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Fifa und adidas sind siamesische Zwillinge
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| Dienstag, 20. April 2004die Fifa straft Kamerun und Sponsor Puma, alle kritisieren sie: „die Fifa und Adidas sind siamesische Zwillinge, da passt noch nicht einmal ein Puma als Kuscheltier dazwischen“ (FR) – Diego Maradona in der Intensivstation – „Let’s be Beckham“ (FAS), Beckham ist für alle da – FAS-Interview mit Oliver Bierhoff über Sport und Wirtschaft, Wirtschaft und Sport – FSV Mainz und Erzgebirge Aue, Zweitliga-Klubs (nun) auf Augenhöhe – ein wissenschaftliches Buch über Fan-Gesang
Jörg Hahn (FAZ 20.4.) ärgert sich über den drastischen Sechs-Punkte-Abzug für Kamerun, das gegen die vermeintlich regulierte Kleiderordnung der FIFA verstoßen hat: „Was ist dieser Trikotstreit gemessen an schweren Fouls, an Ergebnisabsprachen? Oder auch verglichen mit Verstößen gegen wirtschaftliche Auflagen, wie sie beispielsweise dem 1. FC Kaiserslautern zur Last gelegt worden sind und wofür die Pfälzer vom Deutschen Fußball-Bund in der laufenden Bundesligasaison mit einem Abzug von drei Punkten belangt worden sind? Kamerun muß vom 4. Juni an zehn Qualifikationsspiele zur Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland bestreiten, Gegner sind Ägypten, Benin, die Elfenbeinküste, Libyen und Sudan; nach dem bis auf weiteres gültigen FIFA-Spruch gehen die „Löwen“ des deutschen Trainers Winfried Schäfer schon als doppelte Verlierer in diese Ausscheidungsrunde. Darf man sich noch aufregen über schauspielernde Fußballprofis, die ihren Mannschaften als Fallobjekte unberechtigte Foulelfmeter erschleichen? Soll man sich noch ärgern über Fehlentscheidungen von Unparteiischen? Die Oberkampfrichter vom Zürcher Sonnenberg, wo die FIFA ihren Sitz hat, stellen das alles weit in den Schatten. Weder ist die Kleiderordnung so detailliert festgelegt, wie das Urteil es suggeriert, noch haben die Paragraphenhüter eine Entscheidung mit Augenmaß gefällt. Der fränkische Sportartikelhersteller Puma will sich, auch im Interesse seines Vertragspartners Kamerun, juristisch wehren. Vielleicht findet das Unternehmen ja Richter, die von Fußball, Mode und Fair play gleichermaßen viel verstehen.“
Philipp Selldorf (SZ 20.4.) vermutet: „Elemente von Politik und Verdacht mischen sich ins Spiel. Die Politik: Der Gegenkandidat des Fifa-Chefs Sepp Blatter bei der Präsidentenwahl 2002 hieß Issa Hayatou und stammt aus – Kamerun. Der Verdacht: Puma reklamiert eine systematische Benachteiligung durch die Fifa, deren traditioneller Sponsor der Konkurrent adidas ist. Puma klagt nun vor einem ordentlichen Gericht auf Schadenersatz – es fällt jedoch leicht, sich vorzustellen, dass die Firma über die Publicity dieses Falls nicht unglücklich ist.“
Die Fifa und Adidas sind siamesische Zwillinge
