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Die Fußball-WM scheint das Bruttosozialprodukt Italiens negativ beeinflussen zu können.
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| Samstag, 27. März 2004„In Jahren mit geraden Endziffern sind immer große Geister zur Stelle, um dem großen Fußballpublikum zu erklären, wes Geistes beziehungsweise welcher Begeisterung Kind sie sind“, schreibt Richard Reich (NZZ 27.3.). Dann nämlich steht ein großes Fußballturnier bevor. Und wenn die großen Geister nicht von sich aus reden, dann muss man ihnen Fragen stellen. Über ihr Verhältnis zum Fußball gaben der ostdeutsche Schriftsteller Thomas Brussig dem Tagesspiegel und Fußballphilosoph César Luis Menotti der FAS Auskunft. Die Rede ist von Schönheit, Abenteuer, Gerechtigkeit und Reumut. Auf das Vorrunden-Match Argentinien gegen England (7.6.) darf die globale Fußballöffentlichkeit nicht nur aus sportlichen Gründen gespannt sein. Die Beziehung beider Länder ist seit dem Falkland-Krieg 1982 problematisch. In letzter Zeit verlängerte sich diese Krise auf den grünen Rasen. Ein Beteiligter der jüngeren Vergangenheit – der argentinische Internationale Diego Simeone – meldete sich nun zu Wort. Seine Anmerkungen dürften kaum dazu beitragen, die Wogen zu glätten. Außerdem: Neues von Vogts und Strunz.
Die Fußball-WM scheint das Bruttosozialprodukt Italiens negativ beeinflussen zu können. Oder „wird diese WM heimlich und eilig konsumiert werden wie ein Seitensprung?“ fragt Emilio Marrese (La Repubblica 8.5.). „Großer Verlierer der WM wird entweder das Fernsehen sein, das in Italien bisher nie weniger als 20 – 25 Millionen Zuschauer hatte, oder die Arbeitgeber. Viele Unternehmen versuchen, im voraus Schadensbegrenzung zu betreiben, um nicht während der WM mit einer Flut von Urlaubsanträgen oder Krankmeldungen konfrontiert zu werden. Pirelli zum Beispiel (7000 Beschäftigte in 17 Betrieben) wird alles tun, um den Arbeitnehmern entgegenzukommen und gleichzeitig den Arbeitsablauf und die Sicherheit nicht zu gefährden. Fernsehen soll erlaubt sein, jedenfalls dort, wo keine Unfallgefahr droht. Die Mittagspause wird verlängert, in den Kantinen werden Großbildschirme aufgestellt. Die Verantwortlichen werden versuchen, die Schichtwechsel den Spielzeiten anzupassen.“
Wolfram Eilenberger (Tsp 19.5.) vermutet in der asiatischem „Terminpolitik“ eine ökonomische Strategie der Asiaten. „Bereits in der Vorrunde lächelnd ausscheiden und gleichzeitig unsere schöne europäische Wirtschaft für einen langen Monat lahm legen. Nein, so kann, darf und muss es nicht kommen! Geguckt werden wird. Das ist nicht die Frage. Und sicher kursieren sie schon, dunkel geschätzte Zahlen, was dieser kontinentale Arbeitsausfall kosten und also Schreckliches für die Zukunft der Gemeinschaft bedeuten wird.“
Amerikanische Fußballexperten und -freunde sind rar. Der Soziologe Andrei S. Markovits ist beides. Letzte Woche hat er in Berlin sein Buch „Offside. Soccer American Exceptionalism“ vorgestellt (im Herbst auch auf deutsch). Arno Orzessek (SZ 18.5.) war dabei: „Warum haben die Amerikaner ausgerechnet die Weltsportart Nummer Eins links liegen lassen, obwohl sie sonst alles in petto haben, was Pop ist und globale Vermarktung verspricht? (…) Jede Öffentlichkeit oder jeder Kulturraum hat nur ein begrenztes Aufnahmevermögen für Sport, und die Amerikaner haben laut Markovits ihren Raum in der entscheidenden Zeit, nämlich während der Industrialisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, an die „großen dreieinhalb Sportarten“ verteilt und diese wiederum den Jahreszeiten zugeordnet: Baseball (Frühling und Sommer), Football (Herbst) und Basketball (Winter), dazu als halber Riese Eishockey (Winter). Football war vom Rugby und vom englischen Fußball geprägt, bildete aber bald eigenes Profil aus. Für Soccer war einfach kein Platz mehr.“
