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Deutsche Elf

Dumpfbackigkeit, Denkfaulheit und Bewegungsarmut

Oliver Fritsch | Donnerstag, 10. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Dumpfbackigkeit, Denkfaulheit und Bewegungsarmut

„die deutsche Innenverteidigung mit Jens Nowotny und Christian Wörns könnte man sich auch in einem sporthistorischen Museum vorstellen“ (NZZ) – Michael Ballack ist quasi eine 24 (Spiegel) – „im Falle des Misserfolgs würde der Sturm von 2002 zu einem Orkan anwachsen“ (SZ) – FAZ-Interview mit Franz Beckenbauer – Retorten-Fans, für Mitglieder des Fanclubs Nationalmannschaft gibt es 25 Prozent Rabatt auf das aktuelle Nationaltrikot (FR) u.v.m.

Dumpfbackigkeit, Denkfaulheit und Bewegungsarmut?

Deutschland darf nicht ausscheiden! Ludger Schulze (SZ 9.6.): „Knapp vier Jahre ist es her, dass die Nationalmannschaft mit ihrem Abschneiden (ein Punkt, ein Tor in drei Spielen gegen Rumänien, England und Portugal) ein ganzes Land beleidigte, als sei dessen höchstes Kulturgut zertrampelt worden. In den Feuilletons wurden Überlegungen angestellt, ob sich im deutschen Fußball nicht der Zustand der Gesellschaft spiegele: allgemeine Dumpfbackigkeit, Denkfaulheit und Bewegungsarmut. Kurz vor dem Zerplatzen des Neuen Markts wurde die Parallele gezogen zwischen wirtschaftlichem Stillstand und zitternden Kickerbeinen. So dramatisch war die Lage, dass Bundeskanzler Schröder die nachfolgende WM-Bewerbung für 2006 zur absoluten Chefsache machte. Im übrigen, hieß es an den Schaltstellen von Sport und Politik, dürfe sich so etwas nicht wiederholen. Nie mehr. (…) Ein triumphaler Erfolg bei dieser EM widerspräche den Gesetzen der Logik. Im Falle des Misserfolgs allerdings würde der Sturm von 2002 zu einem Orkan anwachsen, welcher der Nationalmannschaft zwei Jahre lang ins Gesicht blasen würde. Denn die WM 2006 ist das Maß der Dinge im Fußball-Land Deutschland. Ein großer Teil des öffentlichen Lebens hat deren Takt aufgenommen, die Wirtschaft misst ihre Zielvorgaben daran, der zarte Aufschwung soll dann in Boom-Euphorie umschlagen. Von einer Fußballmannschaft ausgelöste depressive Stimmung wäre deshalb weit mehr als nur ein sportlicher Unfall. Es wäre ein Schock für eine Nation, die sich just in diesen Tagen sehnsuchtsvoll an ihre Wiedergeburt erinnert – vor 50 Jahren, durch den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954.“

