Deutsche Elf
Wankender Schlussmahn Kahn; Völler nicht unantastbar
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| Samstag, 12. Juni 2004Jens Jeremies, Repräsentant der deutschen Mannschaft (SZ) – Unantastbar ist Rudi Völler längst nicht mehr (BLZ) – In Völlers jungem Team ist das französische Ideal von Gleichheit und Brüderlichkeit eher übererfüllt (SZ) u.v.m.
Die Posen eines wankenden Schlussmanns
Michael Horeni (FAZ 12.6.) kauft Oliver Kahn das demonstrativ zur Schau getragene Selbstbewusstsein nicht ab: “Es scheint, als suche der Torwart noch nach dem richtigen Weg, um seine Einstellung für das Turnier zu finden. Immer wieder fällt er zurück in das Vokabular des Druck- und Hochleistungsfanatikers, der lebt, um Grenzen zu überwinden. „Wir können nur eine erfolgreiche EM spielen, wenn wir total als Einheit auftreten, wenn jeder Spieler begreift, daß er über die Hundert-Prozent-Grenze gehen muß.“ Druck, Hundert-Prozent-Grenze, das sind die Begriffe, mit denen Kahn als Torwart groß geworden ist, die aber zuletzt immer mehr zur Pose eines wankenden Schlußmanns gerieten, der den besten Torwart der Welt nur noch darstellt. Seine Fehler seien Vergangenheit, behauptet Kahn in Portugal. Er hat für sich einen besonderen Vorbereitungsplan entworfen und mit Bundestorwarttrainer Sepp Maier zusätzliche Schichten eingelegt. „Ich habe versucht, noch einmal eine Schippe draufzulegen. Das habe ich vor jedem großen Turnier gemacht.“ Außerdem besitze er immer noch und in besonderer Weise die Fähigkeiten, sich „auf den Punkt“ zu konzentrieren, sagt er unbeirrt, obwohl doch gerade daran – ganz anders als vor der Weltmeisterschaft – begründete Zweifel bestehen. (…) Der Kapitän erwähnt bei seinem ersten und einzigen öffentlichen Auftritt vor dem deutschen Auftakt zur Europameisterschaft keinen einzigen Mitspieler mit Namen. Entweder spricht er über sich oder er redet im Plural über gemeinsame Herausforderungen und Ziele („eine deutsche Mannschaft muß nie ängstlich in ein Turnier gehen“). So verstärkt sich der Eindruck, daß der Torwart, der auch beim FC Bayern München zuletzt zunehmend isoliert wirkte, auch in der Nationalmannschaft mit sich selbst genug zu tun habe.“
Jan Christian Müller (FR 12.6.) wundert sich über das sonderbare Auftreten von Oliver Kahn und Jens Nowotny: „Manchmal kann Jens Nowotny, 30, Beruf: ruhender Pol, ganz schön freche Sprüche machen. Er hockt vorn übergebeugt im weißen Hemd vom Ausrüster auf dem Podium des großzügigen Medienzentrums, das der Deutsche Fußball-Bund anlässlich der EM im Bauch eines Nobelhotels an der Algarve errichten ließ. Es hat Fragen gegeben, weil Nowotny zuletzt nicht so souverän wirkte wie damals. Damals, als er noch 28 war und mit dem Kollegen Lucio in der Zweierkette ganze europäische Offensivreihen lahm legte, ehe im Zweikampf mit Manchester Uniteds Holländer Ruud van Nistelrooy das vordere Kreuzband im rechten Knie riss. Und dann, gerade wieder dabei, noch einmal gegen Cottbus. Und jetzt, vorm Aufeinandertreffen mit den Holländern am Dienstag, diese Fragen, Fragen nach seiner Spritzigkeit, Fragen nach seinem mentalen Zustand, Fragen nach dem Spielsystem. (…) Völler muss seine Jungs aufbauen, vor allem die, die hinten drinstehen. Kahn und Nowotny zuallererst. Als Nowotny noch nicht da war, hat Kahn auf dem Podium gesessen. Live im Fernsehen kam das sogar. Komisch: Kahn hat überhaupt nicht locker ausgesehen, eher so zerknittert wie einer, der zu spät ins Bett gekommen ist und am Morgen vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Die Mundwinkel schienen sich der Erdanziehungskraft nicht widersetzen zu können. Aber vielleicht stimmt es ja, dass der Kahn für die Öffentlichkeit ein anderer ist als der für die Mannschaft. Bei der Gruppensitzung mit den Defensivkräften – Friedrich, Wörns, Nowotny, Lahm, Hamann – war auch der Torwart dabei und hat sich eingebracht. Völler hat das eigens erwähnt. Dem Teamchef ist offensichtlich nicht entgangen, dass Kahn zuletzt als einer dargestellt wurde, der in der inneren Immigration verschwindet. Später hat Oliver Kahn dann sogar mal gelacht. Immer dann, wenn die Reporter aus dem Ausland Fragen gestellt haben. Der von der BBC und der vom holländischen Privatsender. Dem hat er sogar ausnahmsweise in die Augen geschaut und einen Einblick in das Seelenleben eines Titan a.D. gewährt: „Ich befinde mich seit Jahren in einem Dauer-Druckzustand. Ich spüre den Druck gar nicht mehr vor lauter Druck.“ Derzeit beschäftigt sich Kahn „24 Stunden mit dem Beruf. Mit Fußball.“ Sagt er. Und er sagt auch, dass es eine gute Europameisterschaft werden kann. „Wenn wir als totale Einheit auftreten und alle über hundert Prozent bringen.“ Aber Oliver Kahn, fast 35, klingt dabei längst nicht so Furcht erregend entschlossen wie noch vor zwei Jahren in Japan. Irgendwas ist anders. Nicht nur die Frisur.“
Unantastbar ist Rudi Völler längst nicht mehr
Michael Jahn (BLZ 12.6.) setzt sich in den Schatten: „Trotz der Dementis bleibt Hitzfeld während dieser EM-Tage der Schatten Völlers, und es hat ja eine gewisse Ironie, dass Hitzfeld selbst auch erst dann verscheucht wurde, als es einen Nachfolgekandidaten gab. Lange galt eine Trennung als schwer vorstellbar – bis Felix Magath in Stuttgart so Karriere machte, dass er plötzlich eine Alternative war. Er war Hitzfelds Schatten. Jetzt ist Hitzfeld selber einer. Unantastbar ist Rudi Völler längst nicht mehr, er, der bei der WM 2002 neben Guus Hiddink als der Trainer des Turniers galt. Und man verlangt nicht wenig von ihm: Er soll eine erfolgreiche EM abliefern, was mindestens das Viertelfinale bedeuten würde, und zusätzlich soll er beweisen, das er der richtige Mann für 2006 ist.Völler gibt sich in diesen Tagen an der sonnigen Algarve jedenfalls zuversichtlich: „Wir haben zuletzt nicht unser wahres Gesicht gezeigt“, sagt er freundlich, aber bestimmt. „Und was die deutsche Öffentlichkeit betrifft, die ist doch immer misstrauisch.“ Doch als er nach seinen Turnierfavoriten gefragt wird, fällt der Name Deutschland nicht. „Mein großer Favorit ist Frankreich“, sagt der Teamchef, „dann Italien, auch Holland und Portugal.“ Das, immerhin, gibt einen Extrapunkt für Ehrlichkeit.“
Gregor Derichs (FAZ 12.6.) ist gespannt auf Nowotnys Duell mit Ruud van Nistelrooy: „Am 30. April 2002 begann das Leiden des Jens Nowotny. Im Halbfinale der Champions League gegen Manchester United erlitt der Kapitän von Bayer 04 Leverkusen einen Kreuzbandriß, der ihn die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Asien kostete und ihn insgesamt 528 Tage aus der Bahn warf. Das Elend, das durch eine zweite Kreuzbandruptur bei einem Comebackversuch im Januar 2003 verschärft wurde, gründete in einem mißglückten Zweikampf mit Manchesters Stürmerstar Ruud van Nistelrooy. Am Dienstag trifft Nowotny wieder auf den Niederländer. Dem Duell zwischen dem gebürtigen Badener und dem holländischen Weltklassestürmer, den an der schweren Verletzung von Nowotny keine Schuld traf, kommt im ersten Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft entscheidende Bedeutung zu. Der Leistungsstand der deutschen Abwehr wird seit der mißratenen Generalprobe beim 0:2 gegen Ungarn äußerst negativ beurteilt. Insbesondere an der Verfassung der Innenverteidigung mit den erfahrenen Akteuren Christian Wörns und Nowotny wird gezweifelt.“
Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient
Holger Gertz (SZ/Seite 3 12.6.) porträtiert Jens Jeremies: „Jeremies mag den Sänger Udo Jürgens. Nicht alles von ihm, „Aber bitte mit Sahne“ oder „Die Sonne und du“: so was eher nicht. Jens Jeremies sagt, er hört lieber nachdenkliche Sachen. Ihm fällt nicht gleich ein Beispiel ein. „Illusionen“ vielleicht? Nein, Illusionen kennt er nicht. Er findet auch, Illusionen würden nicht zu ihm passen, aber die Lieder, die er mag, die müssen irgendwie schon mit ihm selbst zu tun haben. Jens Jeremies denkt nach, im Café des Schwarzbauernhofs, einem gewaltigen Landgasthof in der Nähe von Winden, in dem die deutschen Nationalspieler untergebracht sind vor der EM. Trainingslager. Er trägt den schwarzen Trainingsanzug des DFB mit dem Mercedes-Benz-Stern hinten drauf. Draußen bescheint die Sonne die Gipfel des Schwarzwalds, und die Kinder kreischen nach Autogrammen. Jens Jeremies denkt nach, er denkt über Udo Jürgens nach und klopft mit zwei Fingern auf der Tischplatte rum und findet erst die Melodie und dann den Text: „Jetzt hab“ ich“s: ,Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient.““ Das ist es. Sein Lieblingslied von Udo Jürgens. Ein ziemlich unbekannter Schlager eigentlich, ein Liebhaberstück, und für einen Augenblick sieht es so aus, als wolle Jeremies die Melodie ansummen. Aber dann kommen ein paar Männer vom Fernsehen und fragen, ob sie hier ihre Kameras aufbauen können, Interview mit Kevin Kuranyi, und schon ist die intime Situation zerstört, in der der deutsche Nationalspieler Jens Jeremies zu singen hätte anfangen können. Schade. Trotzdem lohnt es sich, bei dieser Gelegenheit an das Lied zu erinnern, es hat wirklich viel zu tun mit Jens Jeremies und damit auch mit der deutschen Nationalmannschaft. Eine Strophe geht so: Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient. / Wer alles will, muss viel von sich geben. / Wer nichts riskiert, hat sein Glück nur gelieh“n. / Wer sich nicht einsetzt, gewinnt nicht das Leben. Damit sind im Großen und Ganzen die grundlegenden Fragen vor einem solchen Turnier schon umrissen. Wird die deutsche Fußball-Nationalmannschaft tatsächlich alles wollen? Und wenn sie will – wird das reichen, um womöglich das Leben zu gewinnen, aber auf jeden Fall doch wenigstens die Europameisterschaft? Wird die Fußball-Nationalmannschaft, wenn sie verliert, im ersten Spiel gegen Holland, genug Gelegenheit haben, sich Siege zu verdienen, oder wird dann nach der Vorrunde schon Schluss sein? Wer immer verliert, hat den Sieg nicht verdient: Die Zeile könnte ja auch passen, aber darüber will Jens Jeremies nicht reden. Jens Jeremies, 30 Jahre alt, defensives Mittelfeld, kein Stammspieler, das nicht, aber trotzdem wichtiges Mitglied dieses Teams. Wenigstens als Mutmacher. Rudi Völler, der Teamchef, sagt ja immer, dass es auf alle ankommt, und Jens Jeremies sagt das auch: „So ein Turnier ist lang, und alle hier wissen: Ich bin da, wenn ich gebraucht werde.“ Michael Ballack ist der Star dieses Teams. Oliver Kahn ist auch ein Star, aber er ist ein bisschen auf der Suche im Moment, und bei einem schon recht reifen Mann wie ihm wirkt das etwas eigenartig. Lukas Podolski ist auch auf der Suche, aber er ist noch ein halbes Kind, da ist das kein Wunder. Jens Jeremies hat seine Rolle längst gefunden. Vielleicht ist sie ihm zugefallen. Wenn er mitspielen darf, ist er ein Wühler, ein Kämpfer, wie Jerry, die Maus aus diesem Comicfilm. So wird er genannt: Jerry. Wenn er draußen bleiben muss, kann er brüllen und anfeuern wenigstens, vielleicht mal ein Handtuch reichen oder eine Wasserflasche. Alles in allem ist er damit recht erfolgreich, all die vielen Meisterschaften mit dem FC Bayern. Er ist kein Star. Er ist halt auch dabei. Die deutsche Nationalmannschaft ist keine große Mannschaft, kein Favorit für dieses Turnier. Sie ist halt auch dabei. Jens Jeremies ist eine ziemlich gute Symbolfigur für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. (…) Jens Jeremies ist einmal nicht zurückgetreten, im Jahr 2000, vor der vergangenen Europameisterschaft. Und das ärgert ihn noch immer. In einem Interview war er damals gefragt worden, wie denn der Zustand der Nationalmannschaft so sei – und er hatte gesagt: jämmerlich. Es war nur ein Nebensatz, und seine Beschreibung gab die Realität ziemlich exakt wieder. Aber, es gab viel Geschrei damals, der Trainer namens Ribbeck warf ihn für ein Spiel aus dem Team, zur Strafe. „Wäre ich konsequent gewesen, hätte ich damals gesagt: Dann spielt auch die EM ohne mich. Da habe ich oft drüber nachgedacht, dass ich das heute anders machen würde.