermanns (Tsp 20.6.). !Der Weltfußball ist von der großen Unübersichtlichkeit ergriffen worden: Wer gestern Held war, ist heute Trottel. Und kann morgen schon wieder Held sein. Von den letzten acht Mannschaften des WM-Turniers standen drei, Südkorea, die Türkei und der Senegal, noch nie in einem Viertelfinale, die USA erreichten immerhin 1930 das Halbfinale. Allerdings stieß die Veranstaltung Fußball-Weltmeisterschaft da noch auf ähnlich großes Interesse wie heute die offenen aserbaidschanischen Dart-Meisterschaften. Inzwischen aber hat der Fußball auch den letzten Winkel der Welt erfasst, und die überraschenden Ergebnisse dieser WM sind nicht zuletzt ein Ausdruck der umfassenden Globalisierung dieses Sports. Der internationale Fußball kennt keine nationalen Eigenheiten mehr: So wie chinesische Jugendliche in Peking genauso zu McDonald’s gehen wie gleichaltrige Amerikaner irgendwo in Ohio, spielen 17-jährige Ghanaer eben in der A-Jugend deutscher Fußball-Bundesligisten. Den italienischen Catenaccio beherrscht Paraguay inzwischen besser als Italien selbst, und der Senegal ist zumindest bei dieser WM das stärkere Frankreich.“

Eine Analyse der taktischen Entwicklungen liefert uns Ulrich Fuchs (Tsp 20.6.). „Markiert diese WM den Richtungswechsel zurück zur Dominanz der Defensive, die zuletzt bei der EM 1996 in England zu beobachten war? Ein Spiel, das wieder stärker von der Physis bestimmt ist als von der filigranen Technik seiner Protagonisten? Sicher ist jedenfalls, dass mit Frankreich, Argentinien und Portugal schon drei Teams die Heimreise angetreten haben, die nicht nur zum Favoritenfeld gezählt wurden, sondern auch für jene Übereinkunft von Ästhetik und Effizienz standen, die dem Fußball in der Weltspitze in den letzten Jahren ihren Stempel aufgedrückt hat. Im Kreis der letzten acht sind nun Brasilien und – mit Einschränkungen – Spanien und Senegal die letzten Repräsentanteneines Spiels, bei dem eine Ansammlung überragender Individualisten den Stil des Kollektivs prägt. Mit offensivem Spektakel aber haben auch sie sich bisher in Zurückhaltung geübt. Von einer Trendwende zu sprechen, ist trotzdem verfrüht. Weil jenseits des spektakulären Favoritensterbens ein Phänomen zu beobachten ist, das als seine Kehrseite in eine andere Richtung weist. Die so genannten Kleinen haben riesige Fortschritte gemacht, die taktischen Maßgaben des modernen Spiels sind von einem Großteil der Teilnehmer in einerQualität umgesetzt worden, die so nicht unbedingt zu erwarten war.“

Zur Schiedsrichterdiskussion meint Thomas Klemm (FAZ 20.6.). „Mit dem hohen sportlichen Niveau dieser WM-Endrunde können die Unparteiischen in ihrem Metier selten mithalten. Als könnten sie Tempo und Tricks des modernen Fußballs nicht folgen, leisteten sie sich folgenschwere Fehlentscheidungen in Reihe: Reguläre Treffer wie jene vom Italiener Vieri gegen Kroatien oder vom Belgier Wilmots gegen Brasilien, die ein Spiel hätten anders verlaufen lassen, werden nicht anerkannt. Bei einer Berührung im Zweikampf mit anschließendem Fall entscheiden die einen auf Foulelfmeter, die anderen halten dem Angreifer wegen vermeintlichen Simulierens die Gelbe Karte vor (…) Das unsportliche Schau-Spiel, schon beim Fußballnachwuchs geduldet, wird im Kampf um Titel und Tantiemen oft als Kavaliersdelikt angesehen. Wie Falschparken im Straßenverkehr. Viele Entscheidungen, gerade gegenüber Fußballnationen mit einem ausgeprägten Hang zur Theatralik wie Italien oder Portugal, deuten allerdings darauf hin, dass mancher Schiedsrichter über alle Maßen motiviert und sensibilisiert ist. Eine Woche im März hatten sich alle zu einem Vorbereitungsseminar getroffen, um Täuschungsmanöver von Spielern auf Videoaufzeichnungen zu studieren. Eine Laborsituation, die im Ernstfall wenig hilft. Die Bewährung folgt im Stadion und in seiner Atmosphäre. Ob es mehr als Zufall war, dass Südkorea sowohl gegen Portugal als auch gegen Italien Nutznießer von Schiedsrichter-Entscheidungen war?“