Ausgerechnet die Frauen-Nationalmannschaft hat in den USA eine exponierte Stellung. Ob diese in der Lage dazu ist, Soccer eine breite Öffentlichkeit zu verschaffen, fragte bei dieser Gelegenheit Robert Ide (Tsp 18.5.). „Markovits winkt ab. Frauen könnten zwar die sportliche Kultur beeinflussen (die Kür der Eiskunstläuferinnen war in Amerika der olympische Quotenrenner), doch sie werden wohl niemals willens sein, so viel Zeit in Sport und Statistik und Drama zu investieren wie Männer. Erst wenn die US-Männer in ein wichtiges Halbfinale einziehen oder in einem Endspiel heroisch scheitern, werden sie aus dem Abseits herauskommen.“
„Pünktlich zur Weltmeisterschaft entdecken Top-Designer ihre Faible für den Fußball“. Axel Botur (FAS 19.5.) hat sich die Kollektionen angesehen. „Recht subtil nimmt sich der Vorschlag von Paul Smith aus. Er ließ die Namen ehemaliger Heroen wie Pelé oder Platini in japanischen Schriftzeichen auf T-Shirts seiner aktuellen Sommerkollektion drucken. Smith entwarf zudem die komplette Reiseausstattung für das englische Nationalteam, inklusive aller Taschen. Angesichts der übermächtigen Vorrundengruppe F mit Argentinien, Schweden und Nigeria werde die Mannschaft, so prophezeien manche Briten, wohl in Schönheit sterben.“
Der DFB – traditionell in den Farben Schwarz-Weiß – hat sich bei den Ausweichtrikots für ein „dezent schimmerndes Graphit“ entschieden. Knut Hornbogen (FAS 19.5.) kann einer davon ausgehenden möglichen Signalwirkung nichts Negatives abgewinnen: „Will sich die Nationalmannschaft also verstecken und bloß nicht auffallen? Gewiss nicht. Wie die Käufer der dezent lackierten Autos betreiben auch die Fußballer das leise Spiel des Understatement. Das Team um den ergrauten Völler umgibt sich vielmehr bescheiden mit der Aura unanfechtbarer Zurückhaltung: Sein Truppe empfiehlt sich als elitäres Premiumensemble.“
Der BFC Dynamo Berlin war der Serienmeister der DDR und gleichzeitig das in großen Teilen des Volkes verhasste Hätschelkind der SED-Staatsführung. Der ostdeutsche Autor Thomas Brussig („Leben bis Männer“, „Helden wie wir“) äußert sich im Tagesspiegel (19.5.) über seine reumütige Beziehung zu seinem ehemaligen Lieblingsklub sowie über die komplizierte Dreiecksbeziehung zwischen Fußball, Liebe und Medien. „Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn ich heute sagen könnte: Ich war nie für den BFC. Aber das wäre so, wie wenn Gysi sagt, er war nie bei der Stasi. Wieso nimmt dieser Sport, der in der Zeitung einen Riesenraum einnimmt, so wenig Raum in der Literatur ein? Bei der Liebe ist es genau umgekehrt. Wenn mich Journalisten fragen: Warum gibt es so wenig Fußball in der Literatur?, kann ich genauso fragen: Warum gibt es so wenig Liebe in der Zeitung? Ich glaube, das, was ein Spiel letztlich groß macht, ist nicht das Spiel selbst, das sind die Erinnerungen an dieses Spiel.“
Der Trainer der argentinischen Weltmeistermannschaft von 1978 César Luis Menotti gilt als Fußballästhet. Der FAS (19.5.) vertraute er sich an. „Fußball muss Emotionen wecken können. Es muss eine Feier der Schönheit und des Glücks sein. Eine gute Mannschaft zeichnet das aus, was Borges über Literatur gesagt hat: Ordnung und Abenteuer. Das Wort Gerechtigkeit hat einen extrem hohen Stellenwert. Aber ich weiß nicht, ob es im Fußball seinen Platz hat. Ich kann Fußball nicht von anderen kulturellen Äußerungen trennen, denn für mich ist Fußball ein Bestandteil der Kultur, und in jeder Kultur gibt es eine Suche nach Gerechtigkeit oder einer besonderen Form von Wahrheit. Die Suche danach ist Teil des Spiels. Es gibt eine Hegemonie im Weltfußball, und die ist nur sehr schwer zu durchbrechen. Die Geschichte zeigt, dass immer eines der favorisierten großen Teams gewinnt, denn Fußball ist auch immer ein Produkt der Geschichte, der Tradition. Der Fußball spricht im Moment nur noch die Sprache des Marktes, die Sprache des Erfolgs. Wir müssen wieder die Sprache der Schönheit sprechen.“
