Ball und Buchstabe
Heiterkeit kehrt ein, das ungeliebte Porto
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| Samstag, 12. Juni 2004Portugal, ein Volk rückt zusammen und erwartet das Turnier mit großer Spannung und Hoffung (NZZ) – Der Fußball soll richten, was beim Gastgeber der Europameisterschaft schiefläuft (FAZ) u. v. m.
Fußballstars sind die Botschafter des Landes am Südwestzipfel Europas
Geht nach der EM ein Ruck durch Portugal? Thomas Klemm (FAZ 12.6.): „Portugal hat eine Vision: Die Nationalmannschaft nutzt ihren Heimvorteil zum Titelgewinn, und alles wird gut. Die Sorgen nach der Ost-Erweiterung der Europäischen Union, das Staatsdefizit und die Erwerbslosigkeit werden kleiner, der wirtschaftliche Aufschwung, die Investitionen und der Touristenstrom werden größer. Der Fußball soll also richten, was beim Gastgeber der Europameisterschaft schiefläuft. Zwar hat Ministerpräsident Durão Barroso bei einem Besuch im Trainingslager den öffentlichen Druck auf die Selecção zu lindern versucht, indem er ihr die Verantwortung für einen Aufschwung des Landes zu nehmen versuchte. Doch allein, daß er darüber sprach, zeigt die geheime Hoffnung, die das Volk und seine Vertreter mit seiner Nationalmannschaft verbinden. Nicht ohne Grund hatte sich das Regierungsbündnis den Schlachtruf der Fußballfans zu eigen gemacht, um die Portugiesen bei der Europawahl zu den Urnen und das Land zu mehr Zuversicht zu bewegen. Força Portugal, auf geht’s Portugal, lautet der Wahlslogan, und er bedeutet nicht weniger als: Es muß ein Ruck durch Portugal gehen. Der schöne Schein bestimmt das schwere Sein. Man ist stolz auf die zehn modernen EM-Stadien – und schert sich zunächst nicht um die Folgekosten. Man erfreut sich daran, daß die große weite Welt auf das kleine Land blickt – und hofft inständig, daß die anreisenden Fußballfans später als Touristen wiederkommen. Wie überhaupt sich der Blick der Portugiesen, nach einem Kinderschänderskandal und einer Korruptionsaffäre im Fußball von Selbstzweifeln geplagt, oft nach außen richtet. Die fußballverrückte Nation gewinnt vor allem dadurch an Bedeutung, daß ihre Wertarbeit in europäischen Spitzenligen hoch geschätzt wird. Figo in Madrid, Rui Costa in Mailand, Ronaldo in Manchester, Pauleta in Paris – Fußballstars stiften nicht nur im Innern Identifikation, sondern sind nach außen Botschafter des Landes am Südwestzipfel Europas.“
Fußball auf Portugiesisch. Oliver Trust (Tsp 12.6.): „Diese Orte sind wie geschaffen für Sehnsüchte und Gebete. Kleine Kapellen, überall entlang den Küsten Portugals. Hoch über den kleinen Fischerbooten, abgelegen, einsam. Außen weiß getüncht, innen, hinter Glas, in jeder Kapelle eine Madonna, die jedem zuhört, der mit seinen Sorgen auf den Berg kommt. Gerade in diesen Tagen der EM. Wie Opfergaben liegen Schals und Trikots zu ihren Füßen, manchmal ein paar Münzen und kleine Zettel, auf die ein paar Sätze gekritzelt sind. Die Portugiesen sind ein gläubiges Volk. Jetzt glauben sie auch an Fußball und ihre Nationalmannschaft. Bis Anfang Juli, wenn das Finale stattfindet, ist es mehr der Fußball als die Kirche, der das Leben in dem Land beherrscht, das einst als Armenhaus Europas galt. Jahrelang haben die Gelder der Europäischen Union geholfen, doch nun haben die Menschen Angst, dass die EU-Gelder in den Osten gepumpt werden und für sie nicht mehr viel bleibt. Ihre ganze Hoffnung sind nun Figo und Co.“
Anstelle der sprichwörtlichen Ungeduld ist Heiterkeit eingekehrt
