Ballschrank
Zu den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen des sportlichen Erfolgs in Brasilien
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| Donnerstag, 25. März 2004
Zu den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen des sportlichen Erfolgs in Brasilien heißt es bei Nicolas Richter (SZ 2.7.). „Es gibt diese alte Genesungstheorie: Ein Sieg bei der Weltmeisterschaft kann eine ganze Region beflügeln, er wird das Volk milde stimmen, die Regierung wird in den Umfragen aufholen und im Oktober wiedergewählt, was wiederum die Investoren freut, weswegen Geld ins Land fließt, und so weiter. Was zumindest stimmt, ist, dass Brasilien in einer Krise steckt, die in erster Linie eine Vertrauenskrise ist (…) Schöner Fußball bringt kein Geld. Wenn der Titel auch an der verzwickten politischen Lage nichts ändert, wenn er auch Brasilien nicht das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgibt, so gibt er doch wenigstens den Menschen Selbstvertrauen, weil ihre Mannschaft, die als Außenseiter antrat, mit Siegeswillen und Disziplin den Titel holte. Das Volk feiert jetzt nicht das Ende derKrise, sondern vergisst einen Augenblick, dass es sie gibt.“
Peter B. Birrer (NZZ 25.6.) über Brasilien. „Die drei R, da gibt es keinen Zweifel, haben im Verlauf des Turniers schon den einen oder anderen individuellen Glanzpunkt gesetzt. Sie sind das beste Offensiv-Trio des ganzen Anlasses. Aber die Seleção kann, o Wunder, auch ganz anders, nämlich sich zurückziehen, taktieren und dergestalt nüchtern spielen, wie dies auch andere zu tun pflegen (…) Die Abwehr steht auf solidem Fundament und band mit zunehmender Turnierdauer jene Kritiker zurück, die im Vorfeld noch das Schlimmste befürchtet hatten (…) Die neue Selbstsicherheit der brasilianischen Auswahl hat vielerlei Gründe. Einer ist sicher der, dass sie wie gewohnt auf individuell starke Spieler setzen können. Ein R wird es mit einem Kunststück in der Minute x immer wieder richten. Ein anderer Vorzug ist das Kollektiv, das aus der massiven Krise der letzten Monate hervorgegangen ist, dem Phönix aus der Asche gleich.“
Ronald Reng (FR 25.6.) porträtiert den brasilianischen Star Rivaldo. „Öfter als jubelnd in der Luft liegt er leidend am Boden; oder pseudo-leidend. Wer ihn spielen sieht, fürchtet minütlich seinen Zusammenbruch. Weil er zum einen eindeutig unfit ist, nachdem sechs Verletzungen, meist an Knie und Knöchel, sein Spieljahr beim FC Barcelona zersetzten. Und weil er zum anderen den Akt des sterbenden Schwans beim geringsten Feindkontakt auf ein neues, unerträgliches Niveau treibt (…) Umso schmerzhafter ist sein Leiden, das echte, nicht das geschauspielerte, während der WM-Spiele. Ihm fehlt die körperliche Stärke, sich regelmäßig im Zweikampf durchzusetzen, sein Vorsprung durch Technik ist nutzlos, wenn er die Bewegungen nicht kraftvoll und schnell genug ausführen kann.“
Thomas Klemm (FAS 2.6.) über Trainer Scolari. “Mit seiner Entscheidung, den bittenden und bettelnden Romario nicht zu erhören, schien der Nationaltrainer das Land in zwei Lager gespalten zu haben: einer seits er selbst, andererseits die restlichen 170 Millionen Brasilianer.”
Ronald Reng (SZ 22.5.) bezweifelt ob der Dauerverletzte Rivaldo ein großes Turnier spielen können wird. “Es bleibt fraglich, ob der o-beinigste Angriffsfußballer seit Pierre Littbarski bei der WM in die Mannschaft zurückkehren kann. Seine Saison kam nie über ein Stottern hinaus, sechs Verletzungen, meist an Knie und Knöchel, hielten ihn gefangen (…) Ist Rivaldo ein neuer Fall Ronaldo? So wie Inter Mailands Stürmer, der bis zu seiner Rückkehr in dieser Saison vier Jahre lang mit Gelenkschäden kämpfte, rieb sich auch Rivaldo auf, indem er Verletzungen nicht auskurierte, sondern regelmäßig mit Schmerzmitteln spielte.”