Delikates offenbarte der argentinische Internationale Diego Simeone der englischen Tageszeitung Observer (19.5.), indem er nun zugab, die Rote Karte für David Beckham beim WM-Match 1998 absichtlich provoziert zu haben: „Ich verwickelte ihn in einen Zweikampf, und wir gingen beide zu Boden. Als ich versuchte aufzustehen, trat ihr mich von hinten. Und ich denke jeder hätte versucht, in diesem Spiel daraus Kapital zu schlagen. Wenn man nicht jede Gelegenheit nutzt, die sich einem bietet, hat man verloren. Abgesehen von der politischen Geschichte, ist es das Verlangen aller Länder, England zu schlagen. Das Spiel ist ein Klassiker. Und wir spielen es auch als Klassiker, da wir uns alle bewusst sind, wie glücklich wir unser Land mit einem Sieg machen können.“
Schottlands gebeutelter Nationaltrainer macht nach drei Niederlagen in drei Spielen einen schlaflosen Eindruck, wie Jonathan Coates ( The Scotsman 18.5.) zu berichten weiß. „Der Deutsche schaute etwas erschöpft und bestürzt drein, als er in der Lounge des dritten Hotels in nur fünf Tagen halbherzig eine Reihe von Fragen der chinesischen Presse über die Erfolgsaussichten sein Heimatlandes Deutschland, Südkorea, Frankreich und Nigeria beantwortete. Letztendlich erklärte Vogts geradezu überfordert: „Ich bin jetzt Manager von Schottland. Ich komme zwar aus Deutschland, aber ich lebe in Schottland. Ich weiß nichts über andere Spieler.“ Da Vogts seinen Posten in Kuwait freiwillig aufgab, betrachtete er Schottland wohl als eine der großen Bastionen des Fußballs. Aber nun weiß er, dass die alten Visionen, die er mit Schottland in Gedenken an Law, Baxter und Dalgish verband, ziemlich unerreichbar sind.“
Christian Eichler (FAS 19.5.) flaniert auf dem Boulevard. „Der arme Strunz muss einem leid tun. In seiner Ruhrgebietsheimat ist „strunzdumm“ ein Schimpfwort, für das der frühere Bayern-Profi wirklich nichts kann; dann legte ihn Trapattonis „Was erlaube Struuuunz“ endgültig auf die Deppenrolle fest; und jetzt auch noch Effenberg.“
„Die Brasilianer lieben melodramatische Seifenopern und ihren Fußball“, erfahren wir von Michael Ashelm (FAS 19.5.). „Der Mythos Ronaldo hatte schon bei der WM 1998 in Frankreich einen Knacks bekommen. Angetreten war der schnelle Stürmer mit dem Aufsehen errgenden Offensivdrang, das Turnier als persönliche Krönungszeremonie zu gebrauchen und den WM-Torrekord des legendären Franzosen Just Fontaine von 1958 in Schweden mit 13 Treffern zu brechen. Doch „Il Fenomeno“, wie die italienischen Medien Ronaldo nannten, brachte dieses Weltfest kein Glück. Bis heute ist nicht genau geklärt, was sich vor dem Finale gegen Frankreich in der brasilianischen Kabine des Stade de France von St. Denis abspielte. „Ronaldo ist tot?“ schrie Mitspieler Roberto Carlos ziemlich verstört, als sein Freund in der Umkleide wie zuvor im Hotel geschwächt zusammenbrach. War es Stress? War es der Druck? Oder ein epileptischer Anfall? Der Jungstar wurde von Trainer Mario Zagallo trotzdem hinausgeschickt. Den Rest würden die brasilianischen Fußballfans gerne aus ihrem Gedächtnis streichen.“
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