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Fußball bedeutet Europa
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| Mittwoch, 9. Juni 2004Fußball bedeutet Europa (FAZ) – Sinn und Form des Torjubels (FR) – Tagesspiegel-Interview mit Otto Schily u.v.m.
Michael Horeni (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.) befasst sich mit der Bedeutung des Fußballs für Europa: „2004 wird als das Jahr Europas in die Geschichte eingehen. Über die Europa-Begeisterung der Menschen sagt das jedoch noch lange nichts. Der Kontinent hat zwar mit der Erweiterung im Mai zu sich selbst zurückgefunden, wenn aber am kommenden Sonntag in einer auf 450 Millionen Einwohner erweiterten Union erstmals gemeinsam über das künftige Parlament in Straßburg abgestimmt wird, dürfte die Wahlbeteiligung trotzdem bescheiden bleiben. Die Völker zieht es mit ökonomischer Macht nach Europa, aber das Einigungsprojekt vermag die Herzen nicht zu entflammen. Die europäische Leidenschaft wird an diesem Wochenende vielmehr spielerisch geweckt. Die Fußball-Europameisterschaft, die am Samstag mit der Partie von Gastgeber Portugal gegen Griechenland beginnt, bringt sechzehn Ländern, die sich politisch und wirtschaftlich nahe wie nie stehen, auch emotional zusammen. Selbstverständlich ist der Fußball, wenn der Ball am Samstag in Lissabon im Estádio da Luz endlich rollt, vor allem bei sich selbst. Er hat nicht die Aufgabe, eine pädagogische Mission für ein geeintes Europa zu erfüllen, sondern muß einen sportlichen Erben für Europameister und Titelverteidiger Frankreich finden. Aber dennoch besteht um rund vier Wochen Fußball die Chance, daß sich die neuen Nachbarn mit ihren Eigenheiten noch ein bißchen besser kennenlernen und daß dabei nicht wie einst im Mai vor allem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Subventionsfragen und Abwanderungsszenarien im Mittelpunkt stehen. Sondern die weichen Faktoren im erweiterten Standort Europa: natürlich die sportlichen Qualitäten der Fußballauswahlen, aber auch die Begeisterungsfähigkeit der Menschen sowie ihr Talent, mit Siegen, mit Niederlagen, mit sich erfüllenden oder enttäuschten Hoffnungen umzugehen.“
Vorsicht, Feuilleton! Christian Thomas (FR 9.6.) analysiert Sinn und Form des Torjubels: „Bobic war in den Augen derer, die ihn zuletzt scharf beobachteten, auf einem erstaunlichen Weg. Bobic, so weiß es die Fußballwelt, ist ein Stürmer des Hauptstadtvereins und Fußballbundesligaangehörigen Hertha BSC, ein zuletzt alles andere als erfolgreicher Torschütze. Und doch, wenn man den Nationalspieler Bobic zuletzt gelegentlich als Torjäger erfolgreich sah, dann begleitete man ihn als Augenzeuge auf einem erstaunlichen Weg, zum Beispiel mit gereckter Faust und urschreiend auf dem Weg hinter des Gegners Tor, in Richtung Gitter, an dem die Fans rüttelten. Bobic hat alle Anlagen, die ein spektakulärer Jubler mitbringt. Er weiß, dass er sich als Torschütze ein nur begrenztes Repertoire an Jubelgesten nicht leisten kann. Gerade Goalgetter sind heute, wenn sie sich ans Triumphieren machen, zum Gestaltwillen verdammt. Etwas anders gesagt: Ein Torschützendasein, das Zukunft beansprucht, lässt sich in den Arenen der Gegenwart nur noch als ein Verhalten denken, das mit Blick auf seine mimischen und gestischen Möglichkeiten mental vollständig auf der Höhe ist. Das lehrt nachdrücklich bereits der Bundesligaalltag – erst recht aber wird das eine Fußball-EM vor Augen führen, die dem Bürger vormacht, wie sehr das Fußballspiel aus nichts anderem besteht als dem Versuch einer erfolgreichen Bewältigung risikoreicher Herausforderungen. Was also dürfen wir von der vor uns stehenden Fußball-Europameisterschaft erwarten, wenn nicht einen dreiwöchigen Krisengipfel! Dass das nicht übertrieben ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass jedes Fußballspiel, ob im berüchtigten Hexenkessel oder in irgendeinem dunklen Hinterhof, aus einem Zusammenprall von purem Zufall und strategischem Bemühen besteht. Selbst der genialste Spielzug garantiert ja nicht den Torerfolg; aber der dümmste Dusel kann Ursache für den totalen Triumph sein. Philosophisch gesehen, bestehen selbst die erfolgreichsten 90 Minuten aus einer Aneinanderreihung „krisenhafter und darum notorisch riskanter Leistungen“ (so der Philosoph Martin Seel). Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass das Fußballspiel für jeden der 22 Akteure die Konfrontation mit dem Ungewissen heraufbeschwört. Jedes Match beruht auf der ununterbrochenen Anstrengung, das Zufällige zu minimieren. Denn das Fußballspiel ist alles, was an Kontingenz der Fall ist. Es gibt Akteure, die genau dies, noch bevor sie ins reife Fußballalter eintreten, ahnen (oder sogar wissen). Und es gibt eine Szene, die genau dies deutlich macht – das sind die Sekunden des Jubels. Denn wie auch immer ernst oder lächerlich er ausfallen mag: Im Jubel wird nicht nur der Triumph des Gelingens gefeiert, sondern, ob nun selig oder verbissen, ein noch viel größeres Wunder zelebriert: die Überwindung der Kontingenz. Der Jubel also eine Handlung aus dem Geist der Erleichterung? Dass ihm dann doch nicht nur edle (und faire) Motive zu Grunde liegen, darüber hat jetzt der Kulturjournalist Andreas Höll ein Buch publiziert: Halbzeiten für die Ewigkeit. Über die wichtigste Nebensache der Welt. Hölls Buch, das nicht allein diesen Aspekt unter die Lupe nimmt, liefert zum Thema der „Triumphgesten“ eine umfangreiche und kritische Anschauungskunde. (…) Wenn an dieser Stelle, nur ein paar 90 Minuten vor dem ersten EM-Endrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft, von den Sonderbarkeiten des Torjubels gesprochen wird, dann möge der Feuilletonleser dies verzeihen. Es geschah weder aus nationalem Sadismus oder, die Fähigkeiten unseres Teams vor Augen, aus chauvinistischem Masochismus. Vielmehr zur Anerkennung der Tatsache, dass Europa erst kürzlich noch größer geworden ist, gehört nachgerade die Toleranz gegenüber einem gesamteuropäischen Jubel, auch wenn Deutschland in dieser Hinsicht tatsächlich ein Einwanderungsland sein sollte. Das mag man die groteske Seite des Problems nennen. Eine bestürzend freudlose aber tut sich ebenfalls auf: Denn da in besonderer Weise das deutsche Spiel, stärker als das anderer Nationen, seit einigen Jahren von extremen Mängelwesen geprägt wird, darf man auf den Jubel deutscher Torschützen umso mehr gespannt sein. Denn in einem anthropologischen Sinne darf man für diesen seltenen Fall prophezeien, dass wenigstens im Jubel ein wenig Leben ins Spiel des deutschen Kontingenzfußballs kommt. Und sei es nur deshalb, weil sich dadurch eine furchtbare Ahnung und ein bedrohliches Wissen unterdrücken lassen.“
Ein kräftiger Einwurf von Fritz Tietz (taz 10.6.): „In zwei Tagen beginnt die EM, wie man mal die Fußball-EM abzukürzen pflegte. Heute wird die EM allenthalben EURO gerufen, während allerdings die WM, abgekürzte Weltmeisterschaft, weiterhin WM heißt. Aber wie lange noch? Längst brüten vermutlich die Kreativabteilungen der Fußballvermarkter auch für die WM ein flotteres Kürzel aus. Um da das Schlimmste zu verhindern, melde ich hiermit schon mal die (für alle Schreibweisen geltenden) Urheberrechte für WELTI oder WELTO an. Doch es wird nichts nützen. Am Ende werden sie etwas noch Dämlicheres kreiert haben. So wie sie schon die doofen Grinsebälle erfanden, die die deutschen Ausrichter zum Srignet für die WM 2006 erhoben. Dieses grafische Verbrechen hat man vorher schließlich auch nicht für möglich gehalten. (…) Wie die Deutschen abschneiden, brauche ich hier niemandem zu erzählen: Sie kassieren in der Vorrunde drei saftige Packungen, deren höchste die gegen die Letten sein wird. Kahn schmeißt entnervt die Klotten hin und lässt gegen Tschechien Lehmann ran. Doch auch der wird gegen die völlig desorientierte deutsche Hintermannschaft nichts ausrichten können. Der Rest ist Faulobsthagel und die Schmach der vorzeitigen Heimreise inklusive einer ziemlich hochkantigen Demission Rudi Völlers. Ottmar Hitzfeld wird neuer Bundestrainer.“
Wir Deutschen sollten endlich lernen, mit der Wirklichkeit umzugehen und nicht alles schwarz zu malen
Tagesspiegel-Interview (10.6.) mit Innenminister Otto Schily
Tsp: Haben Sie noch Hoffnung für die EM?