“Die Brasilianer lieben melodramatische Seifenopern und ihren Fußball”, erfahren wir von Michael Ashelm (FAS 19.5.). “Der Mythos Ronaldo hatte schon bei der WM 1998 in Frankreich einen Knacks bekommen. Angetreten war der schnelle Stürmer mit dem Aufsehen errgenden Offensivdrang, das Turnier als persönliche Krönungszeremonie zu gebrauchen und den WM-Torrekord des legendären Franzosen Just Fontaine von 1958 in Schweden mit 13 Treffern zu brechen. Doch “Il Fenomeno”, wie die italienischen Medien Ronaldo nannten, brachte dieses Weltfest kein Glück. Bis heute ist nicht genau geklärt, was sich vor dem Finale gegen Frankreich in der brasilianischen Kabine des Stade de France von St. Denis abspielte. “Ronaldo ist tot?” schrie Mitspieler Roberto Carlos ziemlich verstört, als sein Freund in der Umkleide wie zuvor im Hotel geschwächt zusammenbrach. War es Stress? War es der Druck? Oder ein epileptischer Anfall? Der Jungstar wurde von Trainer Mario Zagallo trotzdem hinausgeschickt. Den Rest würden die brasilianischen Fußballfans gerne aus ihrem Gedächtnis streichen.”
Brasiliens Fußball weilt in einer Krise, weswegen die Selecao im Vorfeld der WM ausnahmsweise nicht als großer Favorit gehandelt wird. Jörg Wolfrum (FAZ 8.5.) beschreibt die einheimischen Interpretationen. “Die Öffentlichkeit hat den Schuldigen längst ausgemacht: Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari, obleich dem vierten Fußballlehrer in zwei Jahren vielfach nur die Rolle eines Nachlassverwalters zukommt. Unter dem als Disziplin- und Defensivfanatiker geltenden Scolari seien der Selecao auch die letzten Ansätze des “jogo bonito”, des schönen Spiels, abhanden gekommen, sagen seine zahlreichen Kritiker.”
Gerhard Dilger (taz 10.5.) weiß über die Vorzüge eines eventuellen brasilianischen Misserfolgs zu berichten. “Kenner der Szene gewinnen der Dauerkrise der Nationalelf ihre guten Seiten ab – sie sehen in ihr auch einen Reflex des äußerst korrupten brasilianischen Fußballbetriebs. Sollte die Seleção bei der WM scheitern, könnte es leichter fallen, die durch mehrere Parlamentsausschüsse schwer belastete Führungsclique um Verbandschef Ricardo Teixeira zu entmachten. Ein WM-Titel hingegen werde den tristen fußballpolitischen Status quo stabilisieren, unken die Skeptiker.”
Türkei
Ronald Reng (SZ 26.6.) über Team Türkei. „Der immense Sprung im vergangenem Jahrzehnt von einem fußballerischen Entwicklungsland zu einem WM-Halbfinalisten, der am heutigen Mittwoch in Saitama eine echte Herausforderung für den viermaligen Weltmeister Brasilien sein wird, ist ein Erfolg der neuen Internationalität im Fußball. Zehn der besten 15 Profis aus dem aktuellen Team arbeiten oder arbeiteten noch kürzlich in den großen vier Ligen, in Spanien, England, Italien oder Deutschland (…) Trotz ihres aggressiven, laufintensiven Spielsystems finden die Türken noch Platz für die technisch feinen, die so genannten brasilianischen Seiten des Fußballs, und es gibt gute Gründe, warum die Nachahmer am Mittwoch sogar besser als die Vorbilder sein könnten. Spätestens im Viertelfinale gegen Senegal (1:0) bewiesen sie, dass sie eine Balance zwischen Spielfreude und taktischem Pflichtbewusstsein gefunden haben. Ein wenig Ungewissheit bleibt, weil die Türkei noch nie eine Partie von solcher Bedeutung erlebt hat. Niemand weiß also, ob die Nerven, der größte Feind des Außenseiters in einem unbekannten Territorium, ihnen nicht noch dazwischen funken. Ihre Qualitäten jedoch sind offensichtlich.“