Verbeissen in den Gegner, kämpfen bis zum Umfallen

Martin Hägele (NZZ 10.6.) deckt Deutschlands Mängel auf: „Auch ein paar Tage nach dem 0:2 gegen Ungarn sieht Rudi Völler nicht viel besser aus als an dem Abend, an welchem er ausgerechnet dem alten Kollegen aus dem Weltmeisterteam von 1990, Lothar Matthäus, und dessen ungarischer „Thekenmannschaft“ (TV-Analytiker Günter Netzer) gratulieren musste. Hat er das Problem zu lange ausgesessen, indem er zu treu und zu lang zu jenen Leuten hielt, denen er seinen guten Ruf als Trainer verdankt? Die deutsche Auswahl bewegt sich zu wenig und zu langsam, und sie verschenkt viel zu oft den Ballbesitz, weil höchstens die Hälfte der Abschläge, die Torwart Kahn in den Himmel wuchtet, auch beim eigenen Stürmer landen. Die Defizite in Sachen moderner Fussball beginnen also beim einzigen Weltstar, den Deutschland derzeit noch besitzt, und sie potenzieren sich bei Kahns Vorderleuten. Die Innenverteidigung mit Jens Nowotny und Christian Wörns könnte man sich auch in einem sporthistorischen Museum vorstellen. In diesen quer gestreiften Einteilern, wie sie die Kraftsportler und Jahrmarktsakrobaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Gewichts-Wettbewerben oder beim Tauziehen trugen. In reifen Klubteams wie FC Porto oder AS Monaco wird das Spiel mit schnellen Pässen eröffnet – die Deutschen dagegen verschleppen das Tempo, worauf die Mittelfeldspieler Ballack, Hamann, Frings und Schneider den Ball selbst immer wieder in den hinteren Reihen abholen – bis dahin hat sich jede gegnerische Abwehr dreimal postiert. Und dieses Hinterherlaufen setzt sich bei den Angreifern fort. Gewiss, Deutschland hat keine Stürmer von der Klasse eines Völler oder Jürgen Klinsmann mehr. Aber ob nun Jung-Star Kevin Kuranyi, die ausser Form geratenen Goalgetter Miroslav Klose und Fredi Bobic oder das Milchgesicht Podolski – um seinen wahren Job ist keiner dieser Professionals zu beneiden. Weil nach vorne nicht viel geht, es sei denn, die jungen Aussenverteidiger Lahm und Friedrich überraschen einmal mit frechen Soli und präzisen Flanken, soll verstärkt nach hinten gearbeitet werden. So hat es Captain Kahn vorgeschlagen. Diese Spielweise kommt am ehesten den fachlichen Qualitäten dieses EM-Kaders zugute. Vorsicht als erste Order, verbeissen in den Gegner, kämpfen bis zum Umfallen! All diese Parolen, die der deutsche Fussballfreund nicht so besonders gern hört, aber sich ihrer dann doch mit gewissem Stolz bedient, wenn es die Lage erfordert, wird man in den nächsten Wochen öfters aus portugiesischen Stadien vernehmen. Und manchmal wird aus solchen Sprüchen am Ende gar ein Mythos.“

