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Bundesliga
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| Montag, 19. April 2004_29. Spieltag im Pressespiegel__
Kritik an allen Verantwortlichen von 1860 München wegen der Art, Trainer Falko Götz zu entlassen; „der Geist Wildmosers“; Götz, das unschuldige „Opferlamm“ (SZ)?`; ist gar Hans Zehetmaier hinters Licht geführt worden (taz)? – Bayern München, „seelenloses Ensemble“ (FTD); Diskussion um Schiedsrichter Markus Merk; Schwalbe oder nicht Schwalbe? – VfB Stuttgart jagt – Hans Meyers harmonische Rückkehr an den Bökelberg? Von wegen: „das harmonische Verhältnis von Meyer zur Borussia ist eine Legende“ (FAZ) – von Leverkusens Sieg gegen Schalke gibt es viel zu erzählen u.v.m.
1860 München – Hamburger SV 1:2, Entlassung Falko Götz‘
Der Geist Wildmosers
Christian Zaschke (SZ 19.4.) fordert, dass sich 1860 München von seiner Vergangenheit löse: „Was wohl der Gipfel war der lächerlichen Vorstellung, die der TSV 1860 München an diesem Wochenende abgab? Die beschämende Art und Weise, in der Trainer Falko Götz entlassen wurde? Die Eskalation des Streits auf der Führungsebene, der Rücktritt des Vizepräsidenten Hans Zehetmair? Vielleicht auch das armselige Spiel der Profimannschaft gegen den Hamburger SV? Nichts von alldem. Es war die Äußerung des Sportdirektors Dirk Dufner, man wolle den Verein im Geiste des ehemaligen Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser weiterführen. (…) Der Geist Wildmosers, den der Sportdirektor beschwört, ist der Geist, den der Verein nicht wieder los wird. Es wird auf Wildmosers Verdienste verwiesen, er habe den Verein ja erst wieder nach oben gebracht. In Wahrheit hat er den Klub ideell entkernt und ihm eine Günstlingsstruktur verpasst, in welcher Neinsager gemobbt wurden, und in der sein Sohn Karl-Heinz Wildmoser junior ein reicher Mann wurde. Es war eine Struktur, die nur funktionierte, solange der Alte über dem Gesamtverein thronte und über seinen Sohn in die Fußballabteilung greifen konnte mit seinen mächtigen Pranken. Diese Struktur muss grundsätzlich aufgebrochen werden, das Machtvakuum muss gefüllt werden. Die jetzigen Probleme des TSV 1860 München bestehen nicht, weil der Geist Wildmosers fehlt. Sie bestehen, weil der Klub viel zu lange vom Geiste Wildmosers beherrscht wurde.“
Auch Thomas Becker (FR 19.4.) stößt auf verbrannte Erde: „Man sieht die Pranken förmlich auf die Oberschenkel niedersausen, hört zwischen dem Lachen immer wieder ein kopfschüttelndes „Des gibt’s doch gar ned“, glaubt aber hinter den Lidern das ein oder andere Tränchen schimmern zu sehen – Karl-Heinz Wildmoser senior wird in Niederpöcking am Starnberger See einen merkwürdigen Abend vor dem Fernseher verbracht haben. So weit ist es mit seinem TSV gekommen: Bekommt nicht mal mehr eine ordentliche Trainerentlassung zustande. Seit fünf Wochen ist der Ober-Löwe nicht mehr im Dienst, ist es ruhig geworden um die Stadion-Affäre. Die Ermittler ermitteln, der Junior sitzt weiter in U-Haft, doch die Folgen von Wildmoser-Gate wirken unvermindert und für jedermann sichtbar in die Geschicke des Noch-Bundesligisten TSV 1860 München hinein. Die bewegten Tage der Wildmoser-Demission provozierten: eine Vereinsführung, die den Namen nicht verdient; einen Präsidenten, dem es nicht gegeben ist, einen Bundesligisten zu führen; einen Vize, der das Ende seiner Politiker-Laufbahn nicht verwunden hat; einen seit Jahren solide arbeitenden Sportdirektor, dem plötzlich Rolf Rüssman vor die Nase gesetzt werden soll; und nicht zuletzt einen Trainer samt Mannschaft, die schon auf dem Mond trainieren müssten, um sich von dem Chaos nicht anstecken zu lassen.“