Jürgen Ahäuser (FR 20.4.) kritisiert die Fifa: „Wenn die Disziplinarkommission der Fifa nicht so „bunt“ besetzt wäre, wenn der Fußball nicht ein Welten und Kulturen umspannendes Phänomen wäre, dann könnte man angesichts des Urteils gegen Kamerun zunächst auf die Idee kommen, dass die Kolonialzeit für die Herren am Zürichsee noch Bestand hat. Wegen unbotmäßigen Verhaltens gibt es für den schwarzen Mann vom weißen Herren mal eben 50 Peitschenhiebe. Hauptsache, es tut weh und die bösen Buben des Winfried Schäfer kriechen demnächst zu Kreuze. Doch so „einfach“ liegen die Dinge nicht. Die Fifa jongliert mit Milliarden, und schon deshalb ragt sie als echter Global Player unter allen Welt-Sportverbänden heraus. Im Verbands-Dschungel des Fußballs bestimmen Seilschaften, Intrigen und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen den Lauf des Balles. (…) Das maßlose Urteil dieser Scharfrichter ist ein Skandal und es schürt die Spekulationen, dass dahinter ein noch größerer Skandal, nämlich Protektion, steckt. Die Fifa und der Konzern Adidas sind siamesische Zwillinge. Da passt noch nicht einmal ein Puma als Kuscheltier dazwischen.“
Nibelungen-Umarmung von Adidas und Weltverband
Peter Hartmann (NZZ 20.4.) rügt Joseph Blatter, Generalsekretär der Fifa: „Unlängst hat der Gentleman Joseph Blatter die Fussball spielenden Frauen aufgefordert, sich dem männlichen Zuschauerauge etwas aufreizender darzubieten. Da stand er mit abgesägten Hosen da. Die Kickerinnen erregten sich über die Blatter’schen Altherrenphantasien, allerdings nicht im gewünschten Sinn. Doch die Dressfrage kommt nicht zur Ruhe. Am Afrika-Cup traten die „unbezähmbaren Löwen“ aus Kamerun im hautengen einteiligen Body auf. Die Kleiderkodex-Wächter verboten das skulpturale Outfit auf der Stelle. Alles was recht ist, Hose und Leibchen sind getrennte Textilstücke. Die schlauen Löwenmännchen kaschierten ihre einteilige Blösse, indem sie sich kurze Shorts überstreiften, und darunter trugen sie nichts als den verbotenen Body. Jetzt hat sie der rächende Arm der Fifa-Justiz am Trikot gezogen. (…) Der Nationalspieler Eto‘o sagte: „Eine völlig absurde Geschichte. Hätte uns Adidas eingekleidet, wäre nichts passiert.“ Adidas ist ein traditioneller Fifa-Sponsor. Tatsächlich haben die Designer des Konkurrenten Puma den umstrittenen Einteiler (der längst die Leichtathletik-Stadien erobert hat) geschneidert und mit diesem modischen Coup eine Welle von Gratiswerbung in den Medien ausgelöst. Puma droht mit Klage gegen die Fifa. Die Nibelungen-Umarmung von Adidas und Weltverband reicht in die Zeiten zurück, als die Fifa noch nicht auf Rosen gebettet war und der damalige Generalsekretär Blatter sein Gehalt über ein Konto des Ausrüsters Horst Dassler erhielt.“
Der Ball, friedlichste aller Kugeln
Roger Repplinger (FAS 18.4.) berichtet ein Hamburger Sozialprojekt: „Es ist viertel nach neun und der letzte Tag der Ferien. Amid lungert mit drei Kumpels vor der Gesamtschule Neu-Allermöhe herum. Er wirft den Fußball in den metallenen Basketballkorb, übt Einwürfe und führt Tricks vor. Um zehn beginnt das Hallenfußball-Turnier der Jugendlichen des Sportprojekts „Integration durch Sport“. Amid, 13 Jahre alt, weiß nicht, ob er dabei ist. Er hat Bewährung. Kurz vor zehn schließt Erik Dawid, 38 Jahre alt, in der Nähe von Danzig geboren, die Halle auf. Dawid lebt in Alt-Allermöhe, kennt alle Tricks. Zunächst bot der Diplom-Sportpädagoge „Sport mit Aussiedlern“ an, daraus entwickelte sich „Integration durch Sport“. Finanziert vom Bundesinnenministerium, verwaltet vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg. Bei seinen Turnieren kooperiert Dawid mit Sportvereinen. Dawid schätzt, daß etwa die Hälfte der Bewohner Neu-Allermöhes Spätaussiedler sind: Kasachen, Ukrainer, Weißrussen. Außerdem wohnen hier Afghanen und Türken sowie ein paar Exoten: Polen, Slowenen, Griechen, Deutsche. „Darf ich mitmachen?