Ballschrank
Deutschland-Belgien 3:0
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| Freitag, 2. April 2004„unnahbarer Lehmann“ (FAZ); „humorlos, trocken, effektiv – alles wie immer“ (BLZ) – „die schreckliche Macht des Fernsehens“ (SZ): wenn Günter Netzer redet, hören alle, auch Michael Ballack zu, auch wenn Netzer immer wieder dasselbe sagt – Tschechien verliert seit langem wieder einmal – Holland und Frankreich geben sich keine Blöße u.v.m.
Wir heben jetzt nicht ab
Michael Horeni (FAZ 2.4.) hält Rudi Völlers Bescheidenheit für selbstverständlich: “Völler glaubte nach dem zweiten Sieg im zweiten Spiel des EM-Jahres sogar schon den ersten Anflug von Überschwang bremsen zu müssen – obwohl die Nationalelf nach dem 2:1 in Kroatien auch diesmal nicht mehr als ein solides Standardprogramm abgeliefert hatte. „Wir heben jetzt nicht ab“, sagte der Teamchef, „wir sehen nicht alles durch eine rosarote Brille.“ Warum auch? Eckstoß, Freistoß, Freistoß – so lautete das deutsche Standard-Erfolgsrezept, wenn der Ball ruhte. Ansonsten galt des Teamchefs Generaleinschätzung: „Bei der Europameisterschaft müssen wir aber noch einen Zahn zulegen.“ Bis dahin ist es noch eine ganze Weile, und auf den Erfolgserlebnissen von Köln hofft der Teamchef bis Portugal weiter aufbauen zu können. Kevin Kuranyi etwa kehrte mit einem lange vermißten Glücksgefühl und breitem Grinsen zurück in die torlose schwäbische Heimat. Nach exakt 1027 Minuten lieferte er wieder ein zählbares Argument für seine Daseinsberechtigung als Nationalstürmer. „Der Ball ist irgendwie reingegangen. Ich kann auch nicht genau sagen, wie“, sagte Kuranyi als Zeuge über eine Szene, in der ihm der Ball nach einem Eckstoß von Torsten Frings gegen die Hüfte prallte – und von dort ins Tor sprang. Absicht oder nicht? Die Frage wurde an diesem Abend im Zweifel für den Angeklagten entschieden, der nach seinem Torerfolg von einer „Befreiung“ sprach. Für den Teamchef, mit den Leiden eines Stürmers in der Krise bestens vertraut, war die seltene Tatsache, „daß Kevin ein Tor geschossen hat“, daher auch schon mit die wichtigste Erkenntnis eines Länderspieltests, mit dem vorab nur Sorgen und Befürchtungen verknüpft waren. Die andere erfreuliche Botschaft erhielt Völler aus der Defensive. „Wir haben hinten gut gestanden und relativ wenige Chancen zugelassen“, sagte der Teamchef zufrieden über einen Abwehrverbund, den Jens Nowotny, der Leverkusener Nationalspieler aus der Oberliga Nordrhein, zu organisieren hatte.“
Humorlos, trocken, effektiv – alles wie immer
Bernd Müllender (BLZ 2.4.) hat wenig Erfreuliches gesehen und gehört: „Es war ein Match, bei dem man sich später an keinen Spielzug wird erinnern können. Die drei Tore fielen – wieder einmal – nach Standardsituationen. Zum Pausenpfiff verpennten die Belgier zum dritten Mal tölpelhaft einen Eckball und der lange torfreie Kevin Kuranyi hatte mit dem angeschossenen linken Hüftknochen getroffen. Es war das Spiel der Seelenbefriedungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Torwart Jens Lehmann etwa: Er bekommt ein Testspiel, um kaum etwas zu tun zu haben – und keine Munition mehr zur Beschwerde. In so einem Spiel, dozierte der Interimskeeper, „hat jeder sein Erfolgserlebnis, auch diejenigen, die in ihrem Verein arbeiten müssen, um zu spielen.“ Das Publikum war erstaunlich genügsam. Ohnehin scheinen immer mehr Menschen ein Länderspiel als National-Event zu begreifen und nicht als pures Fußballmatch; die Verhübschung des ehemaligen Prollsports geht somit zügig voran. Zudem ließ die mäßige Darbietung Zeit für Huldigungsgesänge an den Kölschen FC, die ohnehin mehr Sinn machen, wenn der Dauerloser-Klub gerade nicht auf dem Platz steht. Die deutsche Elf zeigte derweil, was man von ihr kennt: Disziplin, Cleverness, Stärke bei Standardsituationen, Ballgeschiebe als Daseinszweck selbst gegen Sparringspartner wie Belgien, Mut zum Verzicht auf jedes Risiko und gezielter Verzicht auf höhere Spielkultur. Oberste Aufgabe: Emotionsvernichtung, weil das mehr dem Gegner schadet als sich selbst. Der Auftritt: humorlos, trocken, effektiv. Alles wie immer.“
