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Die Ehre der Fahne

Oliver Fritsch | Montag, 14. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Die Ehre der Fahne

„lettische Verhältnisse“ (Spiegel) – SZ-Interview mit Buchautor David Winner über Hollands neurotisches Genie u.v.m.

Die Ehre der Fahne

Walter Mayr (Spiegel 14.6.) über lettische Verhältnisse: „Zwar ist die Trainings- und Umgangssprache Russisch, und von den zwölf Legionären spielt die Hälfte in Russland und der Ukraine. Aber bevor sie die lettische Hymne hören, setzt es auf Russisch einen vaterländischen Appell von Aleksandr Starkovs. Es gehe hier um „die Ehre der Fahne“, um den Stolz, die junge Republik Lettland vertreten zu dürfen, samt ihres Drittels russischer Bevölkerung. Die Dimension des lettischen Fußballmärchens wird klar, wenn Verbandspräsident Guntis Indriksons in der Loge des Skonto- und National-Stadions, das ihm gehört, vom steinigen Weg zum Erfolg spricht. In seinem Rücken blinzeln Lokalgrößen über Cognac-Schwenkern, auf den Rängen sitzen 250 Besucher, und auf dem Rasen stöpselt Skonto Riga im Spitzenspiel ein 1:0 gegen Liepaja zusammen. Indriksons schaut grimmig drein, holt am Handy Informationen über die Leistungen lettischer Legionäre bei Southampton, Admira Wacker Mödling und Viborg FF ein und sagt, bis zu zwei Millionen Dollar jährlich stecke er in sein Hobby. Er hat Stadion und Hallen bauen lassen, Trainingsgelände und Fußballschulen. Die fünf Millionen Euro für die EM-Teilnahme in Portugal hätte der Verband gern vorab kassiert, um laufende Kosten bestreiten zu können. Doch die Uefa hat das abgelehnt. Wer in einer Lage ist wie Lettland nach der Abspaltung von der Moskauer Zentrale, und wer dann einen findet mit einem Herz für den Fußball und mit Geld in den Taschen, der darf wohl nicht wählerisch sein. Indriksons hat nie verheimlicht, Mitarbeiter der Fünften Hauptverwaltung des KGB gewesen zu sein, jener für Dissidentenverfolgung zuständigen, beim Volk besonders verhassten Spitzeltruppe. Nur den Vorwurf, mit Geheimdienstgeld seine Firmengruppe gegründet zu haben, hat der ehemalige KGB-Offizier dementiert. KGB-Schnüffler, Bolschewiki, Zaren, Nazi-Größen und Deutschordensritter – stets vollzog sich die Geschichte der Letten im Spannungsfeld zwischen den Nachbarn Deutschland und Russland, ein beinahe ununterbrochenes Erlebnis der Fremdherrschaft. Noch heute, hinter der heiteren Fassade der Fußballeuphorie, schimmern die Spuren von gestern durch. Beim Trainingsgelände der Nationalelf im Rigaer Me¢aparks, ehemals Kaiserwald, wo die Straßenbahnlinie 11 endet, war bis 1944 ein KZ für Juden auf dem Weg ins Vernichtungslager.“

Der englische Buchautor David Winner, 47, hat den holländischen Fußball analysiert und spricht im SZ-Interview (