“ fragt Amid mit einem Gesicht, auf dem „Ich bin brav“ steht. So leicht läßt sich Dawid nicht breitschlagen – er macht „hm“. Amid, der Junge aus Afghanistan, drängt: „Darf ich mich umziehen?“ Er soll was kapieren, Dawid läßt ihn zappeln: „Hm.“ Es ist nämlich so: Beim letzten Mal hat Amid das Glas des Feuermelders eingeschlagen. Aus Jux. Die Feuerwehr kam nicht, aber der Alarm heulte eine halbe Stunde, das Turnier wurde unterbrochen, und Dawid mußte beim Hausmeister antanzen und alles erklären. „Darf ich?“ fragt Amid, und seine Stimme zittert so viel, wie seine Selbstachtung zuläßt. Dawid nickt, Amid flötet „danke schön“, dreht sich um und saust in die Umkleide. In Neu-Allermöhe gibt es wenig Arbeit, reichlich Kinder und viel Armut. Neu-Allermöhe ist Hamburgs kinderreichster Stadtteil. „Viele Familien leben am Existenzminimum“, sagt Dawid, „sie sind arm.“ Sieht man. Hier spielen „Crespo“ und „Ronaldo“ noch bei Inter. Eltern haben gerade genug Geld, um ihren Sprößlingen das Trikot ihres Lieblingsspielers zu kaufen. Vereinswechsel können sie sich nicht leisten. Zwischen den Türken und den Jungs aus dem Osten gibt es Spannungen. Die Kasachen in der Halle sind schüchtern: kurze helle Haare, bleich, leise, abstehende Ohren, Sommersprossen, sehr dünn. Wenn ein Sieg der Kasachen dem türkischen Team hilft, feuern die Türken auch die Kasachen an. So ist das nicht. Fast alle Mannschaften sind gemischt. Nur die Kasachen bleiben unter sich. „Kommt noch“, meint Dawid. Manchmal kicken Jungs zusammen, deren Länder am liebsten aufeinander losgehen würden: Türken und Griechen. „Aber es passiert nichts“, sagt Dawid, „weil wir an diesen Dingen arbeiten.“ Mit dem Ball – der friedlichsten aller Kugeln. Waffen? Gibt’s nicht. Hier werden die Konflikte per Tor ausgetragen. Dawid hat zehn Turniere veranstaltet und nur ein Team ausgeschlossen, weil die Jungs nicht auf den Schiedsrichter hörten und foul spielten. Am nächsten Tag kamen sie und entschuldigten sich.“
Let’s be Beckham
Beckham ist für alle da, stellt Evi Simeoni (FAS 18.4.) fest: „Ein Tag im März 2004 in einem Kindergarten von Tokio. Große Begeisterung über das heutige Motto: „Let’s be Beckham.“ Jedes Kind darf sich dazu eine Perücke basteln, und es steht außer Frage, daß den eifrigen Kleinen nicht nur der Name des britischen Fußball-Schönlings geläufig ist, sondern auch die ganze Bandbreite seiner variantenreichen Haartrachten vom strammen Hahnenkamm über den lustigen Entenbürzel bis hin zum wippenden Pferdeschwanz. Ein Tag im März bei einer Hausdurchsuchung in Madrid. Die Polizisten finden in der Wohnung von Mohammed Bakkali, eines Tatverdächtigen der Bombenanschläge vom 11. März, eine Autogrammkarte. Sie zeigt David Beckham, die Widmung lautet: „Für Mohammed, mit den besten Wünschen.