„In München verkörpert Michael Ballack das Verderben, bei der Nationalelf die Verheißung kommenden Ruhms.“ Klaus Brinkbäumer (Spiegel 7.6.): „Die Schultern vorgeschoben, die Beine zum leichten O der Fußballer gebogen, die Sohlen Zentimeter über dem Gras, die ganze Erscheinung ein Schlurfen und Schleichen. Es war Mitte der ersten Halbzeit, als Ballack nach links lief und Dietmar Hamann den Ball nach rechts spielte, und in diesem Moment, als er wieder mal im Niemandsland strandete, ein Fußballer ohne Ball, da war Michael Ballack wieder: der Prada-Profi, der Casting-Kicker, der Schnösel in Stollenschuhen – für alle jedenfalls, die ihn so sehen wollten. Das wollen viele. Das wollen wichtige Menschen in der bisweilen etwas eigenartigen Welt des Profifußballs. Deshalb erzählt Franz Beckenbauer in Basel, dass Ballack „unrund“ laufe und stete „Lobeseinheiten“ brauche; deshalb schrieb Günter Netzer vor neun Monaten, dass Ballack keine Mannschaft führen könne, was „eine Frage seiner Herkunft“ sei: „Ballack ist in der DDR aufgewachsen. Dort zählte das Kollektiv, das hat den Weg für Genies verstellt.“ Und als Ballack über fehlenden Rückhalt klagt, meint der Chefredakteur der Fachzeitschrift „Sport Bild“: „Dazu ein Rat, Ballack: Hören Sie auf zu jammern!“ So oder ähnlich reden Feldwebel: Ballack, Liegestütze! Michael Ballack ist einer jener Fußballprofis, die in Trainingspausen freiwillig Liegestütze machen, „Kräftigung und Stabilisation“ nennt er das. Trotzdem hat Ballack mittlerweile ein Problem, das man „Das sich selbst erfüllende Image“ nennen könnte, einen Ruf nämlich, gegen den er nicht mehr ankommt, wie viel auch immer dagegen sprechen mag. Man muss Ballack ja nicht hochschreiben zum zweiten Zidane, weil er so weit nicht ist, er hat noch Schwächen: Der Kerl lamentiert viel, und wenn ihm etwas die Laune versaut, kann es passieren, dass er zutritt. Aber wenn man ihm eine Woche lang zuhört und zusieht, reicht es doch allemal für einen Gegenentwurf zu diesem Image, das er nicht mehr besiegen kann. In jener ein wenig harmlosen und sehr netten Nationalmannschaft ist Ballack der einzige echte Star. Michael Ballack ist der versierteste Fußballer mit deutschem Reisepass. Kopfbälle beherrscht er besser als jeder europäische Mittelstürmer, und wenn er nicht mit rechts aufs Tor schießen kann, schießt er mit links, es macht keinen Unterschied. Seine Pässe kommen so scharf wie Torschüsse. Der Fußball von heute ist ein Spiel, das in einem imaginären Rechteck gespielt wird, 30 mal 40 Meter groß vielleicht, und dieses Rechteck verschiebt sich mit dem Ball über den Fußballplatz. Es wird gebildet aus jenen 15 oder 16 Spielern, die sich immer in Ballnähe bewegen, weil es ihre Aufgabe ist, an jedem Ort eine Überzahl für die eigene Mannschaft zu schaffen. Der Effekt dieser Spielweise ist hässlich: Es gibt keine Zeit mehr, den Ball zu stoppen und dann zu gucken, wer frei steht, es gibt keinen Raum mehr für die Zauberer mit der Rückennummer 10. Nur noch Leute wie Günter Netzer reden heute von der Aufgabe der Dirigenten in kurzen Hosen, und das lässt daran zweifeln, dass sie verstanden haben, wie sich das Spiel entwickelt hat seit ihrem Abgang. Die Sache mit der Rückennummer gehört zu dieser hitzigen Debatte über Ballack. Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß merkte an, er habe nach Videoanalysen erfasst, dass Ballack „keine 10″ sei, sondern „eine typische 6″, kein Spielmacher eben, sondern ein defensiver Mittelfeldmann. Michael Ballack lächelt nicht mehr, wenn er darüber spricht. Er sagt: „Wir reden über Uli Hoeneß, oder? Die Bayern wollten mich schon kaufen, als ich noch in Kaiserslautern war, sie haben mich dort zwei Jahre, dann drei Jahre in Leverkusen und nun zwei Jahre im eigenen Stadion beobachtet. Uli Hoeneß und die anderen sehen mich seit sieben Jahren spielen. Was soll ich dazu sagen?“ Denn in Wahrheit spielt Ballack hinten mit und vorne, und manchmal taucht er minutenlang ab, aber dann dort wieder auf, wo er die Partie entscheiden kann. Er hat längst die einstigen Aufgaben der Rückennummern 6, 8 und 10 übernommen, er ist praktisch eine 24 (…) Oliver Kahn ist Kapitän und trotzdem der Außenseiter dieser Mannschaft, was nicht mehr gerecht ist, weil er jetzt wieder mit den anderen redet und fleißig bis besessen trainiert. Der Torwart hat sich seinen Ruf in den vergangenen Monaten vermasselt: Da hat Kahn Kahn inszeniert, war bloß sein eigener Kapitän, weshalb ein Kollege scherzt, „dass er uns in seinem Autobiografie-Büchlein deshalb nicht erwähnt, weil er unsere Namen nicht kennt“. In diesen vergangenen Monaten wirkte Oliver Kahn ein wenig wie Boris Becker in seiner schlechtesten Phase: wie ein Sportler nämlich, der jedes Spiel als Prüfung durch die Götter versteht und sich selbst als auserwählt; wenn einer erst so weit ist, gerät ihm wohl zwangsläufig jede Bewegung zur Pose. Ein Torwartdarsteller jedoch kann kein guter Torwart mehr sein. Das ist das Image, gegen das Kahn in Portugal antreten wird, nicht im Spiel mit den Medien, aber im Mannschaftskreis. Michael Ballack hingegen wird von seinen Kollegen beneidet, weil er eine Menge verdient, geschätzte acht Millionen Euro im Jahr. Und einige zweifeln auch ein bisschen an ihm, weil er eine für sein Niveau armselige Saison hinter sich hat. Aber die Kollegen respektieren Ballack, weil gute Fußballer bessere Fußballer immer respektieren und weil Ballack, anders als Kahn, ziemlich kommunikativ ist. Keiner beim DFB hat vergessen, wie Ballack im Halbfinale der vorigen WM ein Tor der Südkoreaner durch ein taktisches Foul verhinderte, wie er dafür seine zweite gelbe Karte und eine Sperre bekam, wie er dann noch das 1:0 schoss und jenes Finale gegen Brasilien verpasste, das das Spiel seines Lebens werden sollte – unter Fußballern gilt so etwas als Heldentat.“

