indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Fußball ist ein Spiel

Oliver Fritsch | Donnerstag, 10. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Fußball ist ein Spiel

„Fußball ist genau das, was man im Stadion sehen kann: ein Spiel“ (FAZ) – im Quartier der Engländer Benfica fürchtet die Polizei bürgerkriegsähnliche Zustände (FR/Magazin) – „das erhöhte Sicherheitsbedürfnis und der lusitanische Hang zum Fatalismus wirken vor dem geplanten Fußballfest wie gefährliche Zuversicht“ (FAZ) – „Portugals EM-Stadien gilt das Lob der Architekten und der Tadel der Rechnungsprüfer“ (FAZ) u.v.m.

Wir brauchen die Freude am Spiel, seine Unschuld

Der portugiesische Schriftsteller Francisco José Viegas (FAZ 9.6.) träumt vom ersten Anstoß: “Portugal ist ein kleines, leidenschaftliches Land. Statt die EM 2004 auszurichten, hätte es seine öffentlichen Finanzen sanieren, für seine Literatur und Kunst werben können (leider ist Portugiesisch eine so kleine Sprache, daß das Genie des Camões, der Humor von Eça de Queiroz oder Camilo Castelo Branco, die Gemälde von Paula Rêgo oder Graça Morais, die Musik von Manuel Cardoso oder Carlos Paredes im Ausland kaum bekannt sind), es hätte die Verwaltung und öffentlichen Dienststellen modernisieren und in die Grundschulausbildung investieren können. Nun ist es aber so, daß Portugal Fußball liebt und ebenso gern Gäste empfängt. Ich war nicht damit einverstanden, daß wir die EM 2004 ausrichten; ich fand, wir sollten ernsthafte, umsichtige Europäer sein, gute Schüler in Wirtschaftsfragen, fleißig lernen, arbeiten und sparen – „wie die Deutschen“, sagt man in Portugal. Aber die Entscheidung war gefallen. Und deshalb wünsche ich mir in diesem vorgezogenen Frühsommer etwas von der Magie, die Fußball haben kann. Tore, ja. Aber auch aufregende, glänzende Spielzüge, wie wir sie in Erinnerung haben. Als Europäer brauchen wir das in der derzeitigen Situation. Wir brauchen die Freude am Spiel, seine Unschuld. (…) Fußball ist genau das, was man im Stadion sehen kann: ein Spiel. Manchmal ist er brutal, ja. Und unelegant (die Anzahl erträglicher oder gar schlechter Sonette, die im Laufe der Geschichte der Lyrik geschrieben wurden, ist ebenfalls beunruhigend, ganz zu schweigen von den europäischen Romanen), so wie es auch der menschliche Geist oder die in unkontrollierten Mengen versammelte menschliche Masse sein kann. Fußball wird mit Ehrgeiz gespielt und erbarmungslos – auch wenn Erbarmen hier und da durchscheint, doch zu seinem Grundwortschatz zählt es nicht. Fußball mögen ist deshalb eine Übung, für die es je nach Situation die unterschiedlichsten Erklärungen gibt. Ich spreche ungern darüber, kann sie aber benennen: die Kunst der Ballbeherrschung, das Zusammenspiel, die Eleganz eines Passes, das Tor als Höhepunkt, die jubelnde Menge, die Farben und das Licht im Stadion. Lauter Nichtigkeiten. Man mag Fußball oder man mag ihn nicht.“

Thomas Klemm (FAZ 9.6.) drückt die Daumen für eine friedliche EM: „Das einstige Weltreich Portugal indes steht heute im Schatten der großen Politik, seine Einwohner gelten als friedliebend, wiewohl Ministerpräsident Durão Barroso im Antiterrorkampf an der Seite der Amerikaner steht und 130 portugiesische Soldaten in den Irak geschickt hat. Diese Umstände, das erhöhte Sicherheitsbedürfnis und der lusitanische Hang zum Fatalismus mögen vor dem geplanten Fußballfest wie gefährliche Zuversicht wirken. Doch wer jetzt Ohnmacht statt Optimismus zeigt, hat schon vor dem ersten Anpfiff gegen einen unsichtbaren Feind verloren. Ein Feind, dessen Bedrohung den größtmöglichen Gegensatz zu den Idealen des Sports bildet. Glaubt man hier an Spiel, Spaß und Wettkampf mit fairen Mitteln, fürchtet man dort Angst, Schrecken und heimtückisches Vorgehen. Bleibt zu hoffen, daß es nicht zum Aufeinandertreffen kommt.“