Die schreckliche Macht des Fernsehens
Günter Netzer hat Michael Ballack erneut kritisiert – mit denselben Worten und denselben Sätzen, mit denen er es immer tut. Philipp Selldorf (SZ 2.4.) stöhnt: „Wie ihre Namensvettern in Kaiserslautern haben auch die belgischen „Roten Teufel“ in vergangenen Zeiten schon viel bessere Mannschaften aufs Feld geschickt, und viel mehr als störrische und gelegentlich rabiate Gegenwehr hatte diese Elf nicht zu bieten. Aber dafür darf man die Sieger nicht beschuldigen. „Wir können nicht mehr tun, als klar zu gewinnen“, bemerkte Dietmar Hamann desinteressiert. Kein Spieler wollte behaupten, dass die Belgier übermenschliche Anstrengungen herausgefordert hätten. „Was wir zu tun hatten, ham wir weggemacht“, stellte Verteidiger Christian Wörns angemessen unfeierlich fest. Dank der für den ambitionierten Torwart Jens Lehmann zwar langweiligen, für die übrigen Deutschen aber beruhigenden Reinlichkeit in der Deckung ergab sich dann, wie Hamann ergänzte, „ein recht komfortables Spiel“. Günter Netzer, dessen bohrende Kommentare diesmal eher den Charakter sturen Nörgelns hatten, blieb dennoch nicht unbeachtet. Besonders hatte es der TV-Mann wieder einmal auf Michael Ballack abgesehen, was dazu führte, dass der Münchner Mittelfeldspieler auch an diesem Abend mit schlechter Laune das Stadion verließ, indem er im Sprint an den Reportern vorbeizog. Die schreckliche Macht des Fernsehens zeigte wieder ihre Wirkung – denn Ballack hatte eine ausgesprochen gute Partie gespielt, mit einer erstaunlichen Steigerung während der zweiten Halbzeit, die in seinem 15. Länderspieltor – dem Kopfballtreffer zum 3:0 – eine fast logische Belohnung fand. Dem ehemaligen Leverkusener gewährte das naturgemäß extrem leverkusenkritische Kölner Publikum mehrfach Sonderapplaus, nicht nur, weil sich Ballack mit großer Entschlossenheit in die Arbeit stürzte, sondern weil er auch spielerisch eine Menge Produktives leistete.“
Sympathiepunkte hat der Stellvertreter nicht gewonnen
Roland Zorn (FAZ 2.4.) schaut Jens Lehmann skeptisch aufs Maul: „Vermutlich hätte er gern öfters ins Spiel eingegriffen, doch das würde Jens Lehmann nie zugeben. Lieber spielte der zweite Torwart der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, der gegen die Belgier mal wieder als erster Torwart eine Chance bekam, die Rolle des Unnahbaren auch nach dem Schlußpfiff. Da saß der Essener auf dem Podium, angeblich gern bereit, Fragen zu beantworten, und verschanzte sich vor harmloser Neugier. Als zum Beispiel jemand wissen wollte, wie es denn gewesen sei, sich neunzig Minuten nahezu beschäftigungslos die Füße vertreten zu haben, reagierte Lehmann, als hätte er es in seinem einsamen beruflichen Dasein vorzugsweise mit Ignoranten zu tun. „Das ist eine Frage der qualitativen Betrachtungsweise“, stellte er erst einmal fest, um die Distanz zwischen sich und der Ahnungslosigkeit seiner Beobachter groß genug zu markieren, ehe er sich fußballspezifisch äußerte: „Ich kriege jedes Spiel nur ein, zwei Schüsse drauf. Das ist ein gutes Zeichen für gute Qualität, gute Organisation und ein gutes Zusammenspiel in der Defensive.