Ich verstehe, dass Rudi Völler den Christian Ziege zurückgeholt hat
FAZ-Interview (8.6.) mit Franz Beckenbauer über die Form der deutschen Elf:

FAZ: Werfen wir einen Blick auf die Teile der deutschen Mannschaft. Es fällt auf, daß die Zeiten vorbei scheinen, da teutonische Abwehrrecken noch furchteinflößend für die Konkurrenz waren. Es fällt aber noch mehr auf, daß es auch an souveränen Abwehrstrategen, wie Sie einer waren, fehlt.
FB: Bei dem schrecklichen 1:5 in Rumänien hat man erst mal gemerkt, wie wertvoll der Wörns ist. Der Dortmunder Innenverteidiger spielt zwar nie spektakulär, aber er ist einer, der in der Mitte zumacht. So jemand hat in Bukarest gefehlt. Wörns ist sehr wichtig für die Mannschaft. Wer sein Partner für die Innenverteidigung bei der Europameisterschaft ist, wird man sehen. Vermutlich ist es letztlich doch der lange verletzte Jens Nowotny, der sich in der Vorbereitungsphase stabilisiert hat. Der Rudi hat auch noch den Baumann aus Bremen oder den Friedrich aus Berlin. Möglichkeiten, eine ordentliche Innenverteidigung aufzubieten, hat Rudi Völler genug. Wichtig für den Erfolg wird das Zusammenspiel mit dem Mittelfeld sein und die Bereitschaft aller Spieler, bei Ballverlusten auch nach hinten zu arbeiten. Wenn diszipliniert und kompakt wie vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft gespielt wird, haben wir keine Probleme.
FAZ: Die wenigsten Probleme scheint Völler im Mittelfeld zu haben, das mit Ballack, Schneider, Frings und Hamann gut besetzt ist.
FB: Alle, die im Mittelfeld eingesetzt werden, helfen auch hinten mit aus und stabilisieren damit die Abwehr. Dazu sind in diesem Mannschaftsteil lauter gute Fußballer am Werk. Die Deutschen leben von ihrer Mannschaft, von ihrer Einheit, nicht so sehr von ihrer individuellen Klasse. Es muß Bewegung nach der Seite, nach hinten, nach vorne sein: Nur so funktioniert’s.
FAZ: Dazu kann das Spiel auf den Flügeln im Idealfall von jugendlichen Kräften, den Stuttgartern Hinkel rechts und Lahm links, unterstützt werden.
FB: Den Lahm, den der FC Bayern bis 2005 an den VfB ausgeliehen hat, habe ich vor zwei Jahren mal bei unseren Amateuren spielen sehen, da ist er mir gar nicht aufgefallen. Inzwischen hat er sich sensationell entwickelt. Seine Schnelligkeit, seine Beweglichkeit, seine Abgebrühtheit beeindrucken mich. Ich verstehe auch, daß Rudi den Christian Ziege zurückgeholt hat. Links defensiv hatte er doch sonst niemand.
FAZ: Zum Angriff: Mit überragenden Stürmern ist Rudi Völler nicht eben gesegnet. Andererseits ist das Duo Klose/Kuranyi an guten Tagen auch nicht zu verachten.
FB: Die beiden zeichnet ihre Kopfballstärke, ihr Fleiß, auch eine gewisse spielerische Klasse aus. Du kannst je nach Bedarf aber auch wechseln. Da ist noch der Strafraumstürmer Fredi Bobic, der unter der lange schwierigen Situation bei Hertha BSC gelitten hat, oder der Hannoveraner Konterstürmer Thomas Brdaric. Und dann hast du als stürmische Verstärkung noch einen fitten Michael Ballack, der vor zwei Jahren jede Menge Tore gemacht hat. Ich habe beim Blick auf den Angriff keine großen Sorgen, weil ich der Mannschaft und der sportlichen Leitung vertraue.
FAZ: Das Establishment in der Nationalmannschaft wird auch von jugendlichen Herausforderern bedrängt. Hätten Sie auch wie Rudi Völler einem Lukas Podolski oder Bastian Schweinsteiger schon jetzt eine Chance bei der Europameisterschaft gegeben?
FB: Nimmst du zwei so junge Spieler mit, dann weniger mit der Hoffnung, daß sie einen entscheidend weiterbringen, eher damit einer wie Podolski sieht, wie es bei der Nationalmannschaft während eines großen Turniers zugeht. Jeder, der in jungen Jahren mitgenommen wurde, hat bei solchen Anlässen gelernt. Es ist im übrigen noch zu früh, jetzt schon Entwicklungschancen einzelner junger Spieler im Blick auf die WM 2006 hochzurechnen. Bei manchem weißt du nicht genau, wohin die Reise geht.
FAZ: Rudi Völler bestreitet in Portugal sein zweites großes Turnier als Teamchef. Wie hat er sich in diesem Job entwickelt?
FB: Er ist souveräner geworden. Er strahlt immer mehr Persönlichkeit aus. Der Rudi ist ein Glücksfall – das war er schon als Spieler, das ist er jetzt als Teamchef. Ich hoffe, daß seine Ära noch lange anhält.
FAZ: Er hat aber auch schon Fehler gemacht wie zuletzt in Rumänien, steht aber dazu. Imponiert Ihnen soviel Ehrlichkeit?
FB: Sicher ist auch das ein Zeichen seiner Souveränität. Wichtig ist, daß er den Fehler sieht. Er muß ihn nicht unbedingt in aller Öffentlichkeit zugeben. Ich zumindest habe als Teamchef nie was zugegeben, obwohl ich auch Fehler gemacht habe. Die meisten bis auf ein paar Experten haben die Fehler ja eh nicht bemerkt. Ich finde es mutig, wenn Rudi seine Fehler zugibt, aber es muß nicht sein.

