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| Dienstag, 27. April 2004Arsenal gewinnt vorzeitig die Premier League – FC Barcelona siegt in Madrid – Roberto Baggio , „der hamletische Zweifler“ (NZZ) u.v.m.
Klischee vom unterkühlten Fußball-Professor
Arsenal London ist souveräner englischer Meister – Raphael Honigstein (Tsp 27.4.) gratuliert: „Als der Champagner über den Rasen spritzte, Arsenals Verteidiger Kolo Toure übermütig Purzelbäume schlug, die französische Fraktion der Londoner zum Can-Can ansetzte und Patrick Vieira nur noch eine knappe Unterhose trug, konnten auch die verschränkten Arme von Trainer Arsène Wenger nicht mehr anders, als langsam in die Luft zu steigen. Ein Lächeln komplettierte die verhaltene Jubelgeste, irgendwie schien ihm diese spontane Meisterfeier beim Lokalrivalen nicht geheuer zu sein. Sein Team hatte soeben mit dem Punktgewinn in Tottenham drei Spieltage vor Saisonende den englischen Titel gewonnen und damit eine beispiellos gute Spielzeit gekrönt. Doch der Franzose bediente selbst in der Stunde des Triumphes das Klischee vom unterkühlten Fußball-Professor: Die Umarmung seiner erfolgreichen Spieler kostete ihn sichtliche Überwindung, körperliche Nähe sieht sein strenger Lehrplan nicht vor. Schon nach dem Schlusspfiff war der distanzierte Perfektionist im Gegensatz zu den vor Freude schreienden Kickern nicht in Richtung der Arsenal-Anhänger gelaufen, sondern enttäuscht vom Platz gezogen, weil er von seinen Schützlingen in der Abschlussprüfung mehr als eine Eins minus erwartet hatte (…) Während in Madrid das Experiment mit den so genannten Galaktischen gescheitert ist, ist im weniger betuchten Highbury die Quadratur des Kreises geglückt – Wenger hat Effizienz und kreative Schönheit, die Gegenpole im modernen Fußball, zu einem Gesamtkunstwerk geformt, „Fußball 3000“ wäre kein schlechter Name dafür. Sein 4-4-2-System spielt die ganze Welt, doch niemand zelebriert schnellen Angriffsfußball derart gekonnt. Beim Spiel von Arsenal ist stets alles im Fluss, alles in Bewegung, Positionen werden nur in der Rückwärtsbewegung gehalten, höhere technische Fähigkeiten und mehr Laufbereitschaft als in Wengers Team wird man lange suchen müssen. Dazu kommen Teamgeist, „Sehnsucht“ (Thierry Henry) und beispielhafte Disziplin – die einst hitzköpfigen Künstler sind zu „eiskalten Champions“ („Daily Telegraph) gereift. Geschäftsführer David Dein hat dem erfolgreichsten Arsenal-Trainer aller Zeiten einen Vertrag auf Lebenszeit in Aussicht gestellt. Am supermodernen Trainingsgelände sollen demnächst riesige Windbarrieren hochgezogen werden, damit Wenger auch im Winter Taktik üben lassen kann. Die Konkurrenz hat schon jetzt Gänsehaut.“
Christian Eichler (FAZ 26.4.) meldet, dass der FC Liverpool wieder zu den Großen aufschließen will – mit dem alten Trainer?: „Als Gerard Houllier sich letzte Woche rasierte, wäre das um ein Haar blutig abgegangen. Weil dabei nämlich das Radio lief und der Trainer des FC Liverpool, die Klinge in der Hand, Neues von seiner Klubführung erfuhr. Nein, nicht daß er entlassen wäre – sondern daß die Funktionäre überraschend beschlossen hätten, viel Geld für neue Spielereinkäufe in diesem Sommer bereitzustellen. „Ich hätte mich fast geschnitten“, sagte Houllier. „Mir gegenüber hatte das keiner erwähnt.“ Zum Vertrauen in die Sicherheit seines Arbeitsplatzes dürfte die Radiosendung trotzdem nicht beigetragen haben. Der englische Rekordmeister, dessen letzter Titelgewinn vierzehn Jahre zurückliegt, ist spürbar entschlossen, mit finanziellem Risiko den Rückstand auf Manchester United und Arsenal London endlich aufzuholen, nun, da auch noch der neureiche Emporkömmling Chelsea London zu enteilen droht. Nur ob man das dem französischen Trainer noch zutraut, wird immer fraglicher. Der neue Star unter Europas Trainern, José Mourinho vom FC Porto, um den auch der FC Chelsea buhlt, hat vor zwei Monaten offen erklärt, daß ihn der Job in Liverpool mehr reize. Als