Ballschrank
Gebräu von Besserwissern
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| Dienstag, 1. Juni 2004Kritik an Stielikes Rotation gegen Schweden, „probieren, rotieren, verlieren“ (FAZ) – Tschetschenen (Terek Grosny) gewinnen russisches Pokal-Finale – RW Erfurt und Dynamo Dresden steigen in die zweite Liga auf u.v.m.
Probieren, testen, schonen
U21-EM – Deutschland verliert gegen Schweden 1:2, Michael Ashelm (FAZ 1.6.) beäugt Uli Stielike: „Als die Sache gelaufen war, stellte sich die Sinnfrage. Was hat Stielike das gebracht? Fußball ist ein Spiel voller Überraschungen. Wer weit kommen will und große Ziele hat, muß zwangsläufig ein gewisses Maß an Risiko eingehen. Doch der Fall von Mannheim wirkt wie ein Kuriosum, was der Trainer der deutschen „U 21″-Nationalmannschaft so natürlich nicht sehen mag: „Ich bin als Nachwuchstrainer und -förderer angestellt, und ich kann nicht Spieler fördern, die auf der Bank sitzen“, sagte Stielike. Daß er nach dem Auftakterfolg gegen die Schweiz neun neue Spieler in der Anfangsformation aufbot und nur Christoph Preuß und Torwart Tim Wiese als konstante Größen auf dem Platz beließ, hat kurzzeitig eine Grundsatzdiskussion ausgelöst. Was ist bei dieser Meisterschaft im eigenen Lande höher zu bewerten, ein breit angelegter Erfahrungsgewinn oder die Ausrichtung auf den sportlichen Erfolg? (…) Probieren, testen, schonen – so könnte Stielikes Rotationsprinzip bei dieser Meisterschaft im eigenen Lande zu verstehen sein. Der 49 Jahre alte Fußballehrer kritisiert, daß die Jungprofis kurz nach einer langen Vereinssaison innerhalb von sechs Tagen drei wichtige Begegnungen bei dieser Nachwuchs-EM absolvieren müssen: „Das wird keinem Erwachsenen zugemutet.“ Stielikes Spieler wollten dessen Wechseltaktik nicht näher erläutern, aus dem einen oder anderen Kommentar ließ sich aber zumindest Verwunderung heraushören. „Dazu sage ich lieber nichts“, sagte Torwart Wiese. Vielleicht liegt Stielike am Ende richtig, als Erkenntnis aus den ersten beiden Turnierspielen möchte er nun jedenfalls einen dritten Weg gehen und mit einer personellen „Mixtur“ gegen Portugal antreten.“
Frank Nienhuysen (SZ 1.6.) berichtet den Sieg der tschetschenischen Mannschaft Terek Grosny im russischen Pokal-Finale: „So friedlich kann es sein, wenn Tschetschenen und Russen gegeneinander kämpfen. Als die Männer von Grosny in Moskau stürmten und schossen, ist niemand tot umgefallen, und die wenigen Verletzten klagten allenfalls über Schmerzen am Sprunggelenk oder den Adduktoren. Es wurde ja auch Fußball gespielt diesmal, wenngleich es um sehr viel ging, um sportliches Ansehen natürlich, aber auch um politisches. Ausgerechnet Terek Grosny, der Klub aus dem vom Krieg zerstörten Tschetschenien, hat mit einem 1:0-Sieg gegen Krylja Sowjetow Samara das russische Pokalfinale gewonnen. Andrej Fedkow, der das entscheidende Tor erst in letzter Spielminute schoss, enthüllte im Moskauer Stadion zusammen mit seinen Mannschaftskollegen ein überdimensionales Porträt des schnauzbärtigen Muftis Achmad Kadyrow. Der bisherige Präsident des Klubs und der kaukasischen Republik nämlich konnte das Endspiel seines Vereins nicht mehr miterleben: Er war zwei Tage vor dem Halbfinal-Sieg auf der Stadiontribüne von Grosny bei einem Bombenanschlag getötet worden. Es sind also schwierige Bedingungen, unter denen sich der Klub aus Grosny im russischen Fußball behaupten muss. Die Republik samt Sportstätten ist durch zwei Kriege zerstört, die Heimspiele muss Terek Grosny aus Sicherheitsgründen außerhalb Tschetscheniens austragen, im südrussischen Pjatigorsk. Das hat immerhin den Vorteil, dass der Verein auch für russische Spieler interessant geworden ist, die inzwischen die Mehrheit des Teams stellen. Denn nach einem Bericht der Moscow Times hat Terek Grosny ein Budget von respektablen drei Millionen Dollar, und das Gehalt wird von der pro-russischen Führung in Tschetschenien angeblich pünktlich überwiesen. Dies alles hat der Verein letztendlich Kremlchef Wladimir Putin zu verdanken. Moskau hatte veranlasst, dass Terek Grosny vor vier Jahren in den russischen Fußball wieder eingegliedert wurde – nachdem der Klub zu Beginn des Krieges 1994 verbannt worden war. Moskau wollte so etwas wie Normalität vorgaukeln – die Kämpfe seien zu Ende, nun könne auch wieder Fußball gespielt werden.“
Ein Gebräu von Besserwissern