“ Bakkali, so zitieren später britische Medien dessen Cousin, sei zu allen Spielen und Trainingsstunden von Real Madrid gepilgert. Dort ergatterte er ein paar Wochen vor dem Anschlag Beckhams Unterschrift, die er dann stolz in seinem Wohnviertel herumzeigte. Beckham verbindet. Er ist ein Mann nach jedem Maß: Der 28 Jahre alte Edelkicker verkörpert einen vielseitig kompatiblen Allzweck-Traum. Kleinkind und Oma, Männlein und Weiblein, Homo und Hetero verzehren sich nach dem vor lauter Glück leuchtenden Blondschopf mit den Extra-Kick. Das von Marketing-Experten perfektionierte emotionale Nobelkaufhaus Beckham hat prachtvolle Identifikationsangebote für unzählige Arten von Tagträumen auf Lager. (…) Becks sells: Zum Beispiel Mobiltelefone, Kleidung, Sportklamotten unter seinem eigenen Label, süße Limonade. Es gibt den duftenden Beckham mit den lackierten Fingernägeln und einem locker um die Hüften gewickelten Sarong als kickendes Vanilliekipferl für die konsumfreudige Karrierefrau. Es gibt den sexy Beau mit dem bezaubernden Boy-Group-Lächeln für schmachtende Teenager. Es gibt den Großverdiener (man schätzt ihn auf 26 Millionen Euro jährlich) für Leute mit Sinn für Kontostände. Und es gibt den treusorgenden Ehemann und den kinderhütenden Mustervater für die seufzenden Schwiegermütter. Das heißt – vielleicht muß das Unternehmen Beckham dieses Angebot bald aus dem Musterkoffer entfernen. Britische Blätter spekulieren bereits recht ernsthaft darüber, ob Beckhams aktuelle Bedrängnis das „Ende des letzten anständigen Mannes“ repräsentiere. Der Moralkollaps droht. Es sei denn, die Krise kann in eine neue Werberolle umgemünzt werden. Bisher fehlte nämlich im Angebot noch der verschmitzte Sünder mit dem unwiderstehlichen Charme, der umschwärmte Frauentyp, der zwar seine Familie liebt, aber den Versuchungen seiner schönen Anbeterinnen nicht immer widerstehen kann. Zwar mag die Frage nicht unwichtig sein, ob man dieses Muster auch den Konsumenten in Asien und den werblich noch zu erobernden Vereinigten Staaten zumuten kann. Doch schon scheint eine neue Parfüm-Kreation am Horizont aufzusteigen, etwa mit dem Namen „David’s Temptation“ und dem Werbesong: „Warum soll so was Schönes nur einer gefallen / Der Himmel, die Sterne gehör‘n doch auch allen …?“ Das neue Werbefeld ist bereitet. Zuvor freilich muß es Beckham noch gelingen, seine Ehefrau Victoria gnädig zu stimmen.“
FAS-Interview mit Oliver Bierhoff über Sport und Wirtschaft, Wirtschaft und Sport
FAS: Herr Bierhoff, was kann die Wirtschaft vom Sport lernen?
OB: Aus meiner Sicht lassen sich jede Menge Erfahrungen vom Sport auf die gegenwärtige Lage in Deutschland übertragen. Es gibt Parallelen zwischen dem Sport und der Wirtschaft. Es geht um Menschen. Viele gute Eigenschaften und Regeln, die auf dem Fußballplatz akzeptiert werden, sind jenseits des Rasens aber alles andere als selbstverständlich. Dabei gibt es viele Bereiche, die man vom Sport auf die Wirtschaft übertragen kann.
FAS: Zum Beispiel?
OB: Wettbewerb und Eigenverantwortung. Für jeden Profi-Fußballspieler ist der Wettbewerb wie ein Motor. Hätte ich diesen Wettbewerb nicht gehabt, wäre ich wahrscheinlich nie der erfolgreiche Fußballer geworden, der ich geworden bin. 1998, als ich in Italien Rekord-Torschützenkönig wurde, hatte ich die ganze Saison über ein Wettrennen mit Ronaldo von Inter Mailand. Das hat mich immer weiter angetrieben, mehr zu geben. Wettbewerb motiviert dich, er stachelt den Ehrgeiz immer wieder an. Für einen Leistungssportler ist das existentiell.
FAS: Im Sport finden das alle okay. Und in der Wirtschaft?