“ Aber er kam zurück, verletzte sich vor der EM, „da habe ich dann noch trainiert wie ein Verrückter, um wieder dabei zu sein“. Die Mannschaft flog trotzdem nach der Vorrunde raus, überall redeten sie von Scheißmillionären und abgezockten Rumpelfüßlern, und wenn ihn was ärgert, dann dieses Image: „Dass da welche glauben, wir hängen uns nicht rein, wir verlieren da absichtlich.“ Da steckt viel Arroganz drin, in dem Glauben der Öffentlichkeit in Deutschland, wenn man ein Spiel verliert, liege das daran, dass die Fußballer sich nicht angestrengt hätten. „Vielleicht muss man einfach lernen zu sagen: Die anderen waren besser.“ Jens Jeremies sagt jedenfalls: Wenn er das Gefühl hat, alles getan zu haben, wenn er gewühlt und gegrätscht hat, Handtücher gehalten und Wasserflaschen, wenn er gebrüllt hat bis zur Heiserkeit und es hat trotzdem alles nicht gereicht, dann kann er Niederlagen auch abhaken. Und das Gefühl hatte er eigentlich ziemlich oft. Aber, das Image ist nun mal da. Das Image der Nationalmannschaft, das ja auch seines ist.“ Scheißmillionäre“ brüllen die Fans. Für ihn hat sich der Name Jens Jämmerlich damals eingebürgert. Eigentlich paradox, jemand sagt, wie es ist, kritisiert sich damit ja auch selbst. Und dann klebt so ein Wort an einem wie Leim. Jens Jämmerlich. Und jetzt, wo er nur Ersatzmann ist – Ergänzungsspieler, sagen die freundlicheren Trainer –, jetzt kann er eigentlich wenig tun, um dieses Image der deutschen Nationalmannschaft wegzugrätschen, abzulaufen. Und dem eigenen Image davonrennen kann man auch nicht, wenn man jahrelang so spielt wie er, knapp überm Rasen den Bällen hinterher.“
Die quälende Ungewissheit ist der ständige Begleiter der Nationalmannschaft
Philipp Selldorf (SZ 12.6.) vermisst eine Hackordnung: „In Völlers jungem Team ist das französische Ideal von Gleichheit und Brüderlichkeit eher übererfüllt. Man braucht keine Effenbergs herbeizusehnen, um festzustellen, dass etwas mehr Hierarchie der Mannschaft gut täte. Bei der WM vor zwei Jahren hat Oliver Kahn seine Rolle als Kapitän effektvoll ausgeübt, indem er seine Routine und seine Überzeugung weitergab, und diese Aufbauhilfe wünscht sich Völler auch in Portugal wieder. Zuletzt erschöpften sich Aufmunterung und Ansprache allerdings in Redensarten nach Art von „Auf geht’s, Männer“, wie er es auf dem Hotelflur und nach der Nationalhymne den Kollegen zuzurufen pflegt. Kahn war mit seiner seelischen Unordnung beschäftigt und konnte nicht das Kraftwerk des Optimismus sein, als das er in Japan und Korea fungierte. Doch jetzt behauptet er: „Ich bin absolut in Superform.“ Bisher ist Kahn der einzige, der die schöne Illusion von absoluter Superform reklamiert. Nur schüchtern behaupten sich die Deutschen, wenn sie von schwedischen, holländischen oder britischen Reportern durchaus skeptisch aufgefordert werden, ein paar Argumente für ihre Zuversicht aufzuzählen. „Wir wissen, wie wir im Ausland gesehen werden, doch wir wissen auch, dass wir eine Turniermannschaft sind“, sagt Rudi Völler – um sofort zu relativieren: „Aber wir galten auch vor vier Jahren als Turniermannschaft und sind trotzdem in der Vorrunde ausgeschieden.“ Diese Art der quälenden Ungewissheit, in der die Katastrophe à la Rotterdam 2000 und der Erfolg à la Yokohama 2002 bloß einen winzigen Gedanken auseinander liegen, ist offenkundig der ständige Begleiter.“