Alternativkandidat bei beiden Klubs wird Steve McClaren vom FC Middlesbrough gehandelt, der frühere Assistent von Alex Ferguson bei Manchester United. Doch Houllier gibt sich trotzig, seine Mannschaft tat es am Samstag auch. Mit einem 1:0-Sieg ausgerechnet bei Manchester United, dem ohne den verletzten Ruud van Nistelrooy harmlosen Serienmeister, wahrte Liverpool die Chance auf Platz vier und damit auf die Qualifikation für die Champions League. Vermutlich wird über diese lukrative Position erst am 15. Mai, im letzten Ligaspiel gegen Mitkonkurrent Newcastle United, entschieden – und damit wohl auch über die Zukunft von Houllier. Der Franzose schien nach dem Gewinn von UEFA-Cup und nationalem Cup 2001 die Zukunft des Vereins zu sein, wirkt aber immer mehr wie ein Mann mit Vergangenheit. Nach einer beinahe tödlichen Herzattacke kämpfte er sich mit großer Zähigkeit wieder zurück auf die Trainerbank, doch dort wirkt er seitdem zerbrechlicher, und sein Team ähnelt ihm. Einen wirklichen Treffer hat er schon lange nicht mehr gesetzt.“
Mit der Geduld eines Rastafari-Fischers und der Heiterkeit eines Zenmeisters
Real Madrid verliert das Heimspiel gegen de FC Barcelona (1:2); Georg Bucher (NZZ 27.4.) schwenkt weißes Tuch: „Nicht eben klassisch verlief die spanische Classique in Madrid, schon insofern, als sie sich eher in drei Drittel als in zwei Halbzeiten teilte. Oder liesse sich die Choreografie des Spiels mit der eines Stierkampfs vergleichen – mit Real Madrid in der Rolle des toro? In einer langen ersten Phase schien sich der FC Barcelona, auf Ballkontrolle bedacht, damit zu begnügen, die unlustig wirkenden Gastgeber nicht allzu sehr zu reizen. Doch mit der ersten Torchance in der 35. Minute explodierte die weisse Bestie. Der wilde Ansturm, der nun folgte, liess die cuadrilla aus Barcelona nicht immer gut aussehen; doch seine Vergeblichkeit musste mehr noch auf die Angreifer frustrierend wirken. In dieser Phase wurde der Torhüter Victor Valdés seinem Übernamen „die Krake“ gerecht: serienweise wehrte er die Madrider „Geschosse“ ab – einmal möglicherweise hinter der Torlinie –, bis er in der 53. Minute gegen Solaris Flachschuss machtlos war. Nur vier Minuten später jedoch glich, als wär’s ein Kinderspiel, der frisch eingewechselte Kluivert aus; und als in der 69. Minute Figo des Feldes verwiesen wurde, schienen die hochgezüchteten, eben noch Ehrfurcht gebietenden Königlichen das Spiel auf einmal gebrochenen Auges zu sehen. Sie hatten sich selbst schwindlig gespielt. Ein Paso doble hätte nun einsetzen können: der Todesstoss war nur noch eine Frage der Zeit. Er hatte die Form eines eleganten Lobballs, und der Matador hiess Xavi, drei Minuten vor Schluss auf magistrale Weise lanciert von Ronaldinho. Der Brasilianer, zur Vermehrung dessen Ruhms die Partie bestimmt schien, hatte gegen seine Bewacher über weite Strecken keinen Stich getan. Im entscheidenden Moment aber nützte er einen Stellungsfehler von Raúl Bravo, und das Bernabeu verstummte. (…) Trainer Frank Rijkaard, gewappnet „mit der Geduld eines Rastafari-Fischers und der Heiterkeit eines Zenmeisters“, wie der Schriftsteller Sergi Pàmies schrieb, hat binnen einiger Monate ein Team zusammengeschweisst, das sich durch jene spielerische Balance auszeichnet, die Real Madrid zurzeit vermissen lässt.“
Geste technischer Vollkommenheit
Paul Ingendaay (FAZ 26.4.) bestaunt den FC Barcelona: „Wie so oft in den vergangenen Wochen stellte sich der Brasilianer Ronaldinho, unterstützt von Kämpfern wie Puyol und Davids, als Hirn und Herz des FC Barcelona heraus. In der ersten Halbzeit von der konzentrierten Madrider Verteidigung zugedeckt, nutzte er die Freiräume, die nach Figos Platzverweis entstanden, spielte kluge Pässe und hatte in der letzten Viertelstunde der Partie sogar noch Luft für seine gefürchteten Sololäufe, bei denen er die Gegenspieler stehenließ wie Slalomstangen. Dem zweiten Tor der Katalanen durch Xavi ging ein genialer Heber