Martin Hägele (NZZ 26.6.) wohnte der türkischen Pressekonferenz vor dem Semifinale bei. “Noch kommt es den Beobachtern ungewohnt vor, diese neue Fußball-Macht auch in jenem Rahmen zu würdigen, wie es der türkische Trainer verkündet. In Zukunft müsse man die Copacabana und die Strände des Schwarzen Meers in einem Atemzug nennen, wenn darüber gesprochen werde, wo die Wiegen der größten Talente und besten Fussballspieler der Erde stünden. Und irgendwie passt auch diese Botschaft vom Bosporus an die Fußballwelt, in der so viel von Liebe und vom Frieden der Völker die Rede ist und auch davon, dass das Wort Revanche nur für Menschen mit niederen Instinkten zähle, irgendwie passt fast alles, was Senol Günes erzählt, nicht zu jener Atmosphäre, die im Halbfinal in Saitama ohne Zweifel herrschen wird. Ist dieser Trainer, der zwölf Jahre lang das Tor seiner Nationalmannschaft gehütet hat und auch deren Captain war, nicht doch nur ein Phantast, den ein Großteil der Journalisten seines Landes nicht ernst nimmt? Wohl auch wegen solcher Reden, und weil er bisher nur bei Trabzonspor gearbeitet hat. Ein Provinzpascha, der in Istanbul erst durch die Erfolge der vergangenen Wochen so richtig akzeptiert wird? Oder wie bewertet ein objektiver Beobachter die Tatsache, dass die Spieler von Senol Günes praktisch das Gegenteil von dem behaupten, was ihr Chef sagt? Die Fußballwelt ist tatsächlich aus den Fugen geraten. Und die Frage, auf wen oder auf was man sich hier noch verlassen kann, ist nach einem Besuch im türkischen Lager noch schwerer zu beantworten als zuvor.”
Die Türkei ist stolz auf ihre Mannschaft. Christiane Schlötzer (SZ 27.6.). „Das Gefühl, die Elf habe die Ehre der krisengeplagten Türkei in der Welt gerettet, durchzog in den letzten Tagen alle politischen Kommentare. Auch die türkische Wirtschaft hat profitiert. Nicht nur stieg die Nachfrage nach rot-weißem Tuch für T-Shirts und Flaggen enorm, auch Verkäufer von Blumen, Luftballons und Knallkörpern melden beste Geschäfte. Das gilt selbst für den Bierabsatz in dem mehrheitlich moslemischen Land.“
Martin Hägele (SZ 28.6.) über den Turnierauftritt der Türken. „Wenn Günes und seine Männer noch ein paar Mal geschlafen haben, dann können sie auch mit jenem grenzenlosen Stolz ans Schwarze Meer zurückkehren, den sie in den vergangenen Tagen allen Beobachtern hier vorgeführt haben. Der türkische Fußball hat sich bei diesem Turnier etabliert – er ist zu einem neuen Markenzeichen in Europa geworden.“
China
Zu den Perspektiven von Chinas Fußball heißt es bei Roland Zorn (FAZ 13.6.). „An Trostspendern für den Punktelieferanten hat es dieser Tage nicht gefehlt. So erwartet Peter Velappan, der malaysische Generalsekretär des asiatischen Fußballverbands, China innerhalb der kommenden zehn Jahre unter den Top ten der Welt. Eine Einschätzung, die noch verwegener erscheint als die Hoffnung der FDP, den kommenden Bundeskanzler zu stellen (…) Andererseits gehören die Chinesen zu den Kulturvölkern der Erde, die besonders rasch und findig dazulernen. Warum nicht auch im Fußball? (…) China muss sich der Welt öffnen, und das ist mit dem Besuch einer Weltmeisterschaft nicht getan. Milutinovic hinterlässt seinem Nachfolger, der vermutlich aufs neue irgendwo anders als in China selbst gefunden wird, einen dringenden Rat: „Ich habe schon immer gesagt, dass wir mehr Länderspiele gegen die starken Nationen brauchen.“ So haben es Japan und Südkorea geschafft, den Anschluss an die etablierten Teams zu finden. Die Früchte ernten beide Teams, ebenfalls von renommierten Trainern aus Europa betreut, dieser Tage. China aber hat sich auf dem Weg zur WM mit Begegnungen gegen drittklassige asiatische Nationalmannschaften begnügt und dabei wertlose Siege gefeiert.“