Felix Reidhaar (NZZ 12.6.) fasst Stimmung und Spannung in Portugal zusammen: „Einst dank verwegenen Entdeckungsfahrten auf See als Weltreich Lusitanien gerühmt, im letzten Jahrhundert aber zusehends als Europas Armenhaus bemitleidet, schickt sich Portugal in den nächsten drei Wochen zu „Eroberungszügen“ auf eigenem Land an. Nichts scheint dazu geeigneter als die XII. Fussball-Europameisterschaft, kurz Euro 2004 genannt – die erste grosse Sportveranstaltung überhaupt in der Geschichte der stolzen Nation. Das Turnier hat den Portugiesen lange vor Beginn mächtig Kraft abgefordert. Zu viel, finden manche, die zwar die Fussballbegeisterung ihrer Landsleute teilen, die Milliardeninvestitionen aber nicht nur in Stadien, Strassen und Tourismus verteilt sehen wollten. Am schmalen Westende des alten Kontinents sind innerhalb kürzester Frist schicke, moderne Sporttempel (zu) grosser Dimensionen aus dem Boden geschossen wie in keinem anderen EM-Durchführungs-Land zuvor. Das Verkehrsnetz und weitere infrastrukturelle Massnahmen wurden dadurch auf einen fortschrittlichen Stand gebracht, der sich bei „geschlossenem Schaufenster“ nie hätte realisieren lassen. (…) Porto, des Landes Hanse, in der ebendieser Geist der Conquista (Eroberung) lebendig wirkt, macht am Samstagabend den Anfang. Innerhalb von fünf Tagen sieht die phantastische „fliegende Untertasse“ Do Dragão den Eröffnungsmatch mit dem Heimteam und das Rivalenderby Niederlande – Deutschland. Man empfindet es als glückliche Fügung, dass die Portuenser die kontinentale Elite nur siebzehn Tage nach dem Champions-League-Triumph ihres Lokalvereins empfangen dürfen – in der „Fussball-Metropole“ Europas schlechthin. Man glaubt dieser Vorsommertage Gefühlswechsel unter den Einwohnern beobachten zu können. Anstelle der sprichwörtlichen Ungeduld ist Heiterkeit eingekehrt, Vorfreude auch, und viel international durchmischtes Volk drängt hin zum Lauf des Douro zu fröhlichen Wasserspielen oder Fahrten auf den berühmten Barca rabelo, die gewöhnlich Portweinfässer transportieren. Zudem bewahren Einheimische auch im Zwischenmenschlichen ihre angeborene Tugend der Eroberungen – sympathischen Gastgebern begegnet man täglich. Die Euro 2004 kennt neben den strukturellen, sportlichen und stimmungsmässigen auch wirtschaftliche Superlative. Ohne die Einnahmen aus dem Ticketverkauf beläuft sich das Bruttoeinkommen auf 1,25 Milliarden Franken oder rund die Hälfte von der letzten WM in Ostasien. Damit macht die Uefa einen ähnlichen Mehrfachsprung wie die Fifa dank einträglichen Erlösen aus den Fernseh- und den selber vermarkteten Marketingrechten.“
Porto- bewundert, aber wenig geliebt
Ein Volk rückt zusammen, teilt Georg Bucher (NZZ 12.6.) mit: „Am 26. Mai ist der Pegel nationaler Begeisterung sprunghaft gestiegen. Dass Porto den Krösussen in Europa eine Lektion erteilte und sich auch im Final der Champions League gegen Monaco souverän durchsetzte, war Balsam für die lusitanische Seele und gibt der Nationalmannschaft Rückenwind. Ob in Obidos, Alcochete oder Setúbal, wo sie auftauchte, entstand spontan ein Freudentaumel. Diese Befindlichkeit im Gelsenkirchener Sog haben die Medien gezielt gefördert. Ein kleines Land müsse zusammenspannen und die gerade im Fussball virulenten Spannungen zwischen Nord und Süd, zwischen „Portooo“ und dem politischen Zentrum „Purtugaaals“ überwinden, war der Tenor der Berichterstattung. Die Stadt, die dem Land seinen Namen gab, hatte in früheren Jahrhunderten den christlich-maurisch geprägten Süden missionarisch ins Visier genommen. Aus geographischen Gründen wurde Lissabon Kapitale, Porto bekam das Etikett Hauptstadt der Arbeit – bewundert, aber wenig geliebt. Mit der Folge, dass neue Gräben entstanden, die Douro-Metropole sich abwandte und als Staat im Staate zu begreifen begann, als „Nation“, in der Disziplin und liberale Grundsätze das mediterrane Muster überlagern. Nicht zufällig war hier der Widerstand gegen die Diktatur Salazars besonders ausgeprägt, zog der FC Porto nach der Nelkenrevolution 1974 allmählich an Benfica und Sporting vorbei. Obwohl die sportliche Hierarchie sich verfestigt hat, bildet Porto nicht das Gerüst der Auswahl.“