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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Vermischtes

Oliver Fritsch | Mittwoch, 7. April 2004 Kommentare deaktiviert für Vermischtes

„Arsenal-Blues im Highbury“ (NZZ) – Kakà , brasilianischer Jung-Star des AC Milan – Erik Gerets im Konflikt? Ist er noch mit Teilen seines Körpers und seines Geistes ein Lauterer? – Heiko Herrlich beendet seine Karriere und findet inneren Frieden – Holger Obermanns erfolgreiche Mission in Afghanistan u.v.m.

Die NZZ (7.4.) schildert den Sieg Chelseas gegen Arsenal: „Englands Fussballwelt ist im Aufruhr: David Beckhams (angebliche) Freundin sei bisexuell, verkündete „The Sun“ in grossen Buchstaben und lieferte die erdrückenden Beweise auf einer Doppelseite. Doch es gibt auch eine sportliche Wahrheit. Und die wurde am Dienstagabend auf den Kopf gestellt. Arsenal, der stolze Leader der Premier League, erlitt im bisher wichtigsten Spiel der Saison die bitterste Niederlage. (…) Zuletzt hatte das Selbstvertrauen des Leaders aber Schaden genommen. Die 0:1-Niederlage im FA-Cup-Halbfinal gegen Manchester United bedeutete am vergangenen Samstag einen schweren Dämpfer für das Team. Offensichtlich hatte das Negativerlebnis der Mannschaft mehr zugesetzt, als das einige im Lager der Rotweissen wahrhaben wollten. Zum zweiten Mal innert dreier Tage mussten die „Gunners“ zur Kenntnis nehmen, dass in den entscheidenden Tagen der Saison ein raueres Klima herrscht und dass technisch versierter Fussball allein kein verlässliches Erfolgsrezept mehr ist. Gegen Chelsea befanden sie sich vorerst zwar fast ständig in der Vorwärtsbewegung, doch nur selten erhielten sie die Möglichkeit, ihr schnelles, in die Tiefe gerichtetes Angriffsspiel aufzuziehen.“

NZZ-Bericht AS Monaco-Real Madrid (3:1)
morgen und übermorgen mehr über das Viertelfinale der Champions League

attacco, attacco, attacco

Birgit Schönau (SZ 7.4.) porträtiert Kakà, AC Mailand: „In seinen ersten freien Tagen hat er Venedig besucht und Rom, typische Grand Tour, nicht nur für Brasilianer. Ein paar Kirchen, ein paar Museen. Er ist tief religiös, belesen, er hat Abitur und trägt eine Nickelbrille außerhalb des Spielfelds. Vater Ingenieur, Mutter Lehrerin in São Paolo: ein bürgerlicher Fußballer. Eine weiße Fliege nennen sie so einen in Italien, eher einzigartig als selten, fügen sie hinzu. Sicher, über seinen Spitznamen Kakà regnete es anfangs Hohn und Spott, haha, jetzt hat Milan auch noch so einen kleinen Kacker. Dann haben sie Ricardo Izecson Dos Santos Leite spielen sehen, und wer kein Milan-Fan war, dem ist das Lachen im Hals stecken geblieben. Ein Phänomen. Ein Fußballwunder. Eine Offenbarung in einer Liga, die früher die Millionen zum Fenster herauswarf, egal ob für Weltstars oder Gurken ohne Zukunft, und die sich heute in erster Linie darum kümmern muss, die drohende Pleite zu umdribbeln. Schon fast egal, wer derweil auf dem Platz den Ball tritt, Hauptsache, man schafft rein finanziell noch die nächste Runde. Als Kakà im vergangenen Sommer in Mailand ankam, für 8,5 Millionen Dollar vom FC São Paulo, da galt er als Talent. Und basta. Für Milan spielten Cafù und Rivaldo, und er selbst durfte sich ja nur Weltmeister nennen, weil er 18 Minuten bei Brasilien-Costa Rica vorweisen konnte. Nicht schlecht für einen 21-Jährigen, aber der AC Mailand ist andere Kaliber gewohnt. Also erstmal auf die Bank. Bis zur ersten Einwechslung. Den ersten Dribblings, zentimetergenauen Pässen, dem ersten Tor. Da spielte ein 1,83 m großer Brasilianer europäischen Fußball mit südamerikanischem Tempo, kontrollierte mit erstaunlicher Umsicht das Mittelfeld, pflügte kraftvoll nach vorn – und sah dabei immer mühelos elegant aus. Ein Spektakel, der Junge, und genau das wollen sie ja vor allem bei Milan, dessen Präsident Berlusconi auf dem Spielfeld das vorschreibt, was er als Regierungschef nicht immer durchsetzen kann: attacco, attacco, attacco. Kakàs Trainer Carlo Ancelotti, sonst ein Muster an Zurückhaltung, spart keinen Superlativ aus, wenn es um seinen Jungstar geht: „Er ist der neue Platini. Kakà macht viele Tore, er vereinfacht schwierige Spielzüge, wirft sich mit dem Instinkt eines Spitzenspielers in leere Räume, beherrscht perfekt auch das Spiel ohne Ball.“ Der so Belobte kassiert dankend und versichert voller Bescheidenheit, er sei in Mailand, „um zu lernen“. Das hört man gern bei Milan, wo Gruppendisziplin erste Spielerpflicht ist und man einen Überschuss an Individualität besser ausschließlich auf dem Rasen zeigt. Rivaldo, der sich nicht fügen wollte, musste seinen Platz dem Landsmann überlassen. Nicht allzu widerstrebend indes: Der geschasste Star ist inzwischen Kakàs Manager und verdient daran nicht schlecht.“