Michael Horeni (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.) beschreibt Wesen und Wirken Rudi Völlers: „Auch wenn die Ära des Teamchefs schneller zu Ende gehen sollte, als sich das sowohl die Fußball-Mächtigen als auch die Fußball-Fans im Land wünschten, am Bild der Deutschen von ihrem „Ruuudi“ würde auch ein trauriger portugiesischer Sommer nichts ändern. Das Bild von Völler: Da fällt zunächst sein Schnauzbart auf. Er ist keineswegs stattlich, sondern von mäßigem Wuchs, und modisch gesehen ein Relikt aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der Zeit also, in der Rudi Völler in das Leben der Deutschen trat. Damals war der Schnauzer ein Massenphänomen in der Bundesliga, ebenso die Dauerwelle, und beide Eigentümlichkeiten fanden bei Völler zusammen. Bis heute gibt es im äußeren Erscheinungsbild des nun 44 Jahre alten Fußballtrainers keinen Bruch. Der Schnauzer ist stets ein treuer Begleiter des Jungen aus Hanau geblieben, die Haare sind noch immer gewellt, wenn auch nicht mehr ganz so wild wie damals. Silbergrau sind sie mittlerweile auch geworden. Aber beim Anblick des Teamchefs erkennen die Deutschen auch zwei Jahrzehnte später noch immer den Spieler Völler, wie er mit wehender Mähne drauflosstürmt und die Chancen nutzt, die sich ihm bieten. Und dann machte er von seinen Toren wenig Aufhebens, denn er machte ganz einfach nur, was er konnte, und damit war es gut für ihn. Mehr steckte nicht dahinter, mehr steckte auch für ihn nicht hinter dem Fußball; keine Philosophie, kein schöner Schein, nur das eine: Seine Chance muß man nutzen. Die Leute liebten diese ehrliche Schnörkellosigkeit, aber der einzige Grund, weshalb er zum vielleicht größten Fußball-Liebling des Landes werden sollte, war das natürlich nicht. Teamchef wurde Völler vor vier Jahren, als Erich Ribbeck ein einziges Elend hinterließ und über Nacht ein Nachfolger gefunden werden mußte. Der deutsche Fußball hatte den Nachlaß neu zu ordnen und brauchte einen Übergangstrainer für die Zeit, bis Christoph Daum als Bundestrainer zur Verfügung stand. Völler verpaßte an diesem Abend, an dem sein Leben eine unvermutete Wendung nehmen sollte, die Gelegenheit, einfach „nein“ zu sagen. Es gab nicht wenige, die selbst das Übergangsmodell als eine Nummer zu groß für Völler ansahen, der im Werksklub Bayer Leverkusen gerade seine ökonomische Nische als Sportdirektor gefunden hatte, der als Trainer nie arbeiten wollte und dies zuvor auch nie getan hatte. Die unausgesprochene Sorge, Völler könnte der Aufgabe nicht gewachsen sein, drückte sich im Personaltableau aus, mit dem sich die deutsche Nationalmannschaft und ihr Teamchef anfänglich umgab. Als gleichberechtigter Trainer begann Michael Skibbe zusammen mit Völler seinen Dienst, und die Aufgaben des Duos schienen eindeutig verteilt. Die taktische und fachliche Arbeit sollte bei dem jungen ehemaligen Bundesligatrainer von Borussia Dortmund liegen, Völler als Autorität und Vorbild des deutschen Fußballs auf einen verlottert erscheinenden Haufen Nationalspieler wirken – und natürlich als öffentliches Beruhigungsmittel. Dazu stellte die Bundesliga dem Teamchef in der Frühphase mit Karl-Heinz Rummenigge noch einen weiteren Helfer zur Deckung bereit. Eine endlose Europameisterschaftsspanne später – mit Kokain-Tiefpunkt, WM-Begeisterung und Fernseh-Wutausbruch dazwischen – geistert zwar schon der Name Ottmar Hitzfeld als möglicher Nachfolger Völlers durch die Blätter. Dabei erreicht die Entwicklung Völlers als Teamchef mit Alleinvertretungswirkung (nicht -anspruch) gerade jetzt einen Höhepunkt. Der Star der Nationalmannschaft war der Teamchef zwar schon nach dem ersten Länderspiel, aber spätestens seit der Weltmeisterschaft drängte die Identifikationsfigur Völler alle anderen wichtigen und prominenten Mitstreiter an den Rand. Die Stars aus den Jubeltagen in Fernost, Oliver Kahn und Michael Ballack, haben durch Schwächen im Alltag an Strahlkraft eingebüßt. Michael Skibbe etwa wird als gestaltender Trainer in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen.“