Anreas Lorenz (Spiegel 3.6.). “Sportlich zählt China, das am Dienstag sein WM-Debüt feiert, noch zu den Underdogs. Doch wirtschaftlich verheißt das Land in Fernost der westlichen Fußballindustrie einen gigantischen Markt (…) Ob das Riesenreich aber wirklich, wie von der China Daily angekündigt, alsbald eine Fußballnation wie England, Deutschland, Brasilien oder Italien wird, scheint äußerst zweifelhaft. Noch mindestens 20 Jahre brauchen die Chinesen, bis sie in der Weltspitze mitspielen können, schätzt der Australier David Mitchell, einst Profi bei Eintracht Frankfurt, der für Feyenoord Rotterdam den chinesischen Markt nach Talenten ausspäht. Fußball hat in China keine Tradition, sagt Velibor (Bora) Milutinovic, ein aus Serbien stammender Weltenbummler mit mexikanischem Pass, der für drei Millionen Dollar inklusive Werbeeinnahmen die Nationalkicker unterweist. Dem Land fehlt es an einer Vereinskultur mit Amateuren, Freizeitkicker finden sich nur in Betrieben oder Universitäten (…) Clubs wechseln sogar den Standort, wenn das Umfeld nicht mehr stimmt. Die von einem Handy-Unternehmen finanzierte Mannschaft Liaoning Bird zog jüngst nach Peking um, weil in dem von sozialer Not heimgesuchten Stahl- und Kohlerevier in der Nordostprovinz Liaoning der Absatz von Mobiltelefonen ausgereizt war. Nur acht Jahre ist es her, dass die KP eine Profiliga mit marktwirtschaftlichem Treiben erlaubte. Etliche Vereinsfunktionäre müssen in drögen Sitzungen noch die Gedanken des Genossen Generalsekretär Jiang Zemin studieren. In manchem Verein nistet gar eine Parteizelle, die Spielern wie Betreuern das richtige Bewusstsein einflößt, indem sie das Team zum Beispiel zum Mao-Geburtsort Shaoshan lotst. Sieben Aktive, jubelte der Tianjiner Profiverein kürzlich, seien dort in die KP eingetreten (…) Dabei liegen die Probleme des chinesischen Fußballs auf ganz anderen Gebieten: Der Ausgang vieler Clubspiele wird wie auf dem Viehmarkt verschachert, Schiedsrichter lassen sich bestechen, und auf den Rängen entlädt sich der Zorn der Zuschauer in Randale (…) In ihren Leistungen spiegelt sich die moderne chinesische Gesellschaft wider: stark und fleißig, aber oft egoistisch, gehemmt und ohne Witz.”
Elisabeth Schlammerl (FAZ 3.6.) über chinesische Fußballfans. „Vielleicht ist es ganz gut, dass nicht die angekündigten 100 0000 chinesischen Fußballfans ins benachbarte Südkorea reisten, wo ihre Mannschaft die drei Vorrundenspiele der Weltmeisterschaft austrägt. Denn die Manieren der Chinesen in Stadien sind nicht die besten. Gegnerische Spieler werden nicht nur, wie sonst auch üblich, verhöhnt, nein, sie werden von Anfang an wüst beschimpft und ausgepfiffen. Der Zorn kann sich aber auch gegen das eigene Team richten, wenn es nicht gewinnt. Und dass die Chinesen bei ihrer ersten WM-Teilnahme sehr oft gewinnen werden, ist unwahrscheinlich.“
Kai Strittmacher (SZ 1.6.) belegt, dass die öffentliche Stimmung von Fußball geprägt ist. “Es gibt in Peking ein Restaurant, da kann man die „Tränen von Seoul“ bestellen, das sind kalte Entenfüße in scharfem Senf, benannt nach einer vernichtenden Niederlage gegen den Angstgegner Südkorea. Wer in den letzten Jahren chinesische Fans sah, wie sie sich bei einem Spiel ihrer Nationalmannschaft an die Zäune klammerten, die Gesichter an die Gitter pressend, darin eingegraben die Züge von Angst und Verzweiflung, nur in kurzen Momenten das Aufflackern eines letztes Flehens, wider alle Vernunft, dann wieder Elend und Zorn, der fühlte sich mehr an Bilder von Flüchtlingslagern erinnert als an ein Fußballspiel (…) Fußball nämlich hat in China zu sein: ein Symbol für das Ringen einer Nation um Anerkennung, um einen Platz in der Welt – was jeden Steilpass zum patriotischen Akt macht. Eher unfreiwillig ist es ein Spiegel der Gesellschaft, mit ihrem Fortschritt, ihren Brüchen und Auswüchsen. Wo Journalisten den Wettbewerb und die Demokratie proben und einfache Fans die herrschenden Funktionäre anpinkeln, wo immer mehr Geld fließt, jeder jeden betrügt und alles käuflich zu sein scheint (…) Sie haben ihn (den Trainer Milutinovic, of) sogar gehasst am Anfang: Der neue Trainer fing plötzlich an, ihnen Fragen zu stellen, denen er auffordernde Blicke hinterher sandte, Blicke, vor denen sie panisch in Deckung gingen. Sie, die ein Leben lang nur Zuhören durften, sollten plötzlich Antworten geben?”