OS: Entscheidend wird das erste Spiel gegen Holland sein. Ich tippe auf ein 2:1 für uns. Michael Ballack schießt ein Tor, Lukas Podolski auch – hoffentlich.
Tsp: Kann Fußball die Depressionen eines Landes heilen?
OS: Aus unseren Depressionen müssen wir schon alleine herauskommen. Siege im Fußball können das Selbstwertgefühl eines Landes stärken. Aber wichtiger ist, dass wir Deutschen endlich lernen, mit der Wirklichkeit umzugehen und nicht alles schwarz zu malen.
Tsp: Die Fußball-EM in Portugal dürfte Sie nicht nur als Sportminister interessieren.
OS: Auch als Innenminister, richtig. Die Sicherheit von Sportveranstaltungen wird immer wichtiger. Die Portugiesen nehmen das sehr ernst. Ich bin froh, dass in Großbritannien bereits scharfe Maßnahmen gegen Hooligans ergriffen wurden. Auch wir sorgen dafür, dass gewalttätige Fans aus Deutschland möglichst nicht nach Portugal anreisen.
Tsp: Wie wollen Sie das machen?
OS: Bereits im Vorfeld setzen die Landespolizeien präventive Maßnahmen wie Gefährderansprachen oder Ausreisebeschränkungen ein. Das hat sich bei der Euro 2000 sehr bewährt. Wir haben außerdem eine eigene Polizeidelegation in Portugal, die die Szene gut kennt und die den portugiesischen Sicherheitsbehörden hilft, potenzielle Täter von Stadien und Innenstädten fernzuhalten.
Tsp: Kann man so gigantische Sportveranstaltungen wie eine Fußball-EM oder Olympische Spiele hundertprozentig sichern?
OS: Hundertprozentige Sicherheit kann es nie geben. Kurz nach den Anschlägen am 11. September 2001 haben die Amerikaner die Olympischen Spiele in Salt Lake City organisiert. Dabei wurde eine hohe Sicherheit gewährleistet, ohne dass die Spiele und deren Stimmung beeinträchtigt wurden. Daraus können wir lernen.
Tsp: Was können Sie lernen?
OS: Die Art und Weise, wie die Kontrollen in Amerika durchgeführt wurden, war vorbildlich. Alle Ordner waren freundlich, sie haben trotz aller Akribie gelächelt oder eine nette Bemerkung gemacht. Strenge Sicherheitskontrollen durch freundliche Sicherheitskontrolleure – dafür haben die Menschen dann auch Verständnis. Einen schroffen Befehlston müssen wir vermeiden.
Tsp: Was ist darüber hinaus wichtig, wenn man eine Sportveranstaltung sichern will?
OS: Die Zugangskontrollen müssen absolut wasserdicht sein, man muss wissen, wo welche Fans ins Stadion kommen und ob sie da hingehören. Das muss überwacht werden. Außerdem ist es notwendig, die Sportlerquartiere gut abzusichern.“
Bastürk ist einer, der sich seines Wertes bewusst ist
Klaus Rocca (Tsp 10.6.) freut sich auf Yildiray Bastürk: „Sein Outfit passte nicht so recht zu den feierlichen Mienen seiner neuen Arbeitgeber. Zum bei Fußballern offenbar obligaten Goldkettchen trug er verwaschene Jeans und ein T-Shirt – Yildiray Bastürk gab sich lässig. Und selbstbewusst. Eben wie einer, der sich seines Wertes bewusst ist. Eines Wertes, der ihm in den letzten Tagen immer wieder bestätigt wurde, weil Klubs wie Celtic Glasgow und solche aus seiner türkischen Heimat um ihn warben. Auch Werder Bremen, der Deutsche Meister. Die Aussicht, demnächst in der Champions League zu kicken, hätte für Bastürk eigentlich verlockend gewesen sein müssen. Doch er entschied sich für Hertha BSC, jenen Klub, der in der vergangenen Saison so mühsam gegen den Abstieg gestrampelt hatte. „Mir hat sehr imponiert, was Hertha vorhat“, sagte Bastürk, nachdem er beim Fußball-Bundesligisten seine Unterschrift unter den Dreijahresvertrag gesetzt hatte. (…) Dabei könnte der 25-Jährige, nur 168 Zentimeter groß, der Hertha-Kasse viel Geld bescheren. Ist doch die türkische Gemeinde in Berlin riesig. „Das war ein sehr positiver Nebenaspekt dieser Verpflichtung“, sagte Hoeneß gestern bei der Präsentation Bastürks mit freudigem Blick auf die beachtliche Schar türkischer Journalisten und Kameraleute. Zur Erinnerung: 1979/80 hatte Hertha mit Engin Verel schon einmal einen Türken unter Vertrag. Hoeneß: „Ausschlaggebend waren diesmal die sportlichen Aspekte.““