Opferlamm
Christian Zaschke (SZ 19.4.) kritisiert alle Beteiligten, auch Falko Götz: „Endlich ist Professionalität eingekehrt beim TSV 1860, das läuft ja wie am Schnürchen, nicht wahr? Es ist 17.25 Uhr am Samstag, fünf Minuten nach Spielschluss, Präsident Karl Auer und sein Sportdirektor Dirk Dufner sind nach unten geeilt zum Trainer Falko Götz, um dessen Entlassung zu vollziehen, und Dr. h.c. Hans Zehetmair, bayerischer Kultusminister a.D., der Vizepräsident, er tut oben auf den Rängen im Olympiastadion, was er am besten kann: reden. Das große Ganze erklären. Kein Bundesligapräsident kann das besser als er. Hervorragende Aufgabenteilung, endlich. Man ist beeindruckt. Zehetmair streicht seine Künstlersträhne mit großer Geste aus der Stirn, postiert sich, als wäre es dramaturgisch beabsichtigt, vor einem Bild von Falko Götz, das im Eingang zum Ehrengastbereich des Olympiastadions hängt. Die Mannschaft habe „Moral gezeigt, aber kein Vermögen“, spricht er präsidial, ein „Schlüsselspiel“ sei verloren worden, deshalb nun „einvernehmliche Trennung“. Nichts gegen Götz, einfach der Versuch, „mit einem neuen Namen und neuen Motivationsmöglichkeiten die letzten Spiele anzugehen“. Götz habe vorab sein Einverständnis gegeben. „Er sagte selbst: Dann bin ich mit meinem Latein am Ende.“ Er werde gerade noch einmal informiert, sagt Zehetmair. „Der Präsident ist ja deswegen nicht hier und kann nicht die Interviews geben, weil er runtergegangen ist zum Trainer.“ Schön bescheiden klingt er da, ein versöhnlicher Schlusspunkt, scheinbar. Es ist in Wirklichkeit, wie sich bald herausstellt, der Anfang einer Posse und sein Ende als Funktionär. Ein Geschenk für den Rest der Vereinsführung, vor allem aber eines für Falko Götz. Unten vor den Kabinen, so heißt es später, haben zur der Zeit, als Zehetmair in die Kameras spricht, Auer und Dufner mit Götz vereinbart, der Trainer solle in der Pressekonferenz Stellung zum Spiel nehmen und sich dann aus dem Staub machen. Die Entlassung würden danach Auer und Dufner publik machen. Götz hat sich nach dem Schlusspfiff von jedem einzelnen auf der Löwen-Bank verabschiedet. Er kennt sein Los. Als er aber vor der Pressekonferenz von Zehetmairs Auftritt erfährt, den die Agenturen längst verbreitet haben, nutzt er die Gunst der Stunde. Die Gelegenheit, den Verein vorzuführen, lässt er sich nicht entgehen. Entlassen? Es ist jetzt kurz nach 18 Uhr. Götz bemüht sich, in der Pressekonferenz Überraschung zu simulieren. „Das kann ich so nicht bestätigen. Ich habe mit Herrn Auer und Herrn Dufner einen Gesprächstermin für morgen vereinbart. Ich habe keine Kenntnis von den Interviews, die Herr Zehetmair führt.“ Mitgefühl schlägt ihm entgegen. Ob er noch eine Basis sieht für weitere Zusammenarbeit? Natürlich, sagt er. „Ich habe in der Halbzeitpause mit der Mannschaft gesprochen, und ihre Leistung danach hat gezeigt, dass ich sie noch erreiche.“ Eine gewagte Behauptung angesichts des matten Aufbäumens seiner Mannschaft in der zweiten Halbzeit. Aber egal. Falko Götz, 42, abgefunden mit angeblich 300 000 Euro, ist jetzt Opferlamm. Man hätte ihn nach seinem Scheitern befragen sollen. Am 12. März 2003 angetreten, um dem Verein mit dem „Jugendstil“ eine Identität zu geben, führte er das Team, den Blick visionär weit nach vorne gerichtet, an den Abgrund. 