Eine Meldung aus der französischen Tageszeitung Le Monde (30.5.) zeigt, dass in Asien der Kommerzialisierung des Sportes doch noch Grenzen gesetzt sind. “Der serbische Cheftrainer der chinesischen Fußball-Nationalmannschaft, Bora Milutinovic, riskiert den Verlust großer Summen, nachdem Ausländern das Erscheinen im Rahmen nationaler Werbesendungen seitens der chinesischen Regierung untersagt worden ist. Milutinovic, der China zu seiner ersten WM-Teilnahme geführt hat, zeigt sich in verschiedenen Werbespots für chinesische Alkoholika und DVD-Player, die ihm nach Presseberichten mehr als 2,6 Millionen Euro einbringen. Die chinesischen Sportfunktionäre befürchten, dass die Präsenz des Trainers in den Medien, sowie weiterer Spielerpersönlichkeiten des Weltfußballs wie in Spots von Nike, dem Anliegen des chinesischen Fußballverbandes schade, der das Image der Nationalelf verbessern möchte und seine eigenen Werbeeinnahmen sichern wolle.”
Ulrich Schmid (NZZ 25.5.) berichtet über die historischen Hintergründe des Fußball-Booms in China, einem von vier WM-Neulingen. „Der bescheidene, wenn auch medienerfahrene Milutinovic kann sich so optimistisch geben, weil er weiß, dass er im Grunde bereits jetzt die Erwartungen der meisten Chinesen mehr als erfüllt hat. Nach einer Serie von Beinahe-Qualifikationen ist China erstmals an einer Endrunde mit dabei, und das allein versetzt die Fans, bescheiden geworden in den 44 Jahren des Misserfolgs, in Ekstase. „Milu“, wie er seit seiner Erfolgssträhne liebevoll genannt wird («Bora» will den Chinesen – das garstige r – nicht so recht über die Lippen), ist derzeit wohl der bekannteste und vorläufig sicher auch der beliebteste Ausländer in China. Am Fernsehen ist er omnipräsent als charmanter Werber für die Produkte seiner Sponsoren und als rhetorischer Verwalter jenes fußballerischen Tiefsinns – „man weiß nie“; „wir werden unser Bestes geben“; „die andere können auch Fußball spielen“ –, von dem die Fernsehmoderatoren seit den Zeiten Sepp Herbergers nie genug bekommen können (…)Bis jetzt hat das Reich der Mitte vor allem auf die passive Methode der Öffnung gesetzt: Man hat Spieler und Trainer aus den traditionellen Fußballländern importiert, meist abgetakelte Profis des mittleren Stärkegrads, die für gutes Geld bereit waren, die letzten drei, vier Jahre ihrer Karriere in China zu verbringen. In wirtschaftlicher Hinsicht entsprach diese Taktik der Bildung von Joint Ventures und der sporadischen Herbeiziehung westlicher Manager und Buchhaltungsmethoden für chinesische Firmen. Was fehlte, war in beiden Fällen die Konkurrenz. China hat sich jahrzehntelang vom Weltmarkt abgeschottet und schützt seine maroden Staatsbetriebe noch heute mit massiven Subventionen, und die Fußballer scheuten bis vor kurzem geradezu ängstlich die internationale Konkurrenz. Im Jahre 1999 spielte China kein einziges Freundschaftsspiel (…) Daran, dass es im Sport nicht immer mit rechten Dingen zugeht, haben sie sich längst gewöhnt. Wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich Chinas ist auch im Fußball die Korruption praktisch zur Normalität geworden, und viele Fans sind überzeugt, dass schon vor Beginn der nationalen Meisterschaft feststeht, wer sie gewinnt (…)Die kapitalistische Revolution im chinesischen Fußball hat schon lange vor dem Auftritt Milutinovics begonnen. In Peking merkte man Anfang der neunziger Jahre, dass ein offeneres, marktwirtschaftlicheres System mit höheren Löhnen (und Preisen) nicht nur die einheimischen Spieler beflügelt, sondern auch ausländische Cracks noch auf ein kurzes Gnadenbrot nach China bringen kann, und entsprechend rasch wurde liberalisiert (…) Bis vor etwa 20 Jahren war Sport, ähnlich wie in der Sowjetunion, praktisch die einzige Möglichkeit, auf internationaler Ebene Größe zu demonstrieren. Zur Hebung des nationalen Prestiges