So viel Inzest wie in dieser Spielzeit war wohl noch nie

Javier Cáceres (SZ 7.4.) berichtet den Einstand Erik Gerets’ in Wolfsburg: „In der Pfalz erinnert sich so mancher gerne an das pathosverhangene Bekenntnis des Belgiers: „Ich bin dazu geboren, diesen Verein zu trainieren.“ Nein, niemand wird Gerets je unterstellen können, er habe zu dick aufgetragen, schon zum Einstand zu sehr mit den Emotionen gespielt, als er sich der Presse vorstellte. Gerets“ erste, in den vor Erwartung knisternden Presseraum geworfenen Worte waren: „Na gut.“ Na gut, der Gedanke, dass Gerets Zeit gewinnen wollte, ist ebenso naheliegend wie nachvollziehbar. Immerhin hatte er zum Einstand zu erläutern, warum er von einer einst abschließend vorgetragenen Ankündigung („In dieser Saison werde ich nirgendwo mehr einsteigen“) abrücken musste. Einst: das bedeutet den ja doch eher überschaubaren Zeitraum von ziemlich exakt sechzig Tagen, am 2. Februar war Gerets in Kaiserslautern entlassen worden. Und erst vor vier Wochen war er von Hannover 96 kontaktiert worden. Gerets lehnte ab, die Niedersachsen verpflichteten Ewald Lienen. Damals, erklärte also Gerets, habe er noch nicht Abstand gewonnen, „Kaiserslautern war noch in meinem Kopf und in meinem Herzen“. Dass er bis 2006 in Wolfsburg unterschrieben hat, (…) solle Hannover nicht negativ ausgelegt werden. Vielmehr sei es so, dass Kaiserslautern zwar „immer“ in seinem Herzen, aber „nun aus dem Kopf“ gewichen sei, wie er dem ersten TV-Team sagte, das seiner habhaft wurde. Von Interview zu Interview verlagerten sich Gerets“ Empfindungen progressiv. Schon dem zweiten Sender steckte er, dass sein „Herz nun Wolfsburg gehört“, weshalb er nun „mit ganzem Herzen“ für Wolfsburg arbeiten könne, wie er einem dritten TV-Anbieter gestand. Den eigentlichen Kern der Wahrheit hatte Gerets da längst zum Besten gegeben: Als ihm Manager Pander Samstagabend gesagt hatte, dass er ihm „nicht viel Zeit zum Überlegen geben“ werde, begann es bei Gerets nicht nur „zu kitzeln“ – er wurde auch gewahr, dass es „wohl die letzte Chance war, jetzt oder nächste Saison in die Bundesliga zurückzukehren“. Beziehungsweise für ein Jahr auf dem Bundesliga-Abstellgleis zu landen. Und ins Ausland wollte er nicht. Gerets“ Überlegung ist nachvollziehbar, das so genannte Trainerkarussell ist ja von jeher spärlich besetzt. Doch so viel Inzest wie in dieser Spielzeit war wohl noch nie. Nicht nur Gerets begann ja die Spielzeit bei einem Bundesligisten, um sie nun bei einem Rivalen zu beenden – Ewald Lienen startete die Saison in Mönchengladbach und trainiert nun Hannover; Kurt Jara wurde vom ehemaligen HSV-Trainer zum Gerets-Nachfolger in Kaiserslautern. Während es auch in England gestattet ist, innerhalb einer Saison zwei Mannschaften derselben Kategorie zu unterrichten, ist es in Italien und Spanien untersagt. Hintergrund ist einerseits eine Art Standessolidarität – auch arbeitslose Trainer sollen wieder ins Geschäft kommen –, andererseits sollen wettbewerbsverzerrende Situationen, zum Beispiel durch die gezielte Abwerbung des Trainers vom Konkurrenten, verhindert werden.“