OB: Marktwirtschaft lebt davon, daß Menschen und Firmen miteinander in Konkurrenz treten – den Vorteil haben die Verbraucher. Alle profitieren. Und doch haben gerade in Deutschland Wettbewerb und Leistung für viele den Anschein des Unsozialen. Leistung wird im Wettbewerb erbracht. Es wundert mich, daß wir in Deutschland wie selbstverständlich den Leistungsgedanken im Sport akzeptieren und uns andererseits im Wirtschaftsleben oft schwer damit tun, Wettbewerb als Motor zu betrachten und Leistung anzuerkennen.
FAS: Woran liegt das?
OB: Ich kann nicht erklären, warum viele Menschen das im Wirtschaftsleben nicht so positiv sehen. Im Sport wollen die Menschen Leistung sehen, sie wollen Führungsspieler. Es ist merkwürdig, daß derjenige, der in der Wirtschaft herausragt, dagegen immer etwas skeptisch betrachtet wird. Dabei gilt im Fußball wie in der Wirtschaft: Wer diejenigen nicht fördert, die Verantwortung übernehmen, schwächt die Gesamtleistung und damit automatisch auch die Schwächeren.
Gütesiegel
Ingo Durstewitz ([ FR |
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/sport/sport/?cnt=423393 ] 20.4.) leidet mit dem FSV Mainz und Trainer Jürgen Klopp: “In Mainz geht die Angst vor dem großen Rückschritt um, all die so hart erarbeiteten Attribute wie Identität, Identifikation, Fußballkultur und Begeisterung stehen auf dem Prüfstand. Noch vor wenigen Monaten galten Spiele am Bruchweg als Erlebnisse, Mainzer Fußball galt als Gütesiegel, war mit dem Prädikat Powerfußball geadelt; das Spiel pulsierte, es war intensiv und leidenschaftlich. Trainer Jürgen Klopp, der Architekt des Erfolges, verordnete gefürchtetes Pressing: drei Spitzen, keine Atempause, volle Kanne Attacke. Spaßfußball wurde der wilde Stil genannt, es steckte verdammt harte Arbeit dahinter. Der Verein, jahrelang belächelt und Inbegriff der zweitklassigen Langeweile, hatte sich zu einer Marke gemausert, ja er galt als kultig, die Fans rannten dem Club die Bude ein (Zuschauerschnitt fast 15 000, Platz eins in Liga zwei), unlängst kamen 1500 zum Training. Von dem spektakulären Spiel ist nicht mehr viel geblieben, es wirkt holprig. „Uns fehlt der Esprit“, klagt Klopp. Mit Besorgnis ist im Mainzer Führungszirkel der stumme Protest der Fans nach der jüngsten Niederlage registriert worden. Trainer Klopp besänftigte die ruhige, aufgebrachten Schar mit beschwörenden Worten aus dem Megaphon. Szenen, die man so nicht kannte. Klopp prangert die überfrachtete Erwartungshaltung an. „Wenn wir unser Potenzial zu 100 Prozent ausschöpfen, können wir um den Aufstieg mitspielen – wenn nicht, dann nicht.“ Nach den beiden Nackenschlägen im Mai 2002 und 2003 habe keiner glauben sollen, das Projekt Aufstieg werde zum Selbstläufer: „Wir sind in dieser Saison besser als viele erwartet, aber nicht so gut, wie viele erhofft hatten.“ Natürlich wird jetzt, nach drei Jahren mit dem früheren Profi auf der Trainerbank, trefflich spekuliert, ob sich das „Modell Klopp“ abgenutzt habe, ob der Coach, nach drei verzweifelten Anläufen, den Aufstieg zu schaffen, nicht verbrannt ist. Es gibt viele, die dem eloquenten Schwaben, eine Art Hardcore-Motivator, raten, jetzt abzuspringen, es sei besser für seine persönliche Entwicklung. Mainz 05 steht vor einer Zerreißprobe, der Verein muss einen Hauptsponsor finden, die Stadionfinanzierung sichern und eine Bankbürgschaft über 800 000 Euro nachweisen. Die Lizenz für die zweite Liga ist gefährdet.“