39 Spielen, elf Siege, neun Unentschieden, 19 Niederlagen. Aktuell Tabellenplatz 15 vor den Spielen gegen FC Bayern und Leverkusen. Die Turbulenzen im Verein haben die Arbeit behindert, natürlich. Die Stadion-Affäre, der Rücktritt von Karl-Heinz Wildmoser, der Machtkampf zwischen Auer, der ihm den Rücken stärkte, und Zehetmair, der ihn in Frage stellte. „Wir hatten ständig unangenehme Situationen in der Kommunikation innerhalb des Vereins“, sagt er. Er hätte auch Kraft daraus schöpfen können. Die Mannschaft zusammenschweißen. Nichts davon ist zu sehen gewesen in den letzten Spielen, auch nicht gegen den HSV. Nur Machtlosigkeit. Resignation, im Stadion mit Händen zu greifen.“
Dahingegen nimmt Elisabeth Schlammerl (FAZ 19.4.) Götz in Schutz: „Auf keinen Fall sollte Götz davon zwischen Kabinentür und Fahrstuhl erfahren. Daß Zehetmair oben auf der Tribüne sofort nach dem Schlußpfiff und damit voreilig die Trennung vom Trainer bekanntgab, hatte sicher nichts mit einem Mißverständnis in der „Löwen“-Führung zu tun, schon eher mit seinem steten Drang nach Öffentlichkeit und dem ausgeprägten Machtstreben eines Politikers. Der ehemalige bayerische Kultusminister gab bereitwillig Auskunft über die Verabredungen zwischen Präsidium und Trainer. „Wir haben vereinbart, daß wir uns im Falle einer Niederlage einvernehmlich trennen.“ Zehetmair klärte über den aktuellen Stand der Nachfolgersuche auf. „Wir werden voraussichtlich morgen den neuen Trainernamen bekanntgeben.“ Unten in den Katakomben schickten derweil Auer und Dufner den Trainer in die Pressekonferenz und verabredeten sich für danach noch einmal. Natürlich wußte auch Götz, daß das die ultimative Unterredung sein würde. Aber als die Journalisten ihn mit der Aussage Zehetmairs konfrontierten, sah er zu Recht keine Veranlassung, seine Entlassung zu bestätigen. Auer und Dufner war mittlerweile zugetragen worden, was Zehetmair angerichtet hatte, und die beiden konnten nun nicht anders, als die Trennung sofort zu verkünden, statt eine Anstandsfrist und ein längeres Gespräch mit Götz abzuwarten. Zehetmair preschte vor, um Tatsachen zu schaffen und um Präsident Auer schlecht aussehen zu lassen – und verrechnete sich dabei. Statt den Präsidentenjob selbst zu übernehmen, mußte Zehetmair nach seiner Fehlinszenierung vom Samstag unter dem Druck der Öffentlichkeit und vereinsinterner Kritiker selbst gehen. Karl Auer, der zunächst selbst demissionieren wollte, bleibt dagegen vorläufig in einem Amt, das auch ihn gelegentlich zu überfordern scheint. Im Verein gab es – zumindest bis zum Samstag – zwei Lager. Die politische Fraktion im Aufsichtsrat wußte Zehetmair hinter sich. Nach seinem vereinsschädigenden Auftritt vom Samstag hatte sich das geändert.“
Bei 1860 ist zurzeit offenbar alles möglich
Noch eine andere Variante: Markus Schäflein (taz 19.4.) spekuliert über Mobbing an Hans Zehetmaier: „Herzlichen Glückwunsch, der TSV 1860 München kann seiner Bilanz nach der Deutschen Meisterschaft 1965/1966 und dem Gewinn des Hallen Masters 1996 einen neuen Titel hinzufügen: den weißwurstgrauen Schleudersitz für die niveauärmste Trainerentlassung in der Geschichte der Bundesliga. Als Falko Götz nach dem 1:2 gegen den HSV von einem Reporter des Bayerischen Fernsehens erfahren hatte, dass Vizepräsident Hans Zehetmair soeben vor laufenden Kameras seine Entlassung verkündet hatte, reagierte Götz gelassen: „Ach so. Das ist ja schön. Ist ja wunderbar, wenn sie schon einen Neuen haben“, sagte Götz, und er schien fast