„Wäre Japan heute im Turnier geblieben, wäre bei unserem Spiel einiges vielleicht anders gelaufen. Ich sage vielleicht, weil ich verbittert bin. Aber solche Gedanken kommen einem in diesen Momenten.“ Dieses Zitat von Italiens Nationaltrainer Trapattoni kommentiert Roland Zorn (FAZ 20.6.). „Einer der besten und erfolgreichsten Trainer der Welt musste kurz nach der nicht nachvollziehbaren Hinausstellung von Totti, über die auch die FIFA-Beobachter am Spielfeldrand den Kopf geschüttelt haben sollen, noch eine weitere Ungerechtigkeit ertragen: Tommasi, der das „goldene Tor“ für Italien auf dem Fuß hatte, wurde, auch das eine kapitale Fehlentscheidung, wegen Abseits zurückgepfiffen. Soll ein Team, das durch Vieris Kopfball früh in Führung ging und den Ausgleich durch Seol Ki-Hyeon erst zwei Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit einstecken musste, angesichts der folgenden Aussetzer des Schiedsrichters etwa nicht wütend und panisch werden dürfen? Fünf Tore sind den Italienern bei dieser WM aberkannt worden, zwei gegen Kroatien, zwei gegen Mexiko, dazu der Quasitreffer gegen Südkorea: Ist es da ein Wunder, dass Trapattoni während der für seine Mannschaft schwierigen Wochen in Japan und Korea etwas zu viel „Gegenwind“ verspürte?“

Bei einer Fifa-Sitzung im Jahre 1996 stand die brisante Entscheidung um die Vergabe der Fernsehrechte auf der Agenda. Das damalige Exekutivmitglied DFB-Präsident Mayer-Vorfelder erschien als einziger nicht. Daran erinnert Thomas Kistner (SZ 20.6.). „Tatsache ist, dass bei der wichtigsten Fifa-Sitzung aller Zeiten just der Deutsche abgetaucht war – zufällig der einzige, der Kirchs peinlich gehütete Pay-TV-Pläne kannte. Sieht man, dass damals das Allgemeingut Fußball an ein privates Einzelinteresse verramscht wurde und dieses Interesse kein globaler Konzern ausübte, sondern ein deutscher Fernseh-Hasardeur, dem MV eng verbunden war, dann darf, wer hier an ein bedauerliches Termin-Missverständnis glaubt, auch gleich weiter an den Weihnachtsmann glauben. Weil sich nun alle Welt zu empören beginnt darüber, dass die besten Spiele dieser WM wie der morgige Viertelfinalschlager Brasilien-England nicht frei zu sehen sind, muss daran erinnert werden, dass diese Plage keineswegs vom Himmel gefallen ist, sondern das Resultat eines fein eingefädelten deutschen Geschäftsdeals, protegiert vom DFB.“

Über Soccer schreibt Wolfgang Koydl (SZ 20.6.). „Was der World Cup 1994 in den USA nicht geschafft hat, bewirkt nun auf wundersame Weise die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea: Amerika entdeckt einen Sport, der bisher meist verspottet wurde. „Warum schafft ihr denn nicht endlich den Torwart ab, damit mehr Tore fallen“, fragte unlängst stellvertretend für viele der Polit-Kolumnist Bob Novak. „Gibt es eigentlich einen Grund, weshalb die ihre Hände nicht benutzen“, wunderte sich der Tankwart und Baseballfan Don Jackson und fügte vernichtend hinzu: „Soccer, das ist Fußhockey ohne Schläger.“ Sogar das Wort Soccer war eine bizarre Neuschöpfung des späten 19. Jahrhunderts: Aus dem Begriff Association Football wurden einfach die drei Buchstaben S, O und C herausoperiert und mit der Endung –CER garniert.“

Zum Ausscheiden Italiens wirft Peter Hartmann (NZZ 20.6.) ein. „Das Debakel an der WM hat die Wunden der italienischen Fußballkrise wieder aufgerissen. In der Champions League nehmen die Italo-Klubs seit drei Jahren frühzeitig den Ausgang. Die einst „schönste Meisterschaft der Welt“, als noch Zico, Platini und Maradona spielten, erstickt an den Abwürgekonzepten der Trainer. „Die Kreativität erzeugt Angst in diesem Land“, sagt der Photograph Oliviero Toscani. Aber die Trainer sind nicht die Alleinschuldigen, in der Fremde werden sie als brillante Strategen bewundert. Trapattoni wurde mit Bayern Deutscher Meister, Capello gewann mit Real Madrid auf Anhieb den Titel, Eriksson, von seiner Italien-Erfahrung geprägt, ist mit England erfolgreich. Die Krise ist ein Mentalitätszustand einer Mischung aus Hysterie und Kopfjägerei in den Medien und der realitätsfernen Megalomanie, dem Verschwendungszwang von wichtigtuerischen Präsidenten. Sie wurzelt in einer italienischen Nationalkrankheit, dem Furbismo: Immer schlauer sein als die andern, bis zur Passfälscherei ausländischer Spieler. Kombiniert mit dem Vittimismo, der Opferrolle, die immer dann gesucht wird, wenn der Furbismo versagt. Der Mechanismus spielt auch jetzt wieder: Schuld am Ausscheiden Italiens ist eine internationale Verschwörung.“