Ronny Blaschke (BLZ 1.6.) freut sich über den Aufstieg RW Erfurts und Dynamo Dresdens in die Zweite Liga: „Es sind zwei Geschichten. Sie spielen vor verschiedenen Kulissen, mit verschiedenen Darstellern. Und doch haben sie die gleiche Handlung. Am Ende steht das Glück. So überschwänglich, wie es selten im Fußball zu sehen ist. Tausende fluteten in Erfurt und Dresden die Spielfelder, sie sprangen über Zäune, das war nicht verboten, es war erwünscht. Sie feierten die Flucht aus der Regionalliga. In Erfurt, am Sonnabend, besiegte der FC Rot-Weiß den 1. FC Saarbrücken 2:1, vor 20 000 Zuschauern, so viele Menschen waren zuletzt vor 16 Jahren ins Steigerwaldstadion gekommen – der Gegner hieß BFC Dynamo, eine Eintrittskarte kostete 1,10 Ostmark. Erfurt steigt aus der Südstaffel in die zweite Liga auf, zwölf Jahre Versteckspiel haben ein Ende. Es lag an den Farben, dass das Glück tags darauf an anderer Stelle eindeutig zu identifizieren war. Nicht rot und weiß, sondern gelb und schwarz war das Meer der Menschen in Dresden gekleidet. 1:0 hatte der 1. FC Dynamo, achtmaliger DDR-Meister und gestählt in 98 Europapokalspielen, in der Nordstaffel den VfR Neumünster geschlagen; nur noch theoretisch ist die Beförderung in die zweite Liga zu verhindern. Neben Cottbus und Aue werden mit Erfurt und Dresden zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder vier Teams aus den neuen Ländern in der Liga vertreten sein. René Müller muss weit ausholen, um die Renaissance zu erklären. Er sitzt in seinem Büro auf einem verbleichten Sessel, in der Geschäftsstelle von Rot-Weiß Erfurt, einem grauen Betonklotz, wie auch einer in Dresden steht. Müller, 45, hatte es weit gebracht im DDR-Fußball, er war Nationaltorwart, eine Art ostdeutscher Sepp Maier. Seit dieser Saison ist er Trainer in Erfurt, den Aufstieg hätte er selbst nicht für möglich gehalten, nicht den seines Teams und auch nicht den der Dresdner, für die er jahrelang spielte. Müller ist ein hervorragender Redner, er spricht gerne in Bildern. Er sagt: „Sechs Oxford-Studenten gehen zu IBM, top-studiert, mit perfekten Koteletten. Ein Gebräu von Besserwissern. Aber sie kriegen nichts geregelt, weil sie sich nicht unterordnen können. So war es nach der Wende auch in den Ost-Vereinen.“ Müller spielt auf die Vergangenheit an, als Unternehmer mit zweifelhaftem Ruf über den Osten kamen. In Erfurt hinterließem sie 1,5 Millionen Euro Schulden, in Dresden neun Millionen. Trainer wurden verschlissen, Funktionäre wie Schachfiguren verschoben. In Leipzig gipfelte der schleichende Verfall im Nichts, in Erfurt und Dresden gelang die Wende zum Guten. René Müller und Christoph Franke, Dresdens Trainer, vertrauen auf junge Spieler aus der Region, ihnen bleibt nichts anderes übrig. Der entscheidende Fortschritt aber wurde in den Vorstandsetagen vollbracht. Die Geschäfte werden nun von lokalen Größen geführt, wie in Rostock und Cottbus, von Leuten, die Umfeld und Strukturen kennen.“
Wer sind die Stars der EM 2004? Vielleicht der Bulgare Dimitar Berbatow, meint Wolfram Eilenberger (Tsp 1.6.): „Wenn er den Ball eng von der Brust tropfen lässt, eine runde Drehung aus der Hüfte schwingt, den Torwart umtanzt, um dann den Ball in aller Seelenruhe neben das Tor zu schieben, dann ist das wieder ein Moment, in dem sich die Frage nach dem mentalen Aufenthaltsort von Berbatow stellt. Wachrütteln möchte man ihn dann – und ganz fest an die eigene Brust drücken. Ob es sich bei Berbatows romantischer Versonnenheit um eine Platzattitüde oder schlicht seinen Charakter handelt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls lässt sein verlorener Blick Mädchenherzen höher schlagen und verführt selbst härteste Innenverteidiger zu Unaufmerksamkeiten. Immer wieder versteht es der Bulgare, sich davonzuschleichen. Berbatow liebt das körperlose Spiel, stößt gerne von den Strafraumecken ins Zentrum und meidet selbst beim Kopfballduell das gemeine Gezerre. Mit 1,88 Meter und 79 Kilo – die klassischen Van-Basten-Maße – verfügt er über einen idealen Stürmerkörper, und obwohl er keine ausgesprochenen Stärken besitzt, regt alles an seinem Spiel die Fantasie an. Stets weich in seinen Bewegungen und mit guten Kombinationsblick nährt die Leichtigkeit seiner Ballbehandlung noch beim größten Versagen den Gedanken, aus dem Jungen könnte mal ein ganz Großer werden.“