“ Tatsächlich forderten die Belgier bei ihrer deutlichen Niederlage den Deutschen und vor allem Lehmann keine Meisterleistung ab. (…) Sympathiepunkte in der Öffentlichkeit hat der gern mit intellektueller Allüre auftretende Stellvertreter des bulligen Machos Kahn nicht hinzugewonnen. Bei seinen manchmal unpäßlichen Zuspielen auf die Mannschaftskameraden bedachte ihn ein Teil des Kölner Publikums mit Häme und Pfiffen – dergleichen wäre Kahn nicht widerfahren. Nach Dienstende aber gerierte er sich wieder wie ein Einzelgänger, der Deutschland nur noch von fern wahrzunehmen beliebt. Daß er diesmal überall im Mittelpunkt der publizistischen Neugier gestanden habe, will Lehmann gar nicht „mitbekommen“ haben. Dafür sei das Mannschaftshotel in Bergisch Gladbach zu „abgeschieden“ gewesen. Gab es dort etwa kein Fernsehgerät, keine Zeitungen?“
Kollektiv der Verschmähten, Mühseligen und Beladenen
Matti Lieske (taz 2.4.) ächzt: “Während Lehmann mit Arsenal in allen Klubwettbewerben noch dabei und seit ewigen Zeiten ungeschlagen ist, kamen seine Teamkollegen als ein Kollektiv der Verschmähten, Mühseligen und Beladenen nach Köln. Entweder sie sitzen in ihren Vereinen auf der Bank, wie Nowotny, Bobic, Jeremies, Neuville, oder sie dürfen zwar spielen, krebsen aber in unerwünschten Tabellenregionen herum, bekommen das Gehalt gekürzt und müssen sich vorrechnen lassen, wie viele Minuten sie torlos und wie viele Rückennummern sie von der Zehn entfernt sind. In solcher Not kommt ein Länderspiel wie das gegen Belgien gerade recht. Zum Beispiel für Stürmer Kuranyi, der jedes Mal in sein breites Kevin-allein-vorm-Tor-Grinsen ausbrach, wenn er auf seinen Treffer zum 1:0 angesprochen wurde. Da war ihm nach einer Ecke der Ball plötzlich dorthin geprallt, wo andere Leute ihren Bierbauch tragen, und dann ins Tor. Flaute abgehakt, Krise bewältigt. Oder Michael Ballack. Ein Kopfball nach Freistoß zum 3:0, schon sprechen alle wieder vom torgefährlichsten Mittelfeldspieler der Welt und nicht mehr vom überschätzten Offline-Netzer. Oder Dietmar Hamann, der Rückkehrer vom schwächelnden FC Liverpool, der zum „Schlitzohr“ (Völler) avancierte, weil sein 30-m-Freistoß wundersam den Weg ins Tor fand – wenn auch unter freundlicher Mithilfe des Schiedsrichters, der dem belgischen Keeper die Sicht verdeckte. Alles bestens, könnte man meinen, wäre da nicht das Spiel selbst gewesen, das fatal – oder famos, je nach Lesart – an die Auftritte bei der WM 2002 erinnerte. Tore aus dem Nichts bzw. nach Freistößen oder Ecken, Spielkultur Fehlanzeige. Der eifrige Torsten Frings betätigte sich vorzugsweise als Spielverwirrer, Bernd Schneider gab auf der rechten Seite den Ballverschlepper, Hamann spielte eine Art zentralen Schlafwagenschaffner vor der Abwehr und Ballack verstrickte sich in unzählige Zweikämpfe, um dann jeweils einen sauberen Sicherheitspass zu spielen. Vorne gab sich Kuranyi Mühe, seinen Ruf als spielender Mittelstürmer spazieren zu tragen. Der Erkenntnisgewinn, was die Chancen bei der Europameisterschaft betrifft, hielt sich angesichts der spröden Partie gegen einen schwachen Gegner in Grenzen. „Natürlich müssen wir uns bis zur EM noch steigern“, bilanzierte der Teamchef, war aber trotzdem leidlich zufrieden. Über die spielerische Misere tröstete er sich vorerst mit einem Satz hinweg, den er direkt aus dem Sprüchearsenal der WM in Asien gekramt hatte: „Tore aus Standardsituationen zählen genauso wie die anderen Tore.““
Diese Niederlage kann uns helfen