Helmut Schümann (Die Zeit 20.6.) rätselt über die wahre Stärke der deutschen Mannschaft. „Die Mannschaft 2002 stochert und grätscht und krampft sich voran. Jedes der ernst zu nehmenden Spiele war ein Spiel am Abgrund. Irland hätte von den Spielanteilen den Sieg verdient gehabt, Kamerun war zumindest eine Halbzeit lang das herrschende Team auf dem Platz, Paraguays Lauf zum Sieg verhinderte Torwart Kahn. Im Grunde war nicht viel mehr zu erwarten gewesen als von Corinna May beim Grand Prix. So kam’s ja dann auch, das 8:0 über Saudi-Arabien zum Auftakt war mehr glücklicher Ausrutscher denn Prophezeiung. Aber nun ist Frankreich ausgeschieden, der elegante Weltmeister, Argentinien, der designierte temperamentvolle Nachfolger auch und Portugal, diese glutäugige Sehnsucht, ebenfalls. Sogar Italiens Rückzugskünstler sind gescheitert. Auf die deutschen Biedermänner warten die USA, deren Harmlosigkeit von bereits ausgeschiedenen Polen demonstriert wurde, und danach wartet das Halbfinale und, schwupps, schon sind wir wieder wer.“

Zu den Reaktionen der japanischen Öffentlichkeit nach dem Ausscheiden ihrer Mannschaft bemerkt Anne Scheppen (FAZ 20.6.). „Das japanische Publikum ist großmütig, es freut sich über den Sieg – aber es verzeiht auch die Niederlage. Die Zeitungen sind voll von Hymnen der Dankbarkeit. Der Fußball, das Team haben das Land zumindest für kurze Zeit aus seiner Depression geholt, das Selbstbewusstsein aufblühen lassen: Für zwei Wochen durfte man sich der Illusion hingeben, dass es in schnellen Schritten aufwärts geht. „Die Nationalmannschaft inspiriert uns“, überschrieb die konservative „Daily Yomiuri“ ihren Leitartikel am Mittwoch. Seit mehr als zehn Jahren stecke Japan in der Wirtschaftskrise, die Reformen kämen nicht wie erwartet voran, die Konkurrenzfähigkeit habe nachgelassen: „Der Erfolg der jungen Mannschaft hat dem japanischen Volk einen Hoffnungsstrahl gegeben.“ „Danke Japan“, diese Inschrift trugen die Verlierer auf T-Shirts durchs Stadion von Miyagi. „Danke Mannschaft“, antwortet Japan am Mittwoch unisono. Die Spieler haben Kampfgeist bewiesen, Japans Fußball weitergebracht als jemals zuvor. Das Team hat sich aus den Kinderschuhen gespielt, ist erwachsen geworden, den Großen ebenbürtig – so will man es jetzt sehen. Die Leistungen werden aufgezählt, nicht die Defizite.“

Der Werdegang von Teamchef Rudi Völler erinnert Michael Horeni (FAZ 20.6.) an denjenigen Beckenbauers. „Nicht nur die Mannschaft ist in Korea unversehens zur Zielscheibe geworden, auch der Teamchef. Der verteidigt furchtlos wie einst Beckenbauer seine Auswahl, die er aus den Trümmern einer Europameisterschaft wieder an die Weltspitze und vier Jahre später zum WM-Titel führen sollte. Aber ein wenig hat sich die Zeit seit 1986 natürlich verändert. Und die öffentliche Abschottung der Mannschaft, die Völler wie einst sein Fußballlehrer Otto Rehhagel unbeirrt gegen jede Veränderung zu verfolgen trachtet, stößt beim Medienereignis Nationalelf im 21. Jahrhundert an Grenzen, die der Teamchef, anders als Beckenbauer, nur schwer zu akzeptieren bereit ist. Nach fünf Wochen in diesem Fußball-Medienkosmos werden daher auch die Eigenheiten, das Profil des Teamchefs immer schärfer erkennbar: Der liebe Rudi, Eingeweihte wissen das längst, kann auch knallhart sein.“

Zur Situation des englischen Fußballs meint Peter Heß (FAZ 20.6.). „Ein paar hoffnungslose Romantiker sehen sich immer noch nach den guten alten Zeiten. Damals, als englische Nationalmannschaften rannten, ackerten und kämpften, bis ihnen das Blut in den Fußballstiefeln stand. Immer mit vollem Einsatz das Spielfeld rauf und runter – und doch nie am Ziel. Diesen Nostalgikern kommt gar nicht der Gedanke, dass der typisch britische Stil vielleicht der Grund für die anhaltende Erfolglosigkeit ist (…) Von den Ewiggestrigen zu den Fortschrittsgläubigen: Die meisten englischen Fußballbegeisterten sind von Sven-Göran Eriksson ganz hingerissen. Nicht, weil die Engländer seinen Fußball vom Reißbrett so sehr liebten. Sie lieben es zu siegen (…) Eriksson verhehlt nicht, Sohn eines schwedischen Bauern, dass die Zeit in Italien ihn taktisch geprägt habe. Dort führte er Sampdoria sowie die AS Roma und Lazio zu nationalen Meister- und Pokalehren, auf eine Art und Weise, wie sie die meisten italienischen Trainer pflegen: kein Risiko eingehen, Torchancen des Gegners vermeiden, auf den rechten Moment der eigenen Attacke warten.”

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