Verzichtet Felipe Scolari auf Portugals besten Torhüter? Thomas Klemm (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.): „Pedro Burmester ist Konzertpianist – und war für Vítor Baía. Manuel Alegre ist Schriftsteller und Mitglied des portugiesischen Parlaments – und war für Vítor Baía. José Mourinho, bis vor kurzem Trainer des FC Porto, war natürlich auch für seinen Torwart. Es waren nur drei Köpfe mit ein und derselben Meinung, doch sie gaben vor der Nominierung des portugiesischen Europameisterschaftskaders jene Frage wieder, die sich der überwiegende Teil der einheimischen Fußballfreunde schon Monate zuvor gestellt hatte: Warum bloß verzichtet Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari bei der EM-Endrunde auf jenen Torhüter, der jahrelang die Nummer eins in der Selecção war, international die größte Erfahrung besitzt, in der vergangenen Saison die wenigsten Tore in der SuperLiga hinnehmen mußte und mit dem FC Porto in Gelsenkirchen gerade erst Champions-League-Sieger geworden ist? Das Thema sei „delikat“, sagte Vítor Baía kürzlich, nachdem er sich monatelang aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten hatte. „Aber ich hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, daß die EM-Teilnahme eines meiner Ziele war.“ Wie erwartet, mußte sich der Vierunddreißigjährige am 18. Mai von diesem Ziel verabschieden: Scolari berief die Torhüter Ricardo, Quim und den „U 21″-Nationaltorhüter Moreira ins EM-Aufgebot. Und damit stellte sich dem Trainer aufs neue ein altes Problem: Die Öffentlichkeit mag ihm bei seiner Entscheidung nicht folgen. Luiz Felipe Scolari gegen ein Idol und den Rest der Fußballnation – das erinnerte nicht nur portugiesische Beobachter an den letzten großen Autoritätsbeweis des Trainers. Vor der Weltmeisterschaft 2002 hatte der Brasilianer viele seiner Landsleute gegen sich aufgebracht, weil er den alternden Stürmer Romário links liegengelassen hatte. Verziehen wurde ihm erst, als Nationaltrainer „Felipão“ die Südamerikaner zum WM-Titel führte. Der Fall Baía lasse sich nicht mit dem Fall Romário vergleichen und sei daher kein Problem für ihn, behauptet Scolari nun. Baía sei „ein Athlet, der in der Nationalmannschaft Geschichte geschrieben hat. Aber ich habe andere Optionen, und die hat jeder zu respektieren.“ Während der Portoenser Torhüter selbst sich nach Scolaris Machtwort darauf beschränkt, „Daumen zu drücken, damit Portugal Europameister wird“, fragen sich andere, ob die Nichtberücksichtigung Baías nur ein Mittel des Trainers war, um sich Autorität zu verschaffen.“

Nirgendwo anders in Lissabon ist die Tradition so machtvoll verdrängt worden wie in Benfica