wurden Unsummen an staatlichen Ressourcen aufgeworfen, Die Coaches avancierten in diesem Habitat zu wichtigen Identifikationsfiguren; sie waren es, die den Erfolg „garantierten“ (und die im Falle des Misserfolges sofort entlassen wurden). Auffallend war jedoch, dass es den Chinesen sehr viel leichter fiel, Siegertypen in Einzelsportarten – Kunstturnen, Leichtathletik, Schwimmen – zu produzieren und das die Teams, von den Fußballspielerinnen einmal abgesehen, weit weniger Erfolge einheimsten. Für ein Land, das nichts so sehr verehrt wie das Kollektiv, war das stets ein enormes Manko. Siege in Mannschaftssportarten, Fußball an erster Stelle, lassen das patriotische Herz auch in China höher schlagen.“
Martin Hägele (SZ 21.5.) über Vergangenheitsverarbeitung im chinesischen Fußball. “über die jüngere Fußball-Geschichte jenes Landes, das schon allein wegen der mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern das weltweit größte Potenzial in diesem Sport besitzt, existieren keine Bücher und nur vage Daten. Man muss sich also mit den Erzählungen von Zeitzeugen behelfen, der ehemalige chinesische Nationaltrainer Klaus Schlappner hat einmal eine solche Runde zusammengestell (…) Es wurde eine lange Geschichtsstunde. Und man hat viel Tee getrunken zu den Erzählungen. Es war spannend und doch immer wieder zäh. Vor allem an jenen Punkten, wo sie nach Erklärungen suchten, nach Ausreden fürs Fußball-Schicksal. Für den Joss. Joss ist ein chinesisches Wort und bedeutet Glück, Pech, Schicksal und noch ein bisschen mehr. Und weil fast alle chinesischen Menschen abergläubisch sind, wird dieser fatalistische Begriff bis zum Geht-nicht-mehr strapaziert (…) Um den Fluch zu besiegen, hat man Bora Milutinovic gebraucht. Den serbischen Trainer-Freak, von dem manche sagen, er sei ein Clown. Und sein Zauber beziehe sich auf WM-Turniere. Andererseits hat wohl auch der asiatische Kontinentalverband bei der Auslosung ein bisschen nachgeholfen, und Boras Leuten jegliche schwere Konkurrenz aus dem Weg gelost. China ist schließlich jener Teil des Weltmarkts, auf dem auch im Fußball-Business am meisten zu akquirieren ist.”
Wie sehr Politik und Fußball zusammenhängen, sieht man an der Fußball-Historie Chinas. Martin Hägele (Tsp 18.5.) befragte zwei ehemalige Nationalspieler – Gu und Xu: „Sie seien keine Fußballspieler, sondern Marionetten des Mao-Regimes gewesen, meint Xu. Nachdem sich der eiserne Vorhang zumindest ein Stück gehoben und China der Fifa beigetreten war, merkten Chen und bald darauf auch der junge Gu, dass die herzliche Atmosphäre bei der Aufnahme in die asiatische Fußballfamilie schnell abkühlte. Sobald es um die Qualifikation für Weltmeisterschaften oder um die Tickets zu olympischen Turnieren ging, schloss sich die alte Clique, angeführt von den reichen Arabern und Koreanern, gegen den Neuen zusammen. „Das Geld der Öl-Millionäre hat aus dem Rasen heraus gestunken“, behaupten Chen und Gu. Nur aufgrund eines Komplotts zwischen Schiedsrichtern und einflussreichen Funktionären sei ihr Team in der Qualifikation zur WM 1982 und Olympia 1984 gescheitert.“
Costa Rica
NZZ (10.6.). “Keine andere WM-Mannschaft pflegt vor ihren Auftritten ein derart ausgeprägtes Ritual wie Costa Rica. Was Minuten zuvor in der Kabine beginnen soll, findet auf dem Platz seine Fortsetzung. Am Sonntag sah das im Match gegen die Türken so aus: Während sich der Gegner nach der Halbzeit längst zum Weiterspielen formiert hatte, bildeten die elf Costaricaner einen Kreis. Die gegenseitige Motivation und der Versand von Stoßgebeten Richtung Himmel sollen Inhalt der Zusammenkunft gewesen sein – eine Spezialität des Captains und Goalies Erick Lonnis, der im Klub nach einem Gegentor die Vorderleute schon einmal zwecks flammenden Appells an die Ehre versammeln lässt.”
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