Ronaldinhos voraus, eine „Geste technischer Vollkommenheit“, wie Rijkaard lobte. Der Brasilianer bekreuzigte sich und blickte dankbar zum Himmel. Bei Real Madrid werden nach der neuerlichen Niederlage harte Worte fallen, aber es ist unwahrscheinlich, daß sie etwas nützen. Trainer Carlos Queiroz, der nie mächtig war, hat kaum noch etwas zu sagen. Und was soll er tun, wenn die Vereinsführung sich hartnäckig weigert, Schlußfolgerungen aus den Mißerfolgen des letzten Monats zu ziehen? Beide Gegentore entstanden aus Steilpässen, bei denen ein Madrider Verteidiger nicht aufpaßte und die eigene Abseitsfalle zerstörte. Nicht nur ein technisch begrenzter Spieler wie Raúl Bravo, auch Roberto Carlos zählt zu den Enttäuschungen in der Defensive. Noch trüber fällt das Gesamtbild aus, das die Madrilenen zur Zeit bieten. Zidane ist physisch erschöpft und nur noch ein Schatten seiner selbst. Raúl spielt auf dem falschen Posten, zerreibt sich im Mittelfeldgewühl und schießt kaum noch aufs Tor. Ronaldos Gesundheit bereitet der Vereinsführung Sorgen. Und Beckham? Reden wir nicht von seinen echten oder angeblichen Affären. Fragen wir lieber, wozu Real Madrid einen Flankengeber von rechts braucht, wenn kein einziger Stürmer den Kopfball beherrscht. Während der Engländer planlos seine Kilometer herunterrennt, reiben sie sich beim FC Barcelona die Hände. Denn nur weil Beckham zum Erzrivalen Madrid ging, mußten die Katalanen jemand anders verpflichten. Sie kauften Ronaldinho.“
Walter Haubrich (FAS 25.4.) ergänzt: „Nachdem Barcelona seine lange Schwächeperiode offensichtlich überwunden hat, freuen sich die Spanier auf die alte Rivalität zwischen den Teams aus beiden Millionenstädten ihres Landes. Der neue sozialistische Ministerpräsident Zapatero macht aus seinen Sympathien für Barca keinen Hehl, während seine beiden Töchter zu Real Madrid halten. Seine Familie passe zumindest im Fußball so recht in das neue, von ihm so gewünschte pluralistische Spanien. Sein eher autoritärer Vorgänger Aznar ist Real-Madrid-Fan, und seine ganze Familie teilte seine fußballerischen Vorlieben. Was aber nicht heißen will, Madrid sei der Klub der spanischen Rechten und Barcelona, der der Linken. Die Vorstände der Fußballvereine bemühen sich – ideologiefrei und etwas opportunistisch – um gute Beziehungen zu den jeweils Regierenden.“
Sehr schön! Peter Hartmann (NZZ 27.4.) verabschiedet Roberto Baggio, „den hamletischen Zweifler“: „Baggio, geboren am 18. Februar 1967, war immer der Spieler der Massen, die er mit seiner Phantasie entzückte. Die Trainer auf seiner Berufsreise von Vicenza über Florenz, Juventus, Milan, Bologna, Inter nach Brescia behandelten ihn – das entnimmt man seinen Memoiren, einer eigentlichen Vendetta an seinen Peinigern – distanziert wie ein rohes Ei, manche mit offener Antipathie, weil er ihre Systemgläubigkeit störte, wie etwa Baggios Intimfeind Marcello Lippi. Baggio war „ein Balletttänzer, eine Kobra, ein Poet, ein Killer“ (Giorgio Tosatti im „Corriere della Sera“), und in all diesen verschiedenen Häuten zeigt er sich auch heute noch – mit 37. Die Widersprüchlichkeit Baggios fasste keiner besser zusammen als der verstorbene Juventus- Patriarch Gianni Agnelli. Er verglich seine fussballerischen Pinselstriche mit dem grossen Renaissance-Maler Raffael, aber seine sanfte, verstockte Introvertiertheit reizte ihn manchmal bis zur Weissglut, und er beleidigte ihn als „coniglio bagnato“ (begossenes Karnickel). Ein Ausdruck für Feigheit, zugleich eine Verspottung der Jagdleidenschaft Baggios, der auch nach seinem Übertritt zum Buddhismus ein riesiges Pachtrevier in Argentinien unterhält. Einmal haben ihn die Carabinieri gebüsst, weil er nachts in der Nähe seines Wohnorts Caldogno in Veneto mit den aufgeblendeten Scheinwerfern seines Fuoristrada Hasen aufscheuchte. Dieser Gewaltausbruch warf ein neues Licht auf den scheuen, schwierigen Schweiger.“
Europas Fußball vom Wochenende: Ergebnisse – Tabellen – Torschützen NZZ