Silvia Henke (FR 9.6.) liest ein Buch des Kulturwissenschaftlers Klaus Theweleits: „1942 geboren, erlebt Theweleit Nachkriegsdeutschland als Flüchtlingskind im ehemaligen Osten; Deutschland wurde für ihn über magische Fußballnamen aus dem Luftraum der Rundfunkstationen gerastert und die sonntäglichen Fußballergebnisse der Oberligen waren Magie, Schicksal, Welt. Das bleibt auch für mich nachvollziehbar. Atemlose Stille im Auto bei der Rückkehr von sonntäglichen Ausflügen, die Fußballübertragungen beanspruchten jeden Zoll Luft im Familientross. Dann aber kommt der wesentliche Geschlechterunterschied: Auf der Straße greifen Mädchen den Ball mit Händen, um ihn sich zuzuspielen, während für die Buben das Kicken mit den Füßen beginnt. Folgt man Theweleits Kindheitsbericht, war der Ball (oder alles Ballähnliche) die einzige Möglichkeit für Knaben, sich nicht zu verprügeln. Aber natürlich erklärt dies die weltumspanndende Faszination für den Fußball nicht, aus der in den letzten Jahren zig historische, kultursoziologische und auch pseudowissenschaftliche Untersuchungen hervorgegangen sind. Theweleit kennt und nennt sie alle, von Dietrich Schulze-Marmelings Buch Der gezähmte Fußball über Christoph Bauseweins Geheimnis Fußball zu Christiane Eisenbergs Fußball, soccer, calcio bis zu Diego Maradonnas Memoiren: die Liste der Bücher, die sich jetzt neben Nüsschen und Bier als geistiges Futter in den Fußballstuben einfinden können, ist lang. Warum also noch ein Buch über Fußball als Realitätsmodell? Vom Autor der Männerphantasien würde man zunächst erwarten, dass er das System Fußball ideologiekritisch durchlöchert und innerhalb der großen Apotheosen des Weltsports eine kritische Reduktion vornähme. Dass er den Kampfsport als Militärersatz ausweisen würde, dem heimlichen Sexismus und Chauvinismus des „Realitätsmodell“ Fußball nachspürte, Finanzskandale und die gewalttätigen Ausschreitungen brutalisierter männlicher Massen kanzelte. Dem ist aber nicht so. Was Theweleits Perspektive auf den Fußball ausmacht, sind zwei positive, fast euphorische Befunde: zum einen, dass Fußball – wie Kino und Rockmusik – in seiner Verkoppelung von Körpergefühl und technischer Übertragung verlebendigend wirkte und wirkt. Wer Fußball aus Gründen des guten Geschmacks herablassend taxiert, gehört, so Theweleit, zur Kategorie seiner Lehrer aus den 50er Jahren, die in Folge ihres eigenen Abgestorbenseinsein alles ahndeten, was lebendig war. Der zweite Befund, der diese anarchische Bejahung des Ballenbolzens notwendigerweise ergänzt und korrigiert, ist die zivilisatorische Wirkung des Fußballspiels – vom Pausenhofkicken bis zu den WM-Spielen. Das utopische Prinzip für diese zivilisatorische Wirkung ist das Prinzip der Fairness, das den modernen Fußball kennzeichnet. Das Prinzip, das Feinde in Gegner verwandelt, das Prinzip des Unparteischen und der Überprüfbarkeit sämtlicher Regeln. Damit wird der moderne Fußball zu dem, was Theweleit als Utopie vorschwebt, die das Realitätsmodell übersteigt. Und seit im Fußball – in Deutschland spätestens mit Bundestrainer Helmut Schön – auch die Intelligenz Einzug gehalten hat, ist er kontinuierlich humaner, artistischer, femininer, demokratischer, raffinierter, interkultureller, sogar schwuler geworden. Fußball also nicht als Reflex gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern als eigenes Aktions- und Experimentierfeld. Weil er primär Spielraum und nicht Kampfzone ist, wird Fußball somit bei Theweleit zum Modell für eine offene Gesellschaft.“
Besprochenes Buch:
Klaus Theweleit: „Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 230 S., 8,90 Euro.