Mark Obert (FR/Magazin 5.6.) befindet sich zwischen Abrissbirnen und besoffenen Engländern: „Als Benfica Lissabon das verhasste Real Madrid überflügelte, 1961 und 1962 den Europapokal der Landesmeister gewann, galt der nördlich gelegene Stadtteil als Refugium der Wohlhabenden. Villen und Paläste säumten die Wege, man versorgte sich in den nahen Bauernhöfen mit frischem Fleisch und Gemüse. Benfica war ein gemütliches Dorf, und sein Held hieß Eusebio. Der beste Fußballer Europas war er, sagen die Alten, der überragende Spieler der WM 1966 in England, als Portugal Dritter wurde, einzig geschlagen von den Engländern. Vor dem Stadion haben sie Eusebio, den Jungen aus der ehemaligen Kolonie Mocambique, als Statue verewigt, überlebensgroß, in der für ihn typischen Schusshaltung, die Arme wie Flügel ausgebreitet, die Finger grazil gespreizt, als tanze er mit dem Ball. In seinem Rücken rast der Verkehr auf acht Spuren vorbei, vor ihm ragt das Stadion empor, aus weißem Beton und rotem Stahl, der wie die Schienen einer Achterbahn wellenförmig das Dach umkränzt, so dass es, von der Ferne betrachtet, niedlich wie ein Spielzeug anmutet. Über dem Eingang breitet ein goldener Adler, das Wahrzeichen, die Schwingen aus. Ein würdiger Ort für ein traumhaftes Finale. Und drinnen sieht man ja nicht die Wirklichkeit jenseits der Tribünen. Das alte Estadio da Luz, Denkmal der glorreichen Benficas, stand nur einen Steinwurf entfernt. In den 50er Jahren war es erbaut worden, ein gigantisches Ungeheuer, noch ohne den heute üblichen Komfort für jene, die durch dickes Glas flüchtige Blicke aufs Spiel werfen, in der einen Hand den Sekt, in der anderen das Mobiltelefon. Mitte der 80er, seit der letzten Aufstockung, bot das „Stadion des Lichts“ 120 000 Menschen Platz. So viele kamen allenfalls zu den Derbys gegen Sporting, den Lokalrivalen. Wenn Benfica in der mittelmäßigen Liga die chancenlosen Provinzteams abnudelte, lagen die beiden oberen Ränge verlassen da. Sie liebten das Ungeheuer trotzdem, die Menschen von Benfica, vielleicht gerade, weil es so nüchtern funktional war wie die Betonquader, in denen sie selber hausen. Als die Abrissbirnen die ersten Krater schlugen, da sollen die Trauergäste geweint haben, und in den Zeitungen des nächsten Tages war der große Eusebio abgebildet. Er weinte ebenfalls. Nirgendwo anders in Lissabon ist die Tradition so machtvoll verdrängt worden wie in Benfica. (…) Die Engländer kommen, der Satz klingt in diesen Tagen wie die Prophezeiung einer Heuschreckenplage. Mögen sie im Fernsehen noch so viele Portugiesen präsentieren, die ihre Vorfreude auf die Europameisterschaft lauthals bekunden, in Lissabon und besonders in Benfica schmälert die Aussicht auf den Schwarm von der britischen Insel die Begeisterung. Zweimal wird England in der Vorrunde neben dem Einkaufszentrum spielen, gegen Frankreich und Kroatien. Neulich hat Charles Swift, Chef der englischen Polizei, im portugiesischen Fernsehen gelobt, alles nur erdenkliche zu tun, um die Einreise der gefürchtetsten Hooligans zu verhindern, doch solche Nachrichten alarmieren erst recht. Keine Frage, die Lissaboner, Gastgeber für acht Spiele, hätten sich eher Dänen, Schweden und Franzosen als Dauergäste gewünscht. Immerhin, die Engländer trinken so viel Bier wie Lastenesel Wasser, hohe Einnahmen scheinen garantiert, aber so mancher, der für teures Geld eine Fressecke im dritten Stock des Colombo angemietet hat, bangt ums Interieur. Auf einer breiten Galerie reiht sich Imbiss an Imbiss, Restaurant an Restaurant, spanisch, mexikanisch, brasilianisch, die Bedienungen tragen Folklore, Palmen und Plastikarkaden imitieren eine Kultur, als läge Bologna in der Karibik, im Hintergrund plätschert der Wasserfall. Unter der Dachkuppel hängt eine zwei Tischtennisplatten große Videowand. Hier sollen all jene die Spiele sehen können, die kein Ticket ergattert haben. Die meisten Briten, so schätzt die Polizei, werden ohne Eintrittskarten anreisen. Was wird sein, wenn sie frustriert sind, fragt sich der Verkäufer im Sportgeschäft. Was werden die da oben auf der Fressgalerie veranstalten, wenn sie in der Vorrunde ausscheiden? Das Geländer reicht einem mittelgroßen Menschen gerade bis zur untersten Rippe. „Da kann schnell mal einer drüberfallen“, raunt der Sportwarenhändler, der in den wenigen Gesprächen mit Polizeibeamten den Eindruck gewonnen haben will, die fürchteten selbst bürgerkriegsähnliche Zustände.“

Kosten hoch, Nutzung niedrig

„Portugals EM-Stadien gilt das Lob der Architekten und der Tadel der Rechnungsprüfer“, schreibt Thomas Klemm (FAZ 9.6.): „Während die Erfolgsklubs Benfica und Sporting sowie der FC Porto und Boavista ihre Stadien eigenverantwortlich finanziert und gebaut haben und aufgrund ihres großen und treuen Anhangs künftig von einer ordentlichen Auslastung ausgehen können, gilt für das Gros der anderen Arenen: Kosten hoch, Nutzung niedrig. Bei gerade einmal 7000 Besuchern pro Pflichtspiel in der nationalen Superliga liegt der Durchschnitt in Portugal; wobei alleine die drei Großen Benfica, Sporting und Champions-League-Sieger Porto Zuschauermagneten sind, die im Schnitt 30 000 Fans mobilisieren, vergleichsweise teure Tickets zu kaufen. Vielerorts haben die Architekten auf die provinzielle Unlust am Live-Erlebnis reagiert. „Durch die bunten Tribünensitze erscheint das Stadion auch voll, wenn es nicht ausverkauft ist“, erklärt Nuno Cascilho, Manager der Sporting-Arena. Das Lissabonner Estádio José Alvalade XXI hat einen farbenfrohen Innenraum mit Schalensitzen in den Vereinsfarben Grün, Gelb und Weiß und Grautönen, und weil die Außenfassade in den gleichen Farben gefliest ist, bekam der gekachelte Kessel von den Sporting-Rivalen den Spottnamen „Badezimmer“. Das ein paar Kilometer entfernte, repräsentative Benfica-Stadion „da Luz“ mit seinen leuchtend roten Schalensitzen hingegen bezeichnete UEFA-Inspekteur Ernest Walker schon beim ersten Hinsehen als „Kathedrale des Fußballs“. Überhaupt haben die Portugiesen für ihre schicken, spektakulären und mancherorts von Stararchitekten entworfenen Stadien viel Vorschußlorbeer eingeheimst. Bei so viel Lob für die Architektur verhallt der Tadel der Rechnungsprüfer (noch) ungehört. Doch am Tag nach dem Endspiel steht der EM-Ausrichter Portugal vor seiner nächsten großen Herausforderung: Prestigeobjekte mit Leben zu füllen.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

104 queries. 0,530 seconds.