erleichtert, den Tratsch- und Schieberverein München von 1860 verlassen zu dürfen. Auf seinem Rücken wurde nach dem Rücktritt von Karl-Heinz Wildmoser ein Machtkampf ausgetragen, der gestern seinen Höhepunkt erreichte. Auf die Diktatur war das Chaos gefolgt, der von Wildmoser ins Präsidentenamt gehievte Wurstwarenfabrikant Karl Auer sah sich ständigem Beschuss durch Vize Zehetmair ausgesetzt. Zehetmair ist kein Metzger, aber CSU-Politiker, ehemaliger Staatsminister sogar, was offenbar noch viel schlimmer ist. Schon unter der Woche hatte Zehetmair dem Coach nach einer Vorstandssitzung ein Ultimatum ausgesprochen, das der Darstellung Auers widersprach. (…) Vielleicht war es ja auch so, dass Zehetmair wirklich beauftragt war, die Entlassung zu verkünden, wie er behauptet hat. Und Auer und Sportdirektor Dirk Dufner („Ich habe mich selten so geschämt wie gestern“) gaben nur vor, sie hätten von nichts gewusst, um Zehetmair als Nestbeschmutzer darzustellen, der das Ansehen des ehrenwerten Klubs ramponiert hat. Dafür scheinen Auers darstellerische Fähigkeiten eigentlich zu begrenzt, aber bei 1860 ist zurzeit offenbar alles möglich.“
Immer mehr Fragezeichen tauchen auf, wenn es um die Leistungsfähigkeit des Münchner Fußballs geht
Michael Ashelm (FAZ 19.4.) vermerkt die Sorgen der vermeintlichen Fußball-Hauptstadt: „Die einzige Stadt mit zwei Bundesligaklubs, Heimat des Rekordmeisters, WM-Gastgeber und bald Standort für das modernste Fußballstadion der Welt. Wie schön, könnte man meinen, doch zwischen diesem hohen Anspruch und der Wirklichkeit klafft plötzlich eine Lücke. Immer mehr Fragezeichen tauchen auf, wenn es um die Leistungsfähigkeit des Münchner Fußballs geht. Gerade das vergangene Wochenende offenbarte mit voller Wucht die Schwächen, nachdem zuletzt schon der Korruptionsskandal um die Wildmosers und der Verlust von internationalem Renommee beim FC Bayern die Fußball-Herrlichkeit erschüttert hatten. Die neuesten Chaostage bei den „Löwen“ sind womöglich gar nicht der Wendepunkt zum Besseren, sondern der Beginn des weiteren Verfalls. Wenn die Verantwortlichen bei den Sechzigern so weitermachen, könnten sie bald mit ihrem Verein schnurstracks wieder dort landen, von wo einst ihr Wiederaufstieg begonnen hatte: in der Bayernliga. Den Fähigkeiten der gegenwärtigen Funktionäre würde die Provinzbühne wohl eher entsprechen. Das laienhafte Gebaren der Vereinsmeier bei der (erwarteten) Entlassung von Trainer Falko Götz läßt jedenfalls nicht darauf schließen, daß sich der krisengeschüttelte TSV München 1860 in guten Händen befindet. Im Gegenteil, man muß sich schon wundern, wie dilettantisch ein ehemaliger Kultusminister des Landes Bayern als Fußballfunktionär agiert. Während die Sechziger verstärkt an ihrem Abschied aus dem großen Fußball arbeiten, ist auch vom großen Nachbarn Bayern München kein glorreiches Aufbäumen mehr zu erwarten. Ohne Titel, darauf läuft’s hinaus, und wehleidig noch dazu, sucht man seit Wochen die Schuld für das eigene Unvermögen bei Schiedsrichtern oder Gegnern.“
Borussia Dortmund – Bayern München 2:0
Meinungsmacht