Ronny Blaschke (SZ 19.4.) freut sich mit Erzgebirge Aue: „In der Zweiten Liga hat sich der Verein auf Platz sechs geschlichen, noch vor sieben Wochen war er auf Rang 17 versackt. Am Freitag siegte Aue zu Hause gegen Energie Cottbus mit 1:0. Es war ein heißblütiges Ostderby, das kurz vor dem Abbruch stand. Feuerwerkskörper hatten randalierende Cottbuser Fans auf den Rasen geworfen. Aues Serie aber wurde fortgesetzt: In den letzten sieben Spielen hat der FC Erzgebirge 18 Punkte gehamstert und nicht einmal verloren. Der FCE, schuldenfrei und erfolgreich, eine winzige Enklave im deutschen Fußball-Zirkus. Ein Wunder? „Eher harte Arbeit“, sagt Heinrich Kohl, Aues Bürgermeister. Ein erarbeitetes Wunder also? „Ja, so können Sie das schreiben.“ Kohl lacht, sie lachen in diesen Tagen alle in Aue, vermutlich sogar nachts unter der Bettdecke. Ganz Sachsen ist stolz auf seine kleinen Emporkömmlinge. Uwe Leonhardt sagt, der Klub betreibe „Außenpolitik für die Region“. Zum ersten Mal seit einem Jahr war das Erzgebirgestadion am Freitag wieder ausverkauft: 16 500 Menschen kamen. Es ist nicht die erste Statistik, die in diesem Jahr steil nach oben steuert. Mit 99 Sponsoren ist der Verein in die Saison gestartet, berichtet Bertram Höfer, Finanzchef beim FC Erzgebirge, mittlerweile sind es 160. Der Zulauf der Sponsoren ist enorm. 5,1 Millionen Euro beträgt das Budget, 2,7 Millionen werden von den Fernsehgeldern abgedeckt. Den Rest steuern mittelständische Unternehmen bei. Die Spanne der Zuschüsse reicht von 2 000 bis 300 000 Euro. Aue hat keine andere Wahl, hier gibt es keine Weltfirmen. Das Wismut-Kombinat, in dem 40 Jahre lang Uranerz gefördert wurde, liegt seit 1990 still. Es war die Zeit, in der die Fußballer ihren alten Namen ablegten; aus Wismut wurde Erzgebirge. Es war die Zeit, als die Klub-Führung wechselte und eine schleichende Entwicklung einsetzte beim FCE, der laut Uwe Leonhardt „Kultstatus hat und eine größere Tradition als Energie Cottbus“. Es ist vor allem das Verdienst der Zwillingsbrüder Uwe und Helge Leonhardt, des Vorsitzenden und seines Stellvertreters. Sie haben in der Abgeschiedenheit eine seriöse Politik gemacht, die nicht Erfolg für zwingend erklärt, sondern Solidität. „Ich kann mit Verantwortung umgehen, ich muss 800 Menschen ernähren“, sagt Uwe Leonhardt, der drei Maschinenbau-Fabriken leitet. Er kann es sich nicht erlauben, den größten Werbeträger der Region in den Ruin zu treiben. „Soll ich alles auf Rot setzen?“, fragt er, „ich bin hier verwurzelt. Wenn es schief läuft, dann kann ich nicht flüchten.““
Mike Szymanski (SZ 19.4.) besucht eine Nürnberger Ausstellung: „In der Vereinshymne des 1. FC Nürnberg heißt es: „Die Legende lebt, wenn auch der Wind sich dreht.“ Inzwischen weht den Club-Fans der raue Zweitliga-Wind um die Ohren. Und um die Legende, nun ja, um die ist es auch nicht gut bestellt. Vor dem Frankenstadion trägt nur ein liebloser Platz den Namen von Max Morlock, dem Rekord-Fußballer und Schützen des einst so wichtigen Anschlusstreffers im legendären WM-Finale von Bern 1954 gegen Ungarn. Als die Stadt ankündigte, die Namensrechte für das teuer umgebaute Frankenstadion an einen künftigen Betreiber abzugeben, hat sie viele Fans bitter enttäuscht. Die Club-Anhänger würden lieber ins „Max-Morlock-Stadion“ gehen. Da tut es der Fan-Seele gut, dass jetzt wenigstens das Museum Industriekultur dem Nürnberger Fußball-Idol eine Ausstellung widmet. Die Besucher bekommen vom 1. Mai an eine ehrgeizige Morlock-Ausstellung geboten, die es in diesem Umfang noch nicht gegeben hat. Mehr als 250 Exponate haben Museumsleiter Matthias Murko und „Club“-Experte Bernd Siegler zusammengetragen. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken ist, dass im Jahr 50 nach dem „Wunder von Bern“ in der Stadt überhaupt eine Ausstellung an Morlock erinnert, der 1994 im Alter von 69 Jahren gestorben ist. Neben seinem WM-Trikot von 1954 können Besucher die Uhr, den Motorroller und den Fernseher bestaunen, die damals alle WM-Spieler geschenkt bekommen haben. Das Bahn-Museum holt am 30. April sogar den Sonderzug nach Nürnberg, mit dem die Weltmeister seinerzeit aus der Schweiz in das völlig aus dem Häuschen geratene Deutschland zurückkehrten.“
Diego Armando Maradona ist in die Intensivstation eingewiesen worden; Josef Oehrlein (FAZ 20.4.) berichtet aus Argentinien: „Am Morgen hatte er noch einem Spiel um den Libertadores-Cup in seiner geliebten „Bombonera“, dem Stadion von Boca Juniors in Buenos Aires, beigewohnt. Am Abend lag Diego Maradona auf der Intensivstation des Schweizerisch-Argentinischen Krankenhauses, künstlich beatmet und „in kritischem Zustand“, wie es in einem Bulletin hieß. Extremer Bluthochdruck wegen Herzerweiterung hatte den Zusammenbruch hervorgerufen. Sogleich kursierte die Mutmaßung, der frühere Fußballstar Diego Maradona habe eine Überdosis Rauschgift genommen. Sein persönlicher Arzt Alfredo Cahe dementierte umgehend, die Herzschwäche stehe nicht im Zusammenhang mit Maradonas „Abhängigkeit“. In Erinnerung ist noch, wie Maradona am 4. Januar 2000, mitten im Hochsommer am Río de la Plata, im uruguayischen Badeort Punta del Este gleichfalls wegen Bluthochdrucks auf die Intensivstation einer dortigen Klinik gebracht werden mußte. Damals hatte er sich zuvor eine Überdosis Kokain einverleibt. Es ist nie klargeworden, ob die anschließende Entziehungskur in Kuba, während der Maradona freundschaftlichen Umgang mit dem Revolutionsführer Fidel Castro pflegte, Erfolg hatte. Trotz allen Bemühens der kubanischen Fachärzte und seines argentinischen Leibmedicus hat sich Maradona von dem Zusammenbruch vor vier Jahren allem Anschein nach nie richtig erholt. Auf Kuba verursachte er einen Verkehrsunfall, bei dem sein Fahrzeug völlig zerstört wurde, den er aber wie durch ein Wunder unverletzt überstand. Die Bilder vom Besuch der „Nummer zehn“ an diesem Sonntag in der Boca-Loge zeigen Maradona noch korpulenter als je zuvor, übermüdet und geschwächt. (…) Nach Bekanntwerden der Nachricht versammelten sich sogleich zahlreiche Fans vor der Klinik. Die ganze Nacht über wachte der engste Familienkreis bei ihm. Maradona war erst Ende März nach eineinhalb Jahren Abwesenheit nach Argentinien zurückgekehrt.“
Die größte musikalische Massenbewegung unserer Zeit
Ein Buch über Fan-Gesänge ist erschienen; Marc Baumann (SZ 20.4.) trifft den Autor: „Reinhard Kopiez hat die Macht gespürt. Und die Angst. Und das Glück. Wenn aus vielen tausend Menschen ein einziges großes WIR entsteht. Dieses Wir-Gefühl, das die kleinen Härchen auf den Armen abstehen lässt. Wenn die Menschenmasse zur Stromquelle wird, die den ganzen Körper elektrifiziert. Was der Professor der Musikpsychologie in den Fußballstadien in Dortmund und Bochum und München erlebt hat, nennt er „die größte musikalische Massenbewegung unserer Zeit“. Oder einfach nur „die wilde, entfesselte Horde“. Reinhard Kopiez hat ein Buch über Stadiongesänge geschrieben. Über Menschen wie Michael und Marco. Michael wird an diesem Sonntag ins Olympiastadion gehen, mit einem Megafon. In die Südkurve, wo der FC Bayern München nicht einfach nur ein Verein ist, und Fußball nicht einfach nur ein Spiel. Dort steht er und blickt auf den grünen Rasen und darüber hinaus, in die Kurve der Fans des TSV 1860. Dort wo Marco steht. Der sagt: „Beim Derby, da spürst du das Adrenalin lange bevor du das Stadion betrittst. Da ist nur Hass“. Den Hass steckt er in Lieder, nicht in seine Fäuste. Marco hat vor ein paar Jahren mit einem Freund die Fangruppe „Cosa Nostra“ gegründet, „weil der TSV 1860 mein ganzes Leben ist“. Auch er bringt ein Megafon ins Stadion, in die Nordkurve, wo am Sonntag die Fans der Löwen sitzen. Von Nord nach Süd und Süd nach Nord werden sie von Toren und Siegen und den Deppen gegenüber singen. „Aber statt singen sollte man korrekterweise von Schreigesang sprechen“, sagt Reinhard Kopiez, der einen Lehrstuhl an der Uni Hannover hat. Bis heute hat er mit einem Kollegen zusammen die einzige wissenschaftliche Studie zu diesem Thema geschrieben. Wenn er von den Fans erzählt, wenn er ihre Schlachtrufe aufsagt, dann singt er sie immer wieder kurz mit. Manchmal ist ihm das ein bisschen unangenehm. Michael Sturm, dem Vorsinger der Bayern, geht das genauso. Auch er kann nicht einfach nur erzählen, er muss anstimmen („FCB, FCB“), anfeuern („Attacke!“), anstacheln („Hier regiert der F-C- B!“) und diffamieren („ihr seid Sechziger, asoziale Sechziger“). „Aber das klingt jetzt komisch, wenn ich das so alleine singe“. Er hatte da gerade von den Wechselgesängen erzählt, und die gehen so: Michael nimmt sein Megafon und dann schreit er „Wir sind BAYERN!“. Dass muss man so schreiben, mit Ausrufezeichen und in Großbuchstaben, so mächtig. Und dann antworten ihm, dem 21-Jährigen, der noch Zuhause wohnt, Tausende. Und eine ganze Kurve schreit „Wir sind BAYERN!“. Und das sind sie dann auch. Und Michael Sturm gibt die nächste Zeile vor: „Kämpfen und Siegen!“ – und wieder antwortet die Kurve. Bis zu 6000 Menschen stehen darin, „laut wie ein Düsenflugzeug“, sagt Kopiez. Das ist sie, die Macht, die Reinhard Kopiez erlebt hat. Die ihn auch erschreckt hat. Wenn die Masse nicht für, sondern gegen einen Menschen schreit. „Die Fankurve ist keine Kuschelecke“, sagt der Musikpsychologe, „das sind raue Gesellen“. Mit einer klaren Hierarchie. Lieder anzustimmen ist ein Privileg. Die Masse folgt nicht jedem. Es gibt Spekulationen, dass die Menschen im antiken Rom, im Kolosseum, schon eine Art von Fankultur hatten. Aber nachweisbar gesungen wird erst seit 1963. Da haben die Fans des FC Liverpool die Refrainzeile des damaligen Hits „You“ll never walk alone“ aufgegriffen und gesungen. Das Lied singen sie bis heute, in München, Mailand und Madrid. Sogar im Iran, hat Reinhard Kopiez gehört, „gibt es eine fantastische Fußballkultur“. 1974 kamen die Stadiongesänge nach Deutschland, zuerst hörte man sie in Hamburg, das Seemannslied vom „Hamburger Fährmaster“.“