Kann man die WM 2006 dem Autodidakten Völler anvertrauen?

Philipp Selldorf (SZ 9.6.) schwankt zwischen zwei sympathischen Trainern: „Hitzfeld wird Völlers Phantom bleiben bei der EM, er wird am Mittwoch an Bord des Flugzeugs nach Faro sein und die Gedanken des Teamchefs begleiten, wenn er in der Suite des Ria Park Garden Hotel in sein riesengroßes Bett sinkt. Erst wenn die schweren Prüfungen der Vorrunde bestanden sind, wird er vor ihm Ruhe finden. Und wenn er sie nicht besteht? Wie eine Situation unvermittelt Dynamik entwickeln und Zwang erzeugen kann, das hat Völler selbst erlebt, als er vor vier Jahren in der Stunde Null der Nationalmannschaft von einer Notfallkommission des deutschen Fußballs zum Teamchef erklärt wurde. Damals ging es darum, bis zum Amtsantritt Christoph Daums einen beliebten Mann an die Spitze des Unternehmens zu setzen, der nach der grausamen Verirrung mit Erich Ribbeck die Sympathien zurückgewinnt und keine Komplikationen bereitet. Diesmal ist der Einsatz noch höher: Eine Mission von erster staatspolitischer Bedeutung steht bevor, die Weltmeisterschaft 2006, die Aufgabe für einen hochtrainierten Spezialisten. Kann man sie also dem Autodidakten Völler anvertrauen? Oder verlangt es das nationale Interesse, den Fünf-Sterne-de-Luxe-Supertrainer Hitzfeld zu beauftragen, der gerade rechtzeitig vakant ist? Dass Rudi Völler kein Theoretiker ist, der Taktik-Vorträge hält und tiefgreifende Strategien entwickelt, das weiß nun in Deutschland jedes Kind und hat seinem Ansehen bei den Nationalspielern kaum geschadet. Dieser Makel fällt vielmehr auf seinen Assistenten Michael Skibbe zurück, dessen akademisch lizenzierter Fachverstand bei den Beteiligten keinen überzeugenden Eindruck hinterlässt. Betrachtet man Völlers Wirken in den zwei Jahren nach der glücklichen WM in Asien, ergibt sich das widersprüchliche Bild, dass seine Spielerauswahl Perspektiven und den willkommenen Trend zum Generationenwechsel erkennen lässt, die Mannschaft aber trotzdem eine Serie von trostlosen Auftritten absolviert hat. (…) Es hat sich in Europa rumgesprochen, dass die Deutschen bis auf Ballack keine Tore schießen und keine allzu guten Prognosen verdienen. Nur daran glauben will irgendwie keiner, weil der Mythos stärker ist. „Die Tage der deutschen Hegemonie sind vorbei“, stellt zum Beispiel die englische Sonntagszeitung Observer in einer versierten Analyse fest. Um fatalistisch fortzufahren: „Auf dem Papier ist Deutschland ein Opfer der Vorrunde. Auf dem Platz sind sie sichere Teilnehmer des Viertelfinales.““