Philipp Selldorf (SZ 19.4.) wundert sich über bayerische Selbstkritik: „Als Oliver Kahn im TV-Interview mit den Bildern der entscheidenden Spielszene konfrontiert wurde, als er also abermals feststellen konnte, dass Schiedsrichter Merk einen Elfmeter verhängt hatte, den er in Anbetracht des Sachverhalts nicht hätte verhängen dürfen, da passierte das Ungewöhnliche: Kahn, der auf dem Spielfeld heftig protestiert hatte, betrachtete die Szene ruhig und unaufgeregt, und dann sprach er davon, dass niemand beim FC Bayern es nötig habe, den Schiedsrichter für die Niederlage verantwortlich zu machen und dass überhaupt die Suche nach externen Einflüssen kein Mittel sein dürfe, die Situation der Mannschaft im Titelkampf rhetorisch zu relativieren. Er folgte damit der moderaten Linie, welche die Autoritäten des Vereins bereits in den vergangenen Wochen eingehalten hatten. Was daran ungewöhnlich ist? Mindestens zweierlei. Zunächst, dass man es auch ganz anders kennt vom FC Bayern. Oft genug pflegten früher die Münchner strittige Schiedsrichter-Entscheidungen in Zusammenhänge einzuordnen, als ob sie der Beweis für die Machenschaften eines bösartigen Bündnisses gegen ihren Klub wären. Und oft genug hat man es erlebt, dass sie sich über angebrachte, aber ungenehme Urteile der Referees beschwerten, als ob ein Fall von systematischer Majestätsbeleidigung geschehen wäre. So nutzte der führende Bundesligaklub das Gewicht seiner Meinungsmacht und verschaffte sich noch mehr Geltung. (…) Dass sich die Bayern dieser Tage, da ihnen die Meisterschaft verloren geht, nicht auf Ausreden verlegen, ist womöglich ein respektabler Fortschritt. Auf jeden Fall ist es klug. Oder würde ernsthaft jemand bestreiten wollen, dass Werder Bremen den Meistertitel verdient?“
Er soll doch lieber sagen, dass er keine Spiele von Schalke und Bayern mehr leitet
Schwalbe oder nicht? Ulrich Hesse-Lichtenberger (taz 19.4.) ist unsicher: „Ein Schrei, ein Sturz, ein Pfiff. Zugegeben: Das ist nicht die einfallsreichste Art, die entscheidende Szene des Bundesligaspitzenspiels zwischen Borussia Dortmund und Bayern München zu beschreiben. Andererseits waren diese Worte selten so angebracht wie am Samstagnachmittag im Dortmunder Westfalenstadion. Der Pfiff entfuhr der Pfeife von Schiedsrichter Markus Merk in der 53. Spielminute und signalisierte einen Elfmeter für die Gastgeber, den Ewerthon verwandelte – wenn auch erst knapp drei Minuten später. Der Sturz passierte dem jungen Dortmunder Stürmer Salvatore Gambino, genehmerweise im Strafraum der Bayern und in unmittelbarer Nähe eines ausgestreckten gegnerischen Beins. Der Schrei – und nun Achtung! – kam natürlich aus dem Mund des so jäh Gestoppten, aber eben nur aus seinem. Es war nämlich tatsächlich nur „ein“ Schrei. Die 25.000 BVB-Fans auf der Südtribüne, die freien Blick auf das Geschehen hatten, brüllten keineswegs „Elfer!“ oder „Foul!“, wie sie das sonst zehnmal pro Partie tun. Sie kratzten sich am Kopf, blickten in ihr Bier oder bissen in eine Bratwurst, um den peinlichen Moment einer derart dreisten Schwalbe zu überspielen. Erst dann ging ihnen auf, dass Linienrichter Heiner Müller die Sache anders gesehen und das seinem Chef Markus Merk, wie jener sich später ausdrückte, „durch Körpersprache mitgeteilt“ hatte. In diesem Moment verloren die Bayern das Spiel und die deutsche Meisterschaft, außerdem noch die Fassung und die gute Kinderstube. Michael Ballack wurde für seine Proteste verwarnt, Bayerns Co-Trainer Michael Henke des Innenraums verwiesen. Eine Stunde nach diesen Ereignissen waren die Beteiligten zwar äußerlich gefasster, aber ihre Wortwahl verriet den Ärger, an dem sie immer noch würgten. „Merk hatte doch richtig Schiss“, sagte Henke und verwies auf den umstrittenen Freistoß, mit dem eben jener Schiedsrichter die Bayern 2001 zum Meister gemacht und Schalke auf den zweiten Platz verwiesen hatte. „Er soll doch lieber sagen, dass er keine Spiele von Schalke und Bayern mehr leitet.