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Wolfsburg, Verein ohne Gesicht und Kontur

Oliver Fritsch | Montag, 5. April 2004 Kommentare deaktiviert für Wolfsburg, Verein ohne Gesicht und Kontur

die Entlassung Jürgen Röbers in Wolfsburg trifft auf Verständnis der Journalisten, „er wollte wie Real Madrid spielen lassen“ (SZ); VfL Wolfsburg, Verein „ohne Kontur und Gesicht“ (FR) – Bayern Münchens „monotone Überlegenheit“ (SZ) wird auf dem Betzenberg zur Gewohnheit – „ungewohntes auf Schalke“ (FAS): ein torreicher Heimsieg – „Hans Meyer zweifelt an seiner Hertha“ (FAS); „Wiederkehr der immer gleichen Sprüche“ (FAZ) in Berlin – Mönchengladbach hat kein Glück im Volleyball – „sind die Kölner wirklich nicht mehr zu retten?“ (FAZ) – Ernst Happel lebt in Felix Magath fort (SZ) u.v.m.

VfL Wolfsburg – VfB Stuttgart 1:5, Jürgen Röber entlassen

Keine Kontur, kein Gesicht

Frank Hellmann (FR 5.4.) kann mit dem VfL Wolfsburg nicht viel anfangen: „Noch immer ist es dem Fußball-Unternehmen nicht gelungen, sich als Eigenmarke in der Liga zu positionieren. Der Club hat zwar ein schmuckes Stadion vom Konzern hingestellt bekommen, aber immer noch keine Kontur, kein Gesicht, ja für viele nicht einmal eine richtige Daseinsberechtigung im Oberhaus. Würde Wolfsburg statt Köln, Frankfurt oder Berlin in die zweite Liga absteigen, das Bedauern wäre begrenzt. Wohl sogar in der Autostadt selbst. An keinem anderen Standort würde ein 1:5 im eigenen Stadion und die Entlassung des Trainers so wenig Emotionen produzieren. Noch immer ist der VfL Wolfsburg in der Region irgendwie Randnotiz. Die Schlagzeilen gehören Hannover 96, Ereignisse beim Regionalligisten Eintracht Braunschweig erregen und polarisieren im östlichen Niedersachsen viel eher. Gewiss, der Zuschauerschnitt in Wolfsburg ist auf über 20 000 angestiegen, doch noch immer kommt der Club irgendwie als Kunstprodukt daher. Der klare Kurs fehlt. Mal wird von der Champions League geträumt, dann Stefan Effenberg geholt, schließlich in Südamerika groß eingekauft.“

Er wollte wie Real Madrid spielen lassen

Jörg Marwedel (SZ 5.4.) vermerkt die Fehler Jürgen Röbers: „Wahrscheinlich träumte Jürgen Röber davon, der berühmteste Wolfsburger nach August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zu werden. Der Lyriker dichtete einst das Lied der Deutschen (Und: „Alle Vögel sind schon da!“), was ihn quasi unsterblich machte. Röber wollte der Erste sein, der die Fußballer des VfL Wolfsburg in die Champions League führt. Das wäre als epochale Leistung gewertet worden und hätte ihn beim Volk auf eine Stufe mit den angesehensten Lenkern des Volkswagenwerkes gestellt. Dass es anders kam und er nun als achter Trainer dieser Saison den Arbeitsplatz vorzeitig räumen musste, ist freilich nicht den unerklärlichen Mächten des Fußballs zuzuschreiben, wie Röber gern Glauben macht. Man könnte es so formulieren: Er wollte wie Real Madrid spielen lassen mit seinen südamerikanischen Künstlern, hat aber vergessen, dass zum erfolgreichen Spiel auch eine solide Defensivarbeit benötigt wird. In 13 Monaten ist es ihm nicht gelungen, dem Team eine Ordnung zu vermitteln, die einen Teil der 56 Gegentore verhindert hätte, die negativer Spitzenwert der Liga sind. Am Schluss haben ihm die erfahreneren Wolfsburger Profis kaum noch zugehört, weil er keine Orientierung bieten konnte. Schon vor dem 1:5-Desaster gegen Stuttgart hatte Röber zudem die letzten Fürsprecher im Klub gegen sich aufgebracht, als er in einem Interview erklärte, er sei „mehr Profi als alle anderen im Verein“.“

Frank Hellmann (FR 5.4.) ergänzt: „Was Röber vorzuwerfen ist: Die acht Niederlagen in den jüngsten zehn Spielen sind nicht nur in der Summe Besorgnis erregend. In der derzeitigen Verfassung ist das Team nicht erstligatauglich. In der taktischen Ausrichtung erwecken die Wolfsburger den Eindruck einer Betriebsmannschaft, die sich abendlich zum sinnfreien Bolzen trifft. Das mag beim Feierabendkick auf dem VW-Gelände nicht weiter stören, in der Volkswagenarena im Bundesliga-Überlebenskampf ist derlei Verhalten verheerend. Dort traten die Angestellten der VfL Wolfsburg Fußball GmbH in einem merkwürdigen 5-0-5-System auf – in der Abwehr standen Stefan Schnoor und Co. zu tief, im Angriff mühte sich die südamerikanische Fraktion mit Ballkünstler wie Andres D‘Alessandro um innovatives Vorwärtsspiel. Das war bisweilen hübsch anzusehen, doch bei jedem Ballverlust verfällt die Offensivabteilung in Teilnahmslosigkeit. Bisweilen klafft zwischen Defensive und Offensive ein weites Feld von 20, 30 Metern, Freiraum, den konterstarke Gegner vom Kaliber VfB Stuttgart dankbar annehmen.“

Frank Heike (FAZ 5.4.) hat „ein Spiegelbild der Rückrunde (gesehen): Fünf Akteure sorgten für ansprechenden Offensivfußball, aber sie spielten nur für sich und nie mit den alleingelassenen anderen fünf Feldspielern zusammen, die die Defensive bilden. Dem VfL fehlt das Scharnier zwischen den Mannschaftsteilen: die im modernen Fußball so wichtig gewordene „Nummer sechs“. Pablo Thiam ist für diese Rolle zu phlegmatisch, Andrés D‘Alessandro zu offensiv ausgerichtet. Bei allen Fehlern der Profis muß man Röber vorwerfen, dem Team im steten Niedergang kein passendes taktisches (Not-)Gerüst verpaßt zu haben.“

1. FC Kaiserslautern – Bayern München 0:2

Roland Zorn (FAZ 5.4.) berichtet Münchner Zielstrebigkeit und Kaiserslauterer Gereiztheit: „Ottmar Hitzfeld verspürte nach dem ungefährdeten Sieg auf dem Betzenberg, wo die Bayern schon seit zehn Pflichtspielen nicht mehr verloren haben, dezente Genugtuung. Einfach vertreiben nämlich läßt sich der inzwischen bei manchem Münchner Oberen umstrittene „General“ von gestern nicht aus seinem Leitstand. Der Gentleman mit den tadellosen Umgangsformen verwies dezent auf das Eigentliche seines Berufs: „Mit der Kritik muß man leben. Aber die Arbeit macht nach wie vor Spaß, weil die Mannschaft weiter mitzieht.“ Während Hitzfeld von einem, seinem Team gern redete, scheint es gleich mit zwei Mannschaften zu tun zu haben: der Koalition der Willigen, also solchen Spielern, die „sich reinhauen“, wie der Trainer sagt, und einer kleineren Gruppe der Tagträumer, die sich der schweren Situation des Tabellenfünfzehnten nicht bewußt seien. Den verletzten Brasilianer Lincoln haben sie schon nach Haus entlassen; der Portugiese Dominguez saß, obwohl seinem Können nach bundesligatauglich, wegen unzureichender Trainingsleistungen nicht einmal auf der Ersatzbank; die drückten gleich vier Spieler, die Jaras Vorgänger Erik Gerets voller Hoffnung verpflichtet hatte: die Kameruner Tchato und Mettomo, der Finne Nurmela und der Belgier Vreven. Während also fünf international herumgekommene Fußball-Gastarbeiter zuschauten, ließ Jara die vergleichsweise unbedarften Reuter und Drescher und den nicht recht vom Fleck kommenden Halil Altintop ihr Glück versuchen. Später kam auch noch der auf der Bühne Bundesliga unbekannte Debütant Boskovic hinzu, der gegenüber den Stars aus München wie ein Hobbykicker wirkte. Jara stellte sich danach schützend vor seine überforderte erste Wahl und klagte lieber die Sitzenbleiber auf Bank und Tribüne an: „Der eine oder andere Spieler hier weiß nicht, um was es geht.“ Auch der belgische Vorgänger des Österreichers – der seinerseits die Spieler Hengen, Freund und Anfang verbannt hatte – bekam sein Fett weg: „Bei den verschiedenen Verpflichtungen hat man zuviel auf das spielerische Können und zuwenig auf den Charakter geschaut.“ Er jedenfalls werde seine Linie „durchziehen, und wer nicht mitzieht, fliegt raus“. Das hörte sich markig, aber nicht restlos überzeugend an. Absteigen kann der FCK so oder so. Die Chance, in der Liga zu bleiben, wächst indes, wenn es Jara gelingt, auch jene Spieler zu mehr Hingabe zu bewegen, die nicht immer nach Wunsch mitarbeiten. Dazu gehört leise Überzeugungskraft, und die ist am Ende wichtiger als tönende Abgrenzungsrhetorik ohne erkennbaren Zugewinn.“

Monotone Überlegenheit

Philipp Selldorf (SZ 5.4.) notiert Kaiserslauterer Uneinsichtigkeit: „Tim Wiese ist als Schüler Gerald Ehrmanns ein Urenkel der berühmten Kölner Torwartakademie und damit im Geiste Toni Schumachers erzogen worden. Auch am Samstag machte Wiese, der zu ungefähr gleichen Teilen aus panzerharter Muskelmasse und aus Haargel zu bestehen scheint, den Lehren seines Ahnherren alle Ehre. Erstens hatte er sich zum wiederholten Male als bester Spieler des 1. FC Kaiserslautern bewährt und zweitens vertrat er – wie das bei Schumacher auch häufig vorkam – hinterher eine ganz eigene, unverschämt selbstbewusste Meinung zum Geschehen, die er mit niemandem teilen musste. Nach dem Sieg des FC Bayern stellte sich Wiese also ziemlich breitbeinig vor den TV-Reporter und sagte: „Wenn der Stefan Malz nicht vom Platz geflogen wäre, dann wären die zwei Tore nicht gefallen, dann wär’s überhaupt kein Problem gewesen.“ Niemand weiß, was passiert wäre, wenn Malz wegen seiner dummen Fouls nicht nach 28 Minuten vom Feld geschickt worden wäre, aber jeder außer Wiese konnte von Anfang an sehen, dass die mit einigen Amateuren besetzte Verlegenheitself des FCK gegen den FC Bayern nur eine winzige Außenseiterchance hatte – und nach dem Platzverweis nicht mal mehr die. „Da war mir klar, wir werden fast keine Chance mehr bekommen“, sagte Trainer Kurt Jara. Abgesehen vom Besuch in Freiburg (wo sie 6:0 gewannen) hatten die Bayern in dieser Saison kein leichteres Auswärtsspiel als in Kaiserslautern, nur die Nachlässigkeit der Angreifer Santa Cruz und Pizarro verhinderte ein der monotonen Überlegenheit angemessenes Ergebnis.“

Borussia Mönchengladbach – Bayer Leverkusen 0:0

Perfekte Szene aus dem Volleyball

Rainer Seele (FAZ 5.4.) beschreibt die wichtigste Szene des Spiels: „Hans-Jörg Butt hätte nur noch ein Netz benötigt, und es wäre eine perfekte Szene aus dem Volleyball gewesen. Hochspringen, Arme heben, Ball blocken: Butt machte bei dieser Vorführung eine exzellente Figur. Weil dies aber nicht in einer Halle geschah, sondern in der Fußball-Bundesliga und noch dazu außerhalb des Terrains, in dem Torhüter nach dem Ball greifen dürfen, sorgte der Leverkusener Butt mit seiner Aktion für helle Aufregung auf dem Bökelberg. Klarer Regelverstoß! Das war die einhellige Meinung bei Borussia Mönchengladbach, doch Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer sah das anders. Man mußte ihm das auch zugestehen, da von seiner Warte aus – mitten auf dem Feld – kaum zu erkennen war, ob Butt bei seinem Abwehrversuch nach einem Heber von Arie van Lent den Strafraum verlassen hatte. Kinhöfer also, der auch von seinem Assistenten an der Seite keinen entsprechenden Hinweis erhalten hatte, zog Butt in dem heikelsten Augenblick beim 0:0 zwischen der Borussia und Bayer 04 Leverkusen nicht zur Rechenschaft, womit er sich natürlich den Zorn der Gladbacher einhandelte. Mit seinen Händen, das belegten die Fernsehaufnahmen, befand sich der Tormann Butt tatsächlich auf „verbotenem Gebiet“; er hätte deshalb des Feldes verwiesen werden müssen.“

Hand ist Hand, Stand egal, Herkunft auch. Fußball ist wie Golf

Bernd Müllender (taz 5.4.) erlebt Nachholbedarf in Regelkunde: „Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser musste beim Regelwerk passen: „Ich habe keine Ahnung. Wo steht, wie der Strafraum definiert ist?“ Jürgen Kohler: „Ich weiß es auch nicht, wirklich.“ Kurt Vossen sah es als „Frage der Logik“, dass „der Strafraum senkrecht hoch verläuft“. Aber wo das steht? Schulterzucken. Kühn geriet die Spekulation von Reiner Calmund. „Normalerweise ist Hand Hand“, befand der Kugelrundmanager, indes sei es „schon etwas irritierend, weil ja der Halbkreis um den Strafraum ins Spiel kommt.“ Den dürfe der Torwart „beim Abschlag ja auch betreten“. Eine verschwurbelt falsche Ansicht, aber entschuldbar, weil Calmund wegen eigener Körperformen womöglich überall irritierende Rundungen sieht. Es wurden Vergleiche mit Volleyball angestellt und auch mit Golf, wo genau festgeschrieben ist: (Aus-)Grenzen verlaufen stets senkrecht nach oben. Aber ist das beim Fußball auch so? Wäre es womöglich kein elfmeterwürdiges Handspiel, wenn ein Verteidiger von außerhalb in den 16-Meter-Raumes hineinhechtet oder wenn er hinter dem Torpfosten steht und einen Schuss auf der Linie abwehrt? Wäre der Strafraum dann virtuell geschrumpft? „Kannochnichsein“ rheinländerte Calmund. Und war er im Fall Butt schräg erweitert? Torhüter müssen beim Elfmeter zwar auf der Linie stehen, aber sie dürfen davor mit den Händen herumwedeln. Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer brachte die Debatte auf Linie: Hand ist Hand, Stand egal, Herkunft auch. Fußball ist wie Golf. Es hätte Freistoß und Rot geben müssen. Der Fehler tat ihm Leid. So durfte sich der nach Europa zurückstrebende Ex-Finalist der Champions League über Regelnachhilfe freuen. Und über einiges Glück. Und die leidenschaftlich fightende Borussia wird das Volleyballspiel endgültig verteufeln. Denn erst missinterpretierte vor knapp drei Wochen der Schiedsrichter im Aachener Pokalhalbfinale einen Alemannia-Abwehr-Schmetterball grob falsch, jetzt folgte der ungeahndete Übergriff. Egal, sagt Holger Fach, „auch der eine Punkt kann uns noch helfen. Ich bin hundert Prozent sicher, dass wir die Klasse halten.“ Aber nur, wenn die Gegner endlich das Volleyballspiel unterlassen.“

Christoph Biermann (SZ 5.4.) protokolliert die Gladbacher Torwartfrage: „“Ein für die Zuschauer ganz lustiges Spiel“, hatte Torhüter Jörg Stiel gesehen, der aber nach seiner Rückkehr in die Mannschaft sowieso äußerst guter Dinge war. „Ich freue mich, dass ich wieder im Tor stehen darf, Hurra“, rief er. Das sollte selbstironisch klingen, war aber ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Im Laufe der vergangenen Woche hatte Gladbachs Schweizer Torwart von seinem Nationaltrainer Köbi Kuhn derart fragwürdigen Rückenwind bekommen, dass er kaum mit einer Rückversetzung von der Bank hätte rechnen können. Kuhn hatte Gladbachs Trainer Fach in der Schweizer Boulevardzeitung Blick ein „Arschloch“ genannt und ihm Vetternwirtschaft unterstellt, weil er Claus Reitmaier für Stiel spielen ließ. Nun sah Reitmaier in den letzten Wochen wiederholt unglücklich aus, aber Kuhns Äußerungen hätten den Trotz von Fach wecken können. Doch nachdem Stiel in der vergangenen Woche beim Länderspiel in Griechenland eine gute Leistung gezeigt hatte und einen Elfmeter hielt, brach Gladbachs Trainer das fünfwöchige Experiment mit Reitmaier ab und stellte wieder die alte Nummer Eins ins Tor.“

1860 München – Hannover 96 0:2

Ein Tag, an dem die Sätze viel schöner waren als das Spiel

Sehr lesenswert! Christian Zaschke (SZ 5.4.) erfasst das Grausen: „Der Fußball vollbringt bisweilen Unglaubliches. Er versetzt vernunftbegabte Menschen in Raserei, er verwandelt Betonschüsseln in Orte eines gewaltigen Karnevals, in so genannte Hexenkessel, in welchen Zehntausende beseelt den Männern auf dem Rasen zusehen, wie sie den Ball in einer Weise passen und behandeln, dass das Spiel über sich hinauszeigt, manchmal sogar aufs Glück. Der Weg in diese Höhen ist weit, und der Preis für die schiere Existenz dieses fantastischen Fußballs ist sein Gegenteil. Denn die Summe aller Fußballspiele ergibt einen durchschnittlichen Kick, deshalb muss es für jedes Spiel von ganz oben eines von ganz unten geben. 26 700 Menschen hatten am Samstag das Pech, dabei zu sein bei einem Spiel von unten. Es stehen im Floskelreich des Fußballs viele Wendungen bereit, um ein solches Spiel zu beschreiben, gern genommen etwa der „Grottenkick“ (eng verwandt: das „unterirdische Spiel“). Der schlichte „Anti-Fußball“ steigt ab bis zum „Gurkenspiel“, von wo es nicht mehr weit ist bis zum „Altherrenfußball“. Dieser erreicht seine vollkommene Form, wenn abfällig von einem „Spiel der Uwe-Seeler-Traditionself“ die Rede ist. All dies mag Hannovers Trainer Ewald Lienen gemeint haben, als er sagte: „Das sah ja nicht sehr attraktiv aus, wie der Ball so über mich hinweg geflogen ist und die Mittelfeldspieler fast eine Halsentzündung bekommen hätten. Im britischen Fußball nennt man diese Spielweise Kick&Rush, wobei auf der Insel dem Treten des Balles (kick) normalerweise ein überaus eifriges Rennen (rush) folgt. Am Samstag beschränkten sich beide Teams in München aufs Treten des Balles, das eifrige Rennen ließen sie – vielleicht aus taktischen Gründen oder einfach so – an diesem lauen Frühlingsnachmittag weg. Nichts deutete darauf hin, dass irgendwann ein Tor fallen könnte. (…) Damit wäre die Geschichte des Spiels erzählt, wenn nicht Brdaric später noch für einen der besten Witze der Saison gesorgt hätte. Kurz vor Schluss der Begegnung hatte Rodrigo Costa den Hannoveraner am Hals berührt, es mag der Versuch absichtlichen Nachschlagens gewesen sein. Brdaric sank zu Boden, als sei er von zwei Blitzen getroffen worden, habe zudem einen Hammerschlag auf den Kopf bekommen und sei mit der Drohung konfrontiert worden, künftig täglich sein eigenes Lied („Die wilde 13″) hören zu müssen. Bei anderen Spielern hätten die Zuschauer in diesem Moment ans Schlimmste denken müssen, aber es war ja Brdaric, der wenige Sekunden später wieder topfit auf den Rasen stand, und der nach der Partie verkündete: „Ich bin kein Spieler, der sich theatralisch fallen lässt.“ Wenige Profis in der Bundesliga haben einen derart feinen Sinn fürs Groteske. Der Satz „Russland ist ein Zwergenstaat, der hervorragenden Käse produziert“ ist nur halb so absurd wie Brdaric“ Bemerkung. Er legte noch nach: „Ich gehe ja nicht einfach zu Boden, weil mich eine Fliege gestochen hat.“ An diesem Tag, an dem die Sätze so viel schöner waren als das Spiel, fügte 1860-Trainer Falko Götz noch an: „Alle haben für uns gespielt, nur wir haben nicht für uns gespielt.“ Was den Sechzigern vor allem fehlt zum Spielen ist ein Spielmacher. Niemand in der Mannschaft ist in der Lage, eine Partie zu gestalten, weshalb der TSV sich auswärts leichter tut als daheim. Von den letzten acht Heimspielen gewannen die Münchner eines. „Unser Problem ist die Kreativität“, sagte Götz. Er könnte auch sagen: „Unser Problem ist der Fußball“, wiewohl Hannovers Sportdirektor Ricardo Moar wusste, dass es darum längst nicht mehr geht: „Fußball ist zur Zeit sekundär, es geht nur ums Überleben.“ Der große und schöne Fußball wird auch solche Sätze überleben. Und vor allen Dingen solche Spiele.“

Marc Beyer (FAZ 5.4.) schildert Ewald Lienens Erleichterung: „Am Samstagnachmittag um kurz vor fünf hielt Ewald Lienen nichts mehr auf den Beinen. Die ersten 74 Minuten des Spiels seiner Mannschaft Hannover 96 beim TSV München 1860 hatte er fast ausschließlich im Stehen begleitet, doch als der 2:0-Siegtreffer der Gäste durch Brdaric gefallen war, wurde es endlich Zeit für einen Sitzplatz. Auf der Bank der Niedersachsen breitete sich eine Gelassenheit aus, wie man sie in letzter Zeit selten erlebt hat. Beim Trainer nicht und schon gar nicht bei 96. Viel später, als der Sieg schon eine Weile feststand, hatte Lienen mehr Sitzfleisch. Seinen Stuhl im Pressesaal schien er kaum räumen zu wollen, so glücklich war er, „daß wir hier drei Punkte bekommen durften“. Allein diese Szene – ein einsamer, zufriedener Lienen auf einem großen Podium – sprach Bände. Der Münchner Kollege Falko Götz hatte die Veranstaltung längst verlassen. Nicht ohne sich beim Publikum für seine Spieler entschuldigt zu haben. Der Sieg, für Lienen der erste mit 96, für seine Mannschaft der erste seit dem 18. Spieltag, ist wie die Bestätigung einer abgedroschenen These: Irgendwann zahlt sich Arbeit aus. Zum ersten Mal seit November blieb die oft wacklige Abwehr, die von dem neuen Trainer spürbar stabilisiert wurde, ohne Gegentor. Daß der Auftritt im Olympiastadion dennoch Hannovers mit Abstand dürftigster unter Lienen war, tat nichts zur Sache. Im Gegenteil, er machte den Erfolg nur süßer.“

1. FC Köln – Eintracht Frankfurt 2:0

Ralf Weitbrecht (FAZ 5.4.) beleuchtet die Perspektiven beider Teams: „Diese Kölner sind nicht mehr zu retten. Sind sie es wirklich nicht mehr? Unbestritten: Dank der beiden Treffer von Ingo Hertzsch (Eigentor) und Lukas Podolski haben es die Kölner bislang auf zwanzig Punkte gebracht, liegen also immer noch acht Zähler von einem Nichtabstiegsplatz entfernt. Das ist viel, sehr viel sogar bei nur noch sieben ausstehenden Saisonspielen. Doch die Rheinländer, vor der Partie des ganz auf Defensive ausgerichteten Frankfurter Trainers Willi Reimann als „Frohnaturen“ bezeichnet, verspüren wieder Aufwind. „Ich rede nicht von der zweiten Liga, solange wir noch eine Chance haben, in der Bundesliga zu bleiben“, sagte der designierte FC-Präsident Wolfgang Overath. Der ehemalige Chefstratege als Muntermacher? (…) Vor knapp einem Jahr hatte Reimann in Frankfurt Wundersames vollbracht, glückte ihm mit der Eintracht doch der nicht für möglich gehaltene Aufstieg. Von dieser Begeisterung freilich ist in Frankfurt nichts mehr zu spüren. Dafür aber nehmen sie in Köln das Wort wieder in den Mund. „Wenn wir jetzt eine kleine Serie hinlegen, können wir ein kleines Wunder schaffen“, sagte Torwart Stefan Wessels. Das Wunder des Klassenverbleibs, bis zum 22. Mai möglich gemacht durch die Mithilfe vieler Nobodys? Gut vorstellbar, daß man sich Namen wie Giovanni Federico und Michael Niedrig merken muß, gehören sie doch seit der Suspendierung der beiden Stars Lottner und Heinrich zu den neuen hoffnungsvollen Bausteinen einer Kölner Mannschaft, die es am Samstag im Durchschnitt auf nur 24 Jahre brachte. Jugend gegen Alter, selten wurde der Generationenunterschied so deutlich wie beim 2:0, als der 18 Jahre Podolski dem 35 Jahre alten Eintracht-Urgestein Uwe Bindewald, noch immer einer der schnellsten Frankfurter, leichtfüßig davonsprintete und den 45500 Zuschauern eine Kostprobe seines Könnens zeigte. Selbst wenn das erhoffte Klassenziel Klassenverbleib doch nicht mehr erreicht werden sollte: Die Kölner Frohnaturen haben sich mit einer couragierten Vorstellung neue Sympathien bei ihrem Anhang erworben. Die Eintracht aber hat jetzt schon zum dritten Mal in Folge bitter enttäuscht.“

Erik Eggers (taz 5.4.): „Angesichts der Euphorie trat ein Eklat in den Hintergrund, der sonst nicht nur den Boulevard schwer beschäftigt hätte: Der Fall Dirk Lottner. Trainer Koller hatte den von Fans verehrten Kapitän am Freitag zur Überraschung aus dem Kader gestrichen, wie auch Jörg Heinrich. Beide hatten, so die Begründung, nicht mit letztem Einsatz trainiert, ein für Lottner „absolut lächerlicher“ Vorwurf, gegen den er sich in einem Interview heftig zur Wehr setzte. „Hier wurde doch monatelang nicht auf Trainingsleistung geachtet. Im Gegenteil. Hier sind Spieler am Tag vor einem Spiel mit einer Alkoholfahne zum Training gekommen“, sagte er am Samstag im Balkenblatt Express und fügte säuerlich hinzu: „So hat mich selbst Ewald Lienen nicht behandelt.““

Wenn man verliert, dauert eine Rückfahrt viel länger

Michael Horeni (FAZ 5.4.) beschreibt seltsame Frankfurter Methoden des Teambuildings: „Die Entdeckung der Langsamkeit bringt auch Nostalgiker nicht immer voran. Am Samstag machte sich eine illustre Frankfurter Reisegesellschaft ausnahmsweise mal auf äußerst eingefahrenen, ansonsten jedoch meist verschmähten Gleisen auf zum Auswärtsspiel beim 1. FC Köln. Vorstand, Alt-Internationale und ehemalige Meister wie Wolfgang Solz, Dieter Lindner, Josef Weilbächer und Ralf Weber, ein verletzter Kapitän Jens Keller, zahlreiche Sponsoren und was sonst noch zum auserwählten Anhängertroß eines Fußball-Bundesligaunternehmens zählt, nahmen schon morgens um zehn Uhr im legendären Weltmeisterzug von 1954 Platz. Diesmal kam es dieser notorisch auf Tempo abonnierten Klientel nicht auf Höchstgeschwindigkeit an, und anstatt auf dem schnellsten Weg mit dem ICE die Strecke in 70 Minuten hinter sich zu bringen, dauerte die Fahrt am idyllischen rechtsrheinischen Ufer über drei Stunden. Genug Zeit im Schatten von Sepp Herberger, Fritz Walter & Co also, um die Erinnerungen an die gute alte deutsche Fußball-Zeit aufleben zu lassen, dabei Geschäftliches zu besprechen – und auch die aktuell krisenhafte Lage der Frankfurter Eintracht ausführlich zu diskutieren. Im VT 08, dem sorgfältig restaurierten Nostalgiezug, der in Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“ seine Renaissance erlebte, durften auch historische Parallelen gezogen werden. Heribert Bruchhagen, der Vorstandsvorsitzende des Klubs, indes schien die schlechten sportlichen Nachrichten, die am Nachmittag beim 0:2 gegen den Tabellenletzten auf die Eintracht noch zukommen sollten, schon auf der Hinfahrt geahnt zu haben. In seiner sachlichen und realistischen Betrachtungsweise sagte er der Frankfurter Reisegesellschaft en passant voraus, worauf sie sich für die Rückfahrt und die kommende Saison vorsorglich einstellen solle. „Wenn man verliert“, sagte Bruchhagen bei allen anderen netten und zuversichtlichen Worten, „dauert eine Rückfahrt viel länger“.“

Hertha BSC Berlin – Hansa Rostock 1:1

Wiederkehr der immer gleichen Sprüche

Und wöchentlich grüßt Hertha BSC Berlin Christian Ewers (FAZ 5.4.): „Bei den Fernsehübertragungen von Spielen des Bundesligaklubs Hertha BSC Berlin tut sich ein erhebliches Einsparpotential auf. Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender brauchen nämlich keine Tonaufnahmen mehr im Olympiastadion zu machen. Es genügt, ein paar Kameras aufzustellen – Wortbeiträge zu den Partien können ohne Aktualitätsverlust aus dem Archiv geholt werden. In Berlin wird ja seit Wochen doch immer dasselbe erzählt. Da gibt es den Manager Dieter Hoeneß, der stets „eine deutliche Reaktion der Mannschaft“ erwartet; da gibt es den Trainer Hans Meyer, der beklagt, man habe „zu wenig Fußball gespielt“; und da gibt es den Kapitän Arne Friedrich, der in verläßlicher Regelmäßigkeit feststellt, daß „wir alles versucht haben und am Schluß wieder die Deppen sind“. So ist es auch an diesem Samstag gewesen. (…) Hertha hatte wie schon oft in dieser Saison eine Führung aus der Hand gegeben. „Dieses 1:1 ist eine Niederlage für mich“, sagte Andreas Neuendorf, „wir wollten unsere Führung ausbauen, haben aber vergessen, hinten die Null zu halten. Jetzt müssen wir gegen Wolfsburg drei Punkte holen.“ Auch dies ist eine beliebte Berliner Redensart: Die Versäumnisse der Gegenwart in der nahen Zukunft wettmachen zu wollen, das hört man schon seit dem Herbst von den Herthanern. Gebracht hat es nichts. Nur die Tonmeister der Fernsehanstalten dürften sich über die Wiederkehr der immer gleichen Sprüche freuen. Ihre sperrigen Mikrofonangeln können sie nämlich getrost zu Hause lassen.“

Dahingegen hat Javier Cáceres (SZ 5.4.) neues vernommen: „War“s nur ein Verhaspler? Und wenn ja: wie viel Freud hatte sich in die Worte des Managers Dieter Hoeneß gemischt? Als er sich im Presseraum von seinem Stuhl in der ersten Reihe erhoben hatte, kaum da das Lachen über Trainer Hans Meyers letzte, ironisch-verblüffte Bemerkung erstorben war („22:19 Fouls! Sie haben recht! Wir haben weit mehr zugetreten als die Rostocker!“), da also raunte Hoeneß den Journalisten einen Satz zu, der zumindest in seiner Grundfarbe nach anfliegender Resignation klang: „Auch wenn“s schwer fällt“, sagte Hoeneß, „wir müssen weiter daran glauben – und kämpfen.“ Wer auch sollte es ihm verdenken? Hertha BSC Berlin hatte gegen den FC Hansa Rostock ein Unentschieden erzielt, sowohl Der Tagesspiegel („1:1 verloren“) als auch das Konkurrenzblatt Berliner Morgenpost („Hertha verliert 1:1″) wussten dies in ihren Sonntagsausgaben als Niederlage zu vermelden. Denn Hertha BSC bleibt Tabellenvorletzter und muss allerhand trübsalverheißende Fakten heranziehen. Zum Beispiel: dass der Abstand auf einen Nichtabstiegsplatz um einen Punkt angewachsen ist; dass die Mannschaft es zum dritten Mal in fünf Spielen hintereinander nicht vermochte, eine 1:0-Führung über die Zeit zu retten (wahlweise auszubauen); oder dass sie die schlechteste Heimbilanz aller Bundesligisten aufweist (zwölf Spiele, 13 Punkte). Weshalb sich Herthas Anhang allmählich auf ein neues Ostderby einstellen muss – gegen Erzgebirge Aue. Wo man sich doch gerade an die Rostocker gewöhnt hatte: der FC Hansa hatte ziemlich exakt seit dem Pleistozän keinen Punkt mehr in Berlin gewonnen. Dass es auch dieses Mal bei nur einem Punkt blieb und nicht zu einem Sieg reichte, ist womöglich auf über Jahre hinweg eingekrustete Komplexe zurückzuführen. Jedenfalls kam der FC Hansa selbst trotz der misslich zu nennenden Lage Herthas eher angeschlottert denn angereist: „Wir haben gewusst, dass wir auf einen starken Gegner treffen“, sagte Trainer Juri Schlünz. Sogar Kollege Meyer hob angesichts dieser Auskunft die Brauen und lugte frappiert über den oberen Rand seiner halben Brille. Doch Schlünz zwinkerte nicht.“

Schalke 04 – Hamburger SV 4:1

Fußballerischer Generationenvertrag

Ulrich Hartmann (SZ 5.4.) teilt Schalker Auffrischung mit: „Das Schalke-Musical geht ungefähr so: Der Verein steckt in Schwierigkeiten, ein lokalpatriotischer Nachwuchsfußballer kommt ins Team, spielt wie ein junger Gott – und alles wird gut. Das Ganze ist kein Witz. Das eigens komponierte Singstück mit dem Titel „Nullvier“ wird ab Ende Mai im Gelsenkirchener Musiktheater uraufgeführt. Im Jubeljahr seines 100-jährigen Bestehens dokumentiert Schalke 04 souverän die Bandbreite des Feuilletons. Und nun zum Sport. Die jüngsten Schalker Inszenierungen gingen ungefähr so: Der Verein steckt in Schwierigkeiten, lokalpatriotische Nachwuchsfußballer kommen ins Team, spielen wie die jungen Götter – und alles wird gut. Auch das ist kein Witz. Einige in das routinierte Ensemble integrierte Nachwuchskräfte sorgen auf Schalke dieser Tage für die Wiederaufnahme früherer Erfolgsinszenierungen, und mit dem 4:1 bekommen die Schalker Träume von der Rückkehr auf Europas Bühne eine neue Qualität. Was dem Publikum und den Rezensenten der Fachpresse dabei besonders gut gefällt, ist der Umstand, dass die Protagonisten dieses jüngsten Schalker Publikumserfolgs die bislang unbekannten Fußballer Michael Delura, 18, Christopher Heimeroth, 22, und Fabian Lamotte, 21, waren. Der Letztere tanzte über die Fußballbühne von Gelsenkirchen-Buer wie ein Travolta durchs Marionettentheater und kam allein in der ersten Halbzeit seines vierten Bundesligaspiels auf folgende beeindruckende Bilanz: Ein Tor vorbereitet nach einem 60-Meter-Solo, ein Tor selbst geschossen und einen Foulelfmeter verursacht. Das ist von der Ereignisdichte wie Wagners „Ring“ in fünf Minuten und sorgte beim Mimen Lamotte wie auch beim Regisseur Jupp Heynckes für freudige Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet die jungen, unerfahrenen und kostengünstigen Spieler dem Verein sportliche Erfolge bescheren, die er zur Qualifikation für den Europapokal sowie zur damit einhergehenden Deckung seines gewaltigen Gehaltsetats gut gebrauchen kann. Ein fußballerischer Generationenvertrag. Die Jungen versorgen die Alten mit. In der Schalker Startelf standen am Samstag sieben Fußballer über 30 Jahre und vier unter 22. Da hat der Trainer Heynckes gewissermaßen eine juvenile Spielgruppe ins Seniorenheim integriert – und das ganze funktionierte auch noch.“

Allgemein

So einfach sollten es sich Trainer mit ihrer Analyse nicht machen

Peter Penders (FAZ 5.4.) stößt sich an der „Charakterfrage“: „Irgendwie erstaunlich, daß Fußball auch schon funktionierte, als diese Charakterfrage noch nicht gestellt wurde, sondern ganz simpel nur voller Einsatz für die gemeinsame Sache verlangt war. Wissen Trainer eigentlich immer, was sie da so reden? Charakter ist beim Individuum die Gesamtheit der geistig-seelischen Eigenarten des Menschen, in der Gruppe die Gesamtheit der eigentümlichen Merkmale und Wesenszüge. Beides ändert sich nicht über Nacht, schon gar nicht von Spieltag zu Spieltag. Einmal also zeigen sie Charakter, rennen das Spielfeld hoch und runter, grätschen, was das Zeug hält, spucken Gift und Galle und gewinnen; dafür aber lassen sie sich bei nächster Gelegenheit wieder hängen, kämpfen nicht gegen die Niederlage an, zeigen also wieder keinen Charakter? So einfach sollten es sich Trainer mit ihrer Analyse nicht machen, tun es aber gerade jetzt gerne, weil es auch schön ablenkt. So schnell aber kann niemand seinen Charakter wechseln, höchstens seine Motivation. Aber ist dafür nicht auch ein Trainer zuständig? (…) In Köln wurde Kapitän Lottner vor der Partie gegen Eintracht Frankfurt auf die Tribüne verbannt. Ausgerechnet dem Kölner Urgestein Lottner soll das Schicksal seines FC egal sein? Schwer vorstellbar. Ganz anders ist dagegen die Situation beim 1. FC Kaiserslautern, der es offenbar geschafft hat, so viele charakterlose Gesellen wie nur irgend möglich in den vergangenen Jahren auf dem Transfermarkt einzusammeln. Drei Spieler haben sie in der Pfalz mit Hengen, Freund und Anfang schon in der Winterpause aussortiert, dazu den Brasilianer Lincoln wenig später nach Südamerika zurückgeschickt. Vier weitere Profis setzte Trainer Kurt Jara nun gegen die Bayern auf die Bank, versuchte es mit einigen Vertragsamateuren und kündigte an, seine harte Linie weiter durchzuziehen. Der Profikader der Pfälzer ist so innerhalb von ein paar Monaten um acht hochbezahlte und vermutlich durchaus qualifizierte Mitarbeiter dezimiert worden. Da drängt sich die Frage auf, ob die Ursachen dieser Probleme tatsächlich nur innerhalb der Mannschaft zu suchen sind. Die Charakterfrage zu stellen mag modern sein, populistisch ist sie in jedem Fall.“

Er hat sich einen lapidaren Tonfall angewöhnt

Ernst Happel lebt weiter – in Felix Magath, meint Christian Zaschke (SZ 5.4.): „Ernst Happel war Anfang der Achtziger beim Hamburger SV ein Trainer, der seine Profis dann und wann solange durch den Wald scheuchte, bis sie kotzen mussten. Meistens tat er das, weil er schlechte Laune hatte, was oft daran lag, dass er in der Nacht im Casino ordentlich verloren hatte (Vorlieben: Roulette, Poker). Happel wechselte aus, wie er wollte. Franz Beckenbauer – ob als Teamchef der Nationalmannschaft oder als Coach des FC Bayern – hat seine Spieler so oft Rumpelfußballer genannt, dass sie manches Mal auf ihren Zimmern still geweint haben mögen. Bochums Peter Neururer hat kürzlich seinen Abwehrspieler Eduardo Gonçalves, genannt „Edu“, eingewechselt und wenige Minuten später ausgewechselt, was er mit Kommunikationsproblemen erklärte. Eine besondere Demütigung im Fußball, und Edu weinte öffentlich. Sucht man jedoch nach einem Trainer, der all diese Mittel der Spielerführung benutzt, so landet man bei dem Mann, den der Bremer Stürmer Ailton Gonçalves da Silva einst mit den Worten beschrieb: „Magath nix gut.“ Felix Magath, Trainer des VfB Stuttgart, der einst unter Happel beim HSV spielte. Nix gut? Lange führte er den Titel „Quälix“, weil er seine Spieler laufen ließ bis zum Letzten. Magath setzte Ailton zu seiner Zeit in Bremen auf die Tribüne und bot ihn zum Verkauf an. Am Samstag nun nahm er den Stürmer Marco Streller nach 28 Minuten vom Platz, obwohl dieser gerade ein Tor erzielt hatte. Er sei mit der Leistung des Stürmers nicht zufrieden gewesen, sagte Magath. Er hat sich einen lapidaren Tonfall angewöhnt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn er demnächst einen leichten österreichischen Akzent entwickelt. Über eine eventuelle Zuneigung Magaths zum Glücksspiel ist noch nichts bekannt.“

Europas Fußball am Wochenende: Ergebnisse – Tabellen – Torschützen NZZ

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