Ronald Reng (BLZ 2.4.) erlebt die erste Niederlage der Tschechen seit 20 Spielen, 1:2 in Irland: “Tschechien, 1976 Europameister und 20 Jahre danach nochmals Finalist gegen Deutschland, aber trotzdem immer nur als Klasse 1b angesehen, findet sich vor der Euro im Juni in Portugal unter den Favoriten wieder. „Sie sind im Moment das Topteam in Europa“, sagt Frankreichs Trainer Jacques Santini. Je länger die Unbesiegbarkeit angedauert hätte, desto größer wäre der Druck geworden, desto stärker wäre die Besessenheit angeschwollen, die Serie zu halten – desto größer wäre die Gefahr geworden, sie könnten verkrampfen, wenn es in einer fulminanten Euro-Vorrundengruppe gegen Deutschland und die Niederlande ernst wird. „Klar, die Spieler leiden, weil ihre Serie hin ist“, sagte Brückner. „Aber für mich ist das schon vorbei. Es war doch eh ungeheuerlich lang. Diese Niederlage kann uns helfen.“ Diese Niederlage gegen das nicht für die Euro qualifizierte Irland wird nichts an der Einschätzung ändern, dass Tschechien ein Klasseteam ist. Sie wirft jedoch die Frage auf, ob ihr Plan B funktioniert. In Zeiten der Unbesiegbarkeit schickte Brückner praktisch immer dieselbe Elf aufs Feld, bei der Probe in Dublin jedoch fehlten mit den verletzten Rosicky, Smicer und Poborsky bis auf Nedved die Kreativen – und was die Vertreter wie Roman Tyce von 1860 München offenbarten, schaffte nicht unbedingt Vertrauen, dass Tschechien für Ausfälle gerüstet ist.“
Christoph Biermann (SZ 2.4.) berichtet das 0:0 zwischen Holland und Frankreich: „Man merkte dem Spielmacher von Werder Bremen an, wie stolz er darauf war, doch noch sein 17. Länderspiel gemacht zu haben. Er erzählte davon, wie gut ihm die drei Tage beim Team gefallen haben. „Auch auf dem Platz habe ich mich gut gefühlt und Spaß gehabt“, sagte er. Doch auch in Rotterdam blieb das Drama, dass man Micoud in seinem Nationalteam mit Zidane vergleichen muss, dem besten Spieler der Welt. Außerdem ist der Bremer auf eine Position spezialisiert, die es im französischen Team nicht gibt. Manchmal schob sich Micoud zwar auf die Position hinter den Spitzen, aber zumeist musste er auf der linken Seite arbeiten. „Zuletzt habe ich dort vor vier Jahren bei Girondins Bordeaux gespielt“, sagte er. Micoud machte das nicht schlecht, leitete auch eine der wenigen Torchancen ein, aber im unfairen Vergleich zu Zidane wurden auch seine Schwächen offenbar. Wo jener über das Feld schweift, um genau die nötige Veränderung des Spiels einzuleiten, spielte Micoud ohne die großen Überraschungsmomente. Man sah, dass es ihm an Schnelligkeit fehlt und sein Spiel fast durchgehend in einem Tempo abläuft. Trotzdem hofft er nun darauf, zumindest als Ergänzungsspieler mit nach Portugal zu kommen. „Santini und ich haben darüber gesprochen, aber ich behalte das Ergebnis für mich“, sagte Micoud. Auch ein anderer Spieler aus der Bundesliga bekam einen wichtigeren Platz in seinem Nationalteam eingeräumt als sonst üblich. Roy Makaay begann als Mittelstürmer, war 68 Minuten lang kaum zu sehen und wurde dann ausgewechselt. Auch sein Spiel passt nicht zu dem seiner Nationalmannschaft. „Wir hatten vorne keinen Anspielpunkt, an dem der Ball mal gehalten wurde“, klagte Außenstürmer Marc Overmars. Makaay war das nicht, wird das nie sein und daher auch weiterhin nur sporadisch zum Einsatz kommen. So blieb am Ende eines trüben Abends das Gefühl, dass ein wenig auch die Bundesliga verloren hatte, weil zwei ihrer Stars auf der ganz großen Bühne doch vor allem ihre Mängel hatten erkennen lassen.“
NZZ-Zusammenfassung des WM-Spieltags in Südamerika