FR-Interview (9.6.) mit Christian Ziege

Fan Club Nationalmannschaft

Aus der Retorte. Oliver Lück & Rainer Schäfer (FR 9.6.) beneiden Ausländer um Fankultur: „Dänische Anhänger gelten als originell, sie waren schließlich die ersten, die sich mit Fingerfarbe ihre Landesfahne ins Gesicht malten. Die Niederländer sind ohnehin verrückt – sie tragen orangefarbene Afroperücken, und 90 Minuten lang lärmen Musikkapellen. Und selbst die lettischen Fans, die keiner kennt, finden viele interessant, da sie das erste Mal bei einer EM-Endrunde auftauchen. Das Gefolge der deutschen Nationalelf hat seit jeher ein eher biederes Image und wirkt immer ein wenig wie eine Gruppe verkleideter Schlagerfreunde. Ein bisschen Schunkeln und Klatschen im Viervierteltakt. Besorgt hatten auch die Oberen des DFBs registriert, dass die eigenen Fans meist nur den Charme viel beschworener deutscher Tugenden versprühten. „Uns ist klar, dass wir in der Fanbetreuung etwas tun müssen“, sagt Michael Kirchner, Fanbeauftragter des DFB, „wir können die Mentalität der Fans aber nicht ändern, sondern nur helfen, dass die deutschen Anhänger gemeinsam eine Fankultur entwickeln.“ Das lässt sich der DFB auch etwas kosten, konkrete Auskünfte dazu gab es aber noch nicht. Der vor etwas mehr als 15 Monaten gegründete „Fan Club Nationalmannschaft“ ist das erste offizielle Angebot des DFB an seine Getreuen. Rechtzeitig vor der Weltmeisterschaft in zwei Jahren soll die Begeisterung der eigenen Anhänger gefördert werden. „Wir müssen für die WM im eigenen Land eine positive Stimmung schaffen“, sagt Ex-Nationalspieler Oliver Bierhoff, der den Fan Club als Pate betreut. „Die positiven deutschen Fans sollen gefördert werden“, sagt auch Michael Kirchner, teilt aber sofort mit, dass Hooligans im DFB-eigenen Fanclub keine Chance hätten. Inzwischen steigt die Mitgliederzahl des Fanclubs „langsam, aber gleichmäßig“, so Kirchner. Mittlerweile sind 8600 Fans beigetreten, 85 Prozent davon sind Männer. Für einen Jahresbeitrag von 20 Euro gibt es das „Welcome-Package“ mit der Stadiongrundausstattung. Geht es nach dem DFB, stehen die Fanclub-Mitglieder die Deutschland-Fahne schwenkend, mit DFB-National-Cap, National-Schal und Fan-Club-Ansteckpin im Stadion. Auf das aktuelle Nationaltrikot gibt es übrigens 25 Prozent Rabatt.“

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