“ Aber im Leben, und der Fußball gehört ja noch immer dazu, sind die Dinge selten so eindeutig, wie sie scheinen. Die Fernsehbilder bestätigten nämlich anschließend so gegensätzliche Meinungen wie die von Ottmar Hitzfeld („Man sieht nicht, dass er getroffen wird, es ist eine Schwalbe“) und Merk („Ich wäre der Letzte, der eine Fehlentscheidung nicht zugeben würde, aber die Bilder sprechen für sich“). In der Tat wirkte das, was im Stadion noch so offensichtlich schien, beim Studium der Fernsehbilder plötzlich mehrdeutig.“
Seelenloses Ensemble
Felix Meininghaus (FTD 19.4.) erweitert die Diskussion: „Trotz passablen Beginn und überlegen geführten Spiels brach das Team von Ottmar Hitzfeld nach dem Rückstand völlig ein und ergab sich seinem Schicksal. Wie angeschlagen die Bayern derzeit sind, dokumentierte vor allem die spielentscheidende Szene: Nach dem Elfmeterpfiff dauerte es Minuten, ehe das Bayern-Rudel aufgelöst war und Dortmunds Ewerthon zur Tat schreiten konnte. Wobei es wieder einmal verwunderte, wie viel sich Oliver Kahn in solchen Momenten herausnehmen darf, ohne bestraft zu werden. Bayerns Manager Uli Hoeneß brachte die Sache dermaßen in Rage, dass er nach dem Schlusspfiff wutentbrannt und mit hochrotem Kopf in die Schiedsrichterkabine eilte, um Merk zur Rede zu stellen. Auf dem Spielfeld haben die Bayern weit weniger entschlossene Reaktionen gezeigt. Sie präsentieren sich derzeit als weitgehend seelenloses Ensemble.“
Roland Zorn (FAZ 19.4.) notiert Matthias Sammers Plädoyer für Michael Ballack: „Hätte Ballack statt Gelb-Rot ganz einfach Rot gesehen, es wäre auch vertretbar gewesen. Merk sah den letzten Auftritt des Nationalspielers in diesem emotional aufgeladenen Bundesliga-Klassiker „im Grenzbereich“. Was folgte, war eine unverhoffte und gar nicht angeforderte Ehrenerklärung für Ballack – von seiten der Dortmunder. Matthias Sammer, der Trainer der Borussia, reagierte auf eine gar nicht an ihn gerichtete Frage, ob Ballacks nervliche Verfassung kurz vor der Europameisterschaft in Portugal nicht bedenklich sei, wie ein Vorstopper des attackierten Münchner Stars. Während Ottmar Hitzfeld, Ballacks Vereinstrainer, seinen Mittelfeldspieler milde mit dem Wort „übermotiviert“ kritisierte, schlug Sammer Alarm. „Wir sollten Ballack nicht einreden, daß er schlecht ist, wir sollten dem Spieler vielmehr die Wertschätzung geben, die er woanders genießt.“ Kämpferisch hielt der Dortmunder ein Plädoyer für den Münchner. Den in Teilen der Medien zuletzt gern angegriffenen Ballack nahm Sammer vor bösen journalistischen Grätschern in Schutz. „Wir machen hier einen Spieler platt, der zum entscheidenden Mann bei der Europameisterschaft werden soll. Laßt ihn in Ruhe, wir brauchen die paar Spieler, die wir noch haben. Wir sollten uns glücklich schätzen, daß wir einen wie Ballack in Deutschland haben, und sollten ihn nicht vertreiben.“ Sammer redete sich in Rage, als ob hier ein Fall für Amnesty International zur Debatte stünde. Dabei hatte an diesem aufwühlenden Samstag nur jemand eine skeptische Frage gestellt. Um so bemerkenswerter war die Verve, mit der Ballacks „Anwalt“ Sammer argumentierte. Hier sprach jemand, der sich noch einmal lebhaft an seine eigene Zeit als heißblütiger Spieler erinnert fühlte und der ein gewisses Verständnis für Profis aufbringt, die auf dem Platz schon mal über die Stränge schlagen.“
Wir sind immer Herr unserer Zahlen
Andreas Burkert (SZ 19.4.) protokolliert den