Innerer Frieden

„Seinen wichtigsten Kampf hat Heiko Herrlich im Kopf gewonnen“, schreibt Richard Leipold (FAZ 7.4.) über Herrlichs Karriere-Ende: „Als er seinen gefährlichsten Gegner besiegt hatte, wollte Heiko Herrlich nur unter einer Bedingung auf den Fußballplatz zurückkehren: „Wenn ich als Profi konkurrenzfähig bin.“ Eine bloß symbolische Fortsetzung seiner Karriere wäre für ihn nicht in Frage gekommen. „Ich will nicht nur für ein Spiel zurückkehren, um den Fans zuzuwinken“, sagte Herrlich vor drei Jahren, nachdem die Ärzte ihm mittels Strahlentherapie einen Tumor aus dem Mittelhirn entfernt hatten. Heiko Herrlich hat wieder Fußball gespielt, und er hat auch noch das „wichtige Tor“ geschossen, das ihm alle gewünscht haben. Es war das 1:0 in der letzten Minute eines Europapokalspiels in Kopenhagen – gut ein Jahr nachdem sein Arbeitgeber, der börsennotierte Bundesligaklub Borussia Dortmund, die Diagnose Gehirntumor in einer Ad-hoc-Mitteilung der Aktien- und der Fußballwelt bekanntgegeben hatte. Ein paar Monate später wurde sein Vertrag verlängert. Heiko Herrlich könnte noch bis Juni 2005 als Profi Fußball spielen. Aber er will nicht mehr. Der Zweiunddreißigjährige hat seinen Abschied vom Berufsfußball bekanntgegeben – leise, ohne jede Effekthascherei. Eine kurze Pressemitteilung, ein Interview im Regionalfernsehen, das war’s. Obwohl der Tumor ausgeheilt ist, traut Herrlich sich nicht mehr zu, auf dem Rasen wieder „konkurrenzfähig“ zu werden. Die Absicht, auf höchstem Niveau zu kicken, ist allmählich der Einsicht gewichen, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, nicht einmal bei den Dortmunder Amateuren, die in der dritten Liga spielen. Noch schwerer mag die Erkenntnis wiegen, den eigenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen. „Ich bin immer der kleine dumme Fußballer geblieben, der sechsjährige Junge, der eines Tages Weltmeister werden will“, sagt Herrlich, ein intellektuell wirkender, strenggläubiger Mensch, der nie dem Klischee des einfältigen Durchschnittsprofis entsprochen hat, auch nicht bevor sein schwerster Kampf ihm zu innerem Frieden verholfen hat. Seit er sich im Training Nasen-, Joch- und Schlüsselbein gebrochen hat, ist er im Hochleistungssport nicht mehr richtig auf die Beine gekommen. Nach dem Zusammenstoß vor zwei Jahren mit seinem damaligen Mannschaftskollegen Sunday Oliseh besaß er nicht länger die Energie, sich so gegen das Ende der Karriere aufzubäumen wie nach der niederschmetternden Krebs-Diagnose. Damit ist für einen wie Heiko Herrlich die Geschäftsgrundlage für die Teilnahme am Millionengeschäft Fußball weggefallen. (…) Heiko Herrlich verläßt die Fußballarena nicht sportlich geschlagen, sondern menschlich gereift.“

75 Euro teuren Hasen mit unglaublich anmutenden Finten

Portugal, EM-Stätte. Georg Bucher (NZZ 6.4.) beschreibt das Emporkommen des FC Rio Ave: „Otto Rehhagel hätte seine Freude gehabt und vielleicht einen Vorgeschmack auf die EM im Zeichen des Maskottchens Fintas bekommen. Wenige Tage nachdem der griechische Verband beschlossen hatte, sich im Stadion des FC Rio Ave auf die EM-Spiele vorzubereiten, gingen in Parada, einer ländlichen Gemeinde der nordportugiesischen Küstenstadt Vila do Conde, vor über 2000 Besuchern Jagdszenen über die Rasenbühne. Wie sich manche der in Spanien gezüchteten, 75 Euro teuren Hasen mit unglaublich anmutenden Finten die beiden konkurrierenden Windhunde vom Leib hielten, in Einzelfällen auch von Zuschauern sekundiert wurden, die den improvisierten Zaun anhoben, um ihnen die Flucht ins freie Feld oder in den Wald zu ermöglichen, könnte eine Metapher sein für die EM-Rolle der Griechen. Im Eröffnungsspiel trifft Hellas auf Portugal, danach auf Spanien und Russland. Schon am Vorabend des tierischen Spektakels hatte Rio Ave die Region in Euphorie versetzt und Sporting mit einer 4:0-Packung nach Hause geschickt. (…) Heimatverbunden ist der Menschenschlag an der Nordküste, eher verbissen und auf eine vertraute Kleingruppe bezogen, das Gegenteil zum offenen und leichtlebigen Lissabonner. Vor diesem Hintergrund begreift man, dass Carlos Brito nach einem kurzen, misslungenen Intermezzo in der Lissabonner Vorstadt Amadora wieder an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrte. Aufstieg, Klassenerhalt, Abstieg und 2003 der Wiederaufstieg als Meister der zweiten Liga, fast alles hat er schon in Vila do Conde, wo der Rio Ave in den Atlantik fliesst, erreicht. Die Bevölkerung im Vale do Ave wird indessen von einer schweren Krise der Textilindustrie gebeutelt. Nur für jüngere, besser ausgebildete Leute sind die Ansiedlung eines deutschen Halbleiter-Unternehmens und die Schaffung von 500 Arbeitsplätzen ein Hoffnungsschimmer.“

Wie der Rattenfänger von Hameln

Ronny Blaschke (FTD 7.4.) schildert Holger Obermanns Mission und Holger Obermanns Erfolg in Afghanistan: “Holger Obermann, 66 Jahre alt, Ex-Fernsehreporter und früherer Profi-Torwart, hat wieder einem bedürftigen Land den Fußball gebracht. Ein Jahr war er in Kabul tätig, in der Hauptstadt Afghanistans. Das war sicher nicht der ideale Ort, um die korrekte Ballannahme zu schulen. Und dabei wird es auch bleiben. Kratertiefe Löcher durchziehen die Straßen noch immer, Strom- und Wasserleitungen sind defekt, das Wasser ist verbleit. Es gibt keine ausreichende medizinische Versorgung, es mangelt an Lehrern, an Ausbildungsplätzen, an intakten Häusern, es mangelt eigentlich an allem. Und doch hat Obermann, der ewige Krisenmanager, auch gutes zu berichten. Er spricht davon, wie die Freude am Fußball den grauen Alltag überdeckt. 90 Mannschaften existieren inzwischen in Kabul, sie spielen in vier Ligen, es geht aufwärts, ganz langsam, aber immerhin. „Der Fußball ist Labsal für die geschundenen Seelen“, sagt Obermann, „er stärkt das Selbstwertgefühl. Er ist ebenso wichtig wie die Pflastersteine zum Wiederaufbau der Stadt.“ 4000 Jugendliche kicken hier, es ist ihre Begabung, für manche die Berufung. So wie für den 13-jährigen Ahmad Fahri. Er hatte Obermann gesagt: „Ohne Fußball hätte mein Leben keinen Sinn mehr.“ Viele spielen barfuß, andere in Sandalen. Sie spielen mit Dosen, mit Steinen, sie haben es gelernt zu improvisieren. Es wird noch Jahre dauern, bis der afghanische Fußball wieder Anschluss findet an den internationalen Standard Asiens und die Nationalmannschaft wieder konkurrenzfähig ist. Aber darum ging es Obermann nicht. Er hat in Kabul alles so gemacht, wie er es immer gemacht hat an seinen 28 Einsatzorten in den hintersten Winkeln dieser Erde, ob in Nepal, in Gambia oder in Osttimor. Er hat seinen Dienst an der Basis verrichtet: 200 Jugendtrainer ausgebildet, Grundlagen gelegt, Hoffnungen geschürt und Durchsetzungsvermögen vermittelt. Wie der Rattenfänger von Hameln muss er sich vorgekommen sein auf seinen Reisen durch die afghanische Provinz. Mit einem Ballnetz über der Schulter und Fußballschuhen im Gepäck. Er hat Volksfeste organisiert, zu denen Tausende Menschen kamen; Spiele, die abgebrochen werden mussten, weil Zuschauer, trunken vor Freude, das Spielfeld gestürmt hatten. Obermann sagt: „Für die Afghanen ist jeder Fußball eine Kostbarkeit.“ 150 000 Euro hat das Projekt gekostet, das von der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt, der Fifa, dem DFB und dem Nationalen Olympischen Komitee unterstützt wird. 2000 Bälle hat Obermann nach Kabul einfliegen lassen, Hunderte Leibchen und Trikots in allen Schattierungen, mit allen erdenklichen Schriftzügen, von Ballack bis Figo. Ob sie wissen, wessen Hemden sie tragen? 15 Jahre hatte es keine Fernsehübertragung eines Fußballspiels gegeben. Die afghanischen Jugendlichen träumten nicht davon, den Ball streicheln zu können wie Zidane, sie kannten ihn nicht. Die Älteren stellten Obermann seltsame Fragen wie „Spielt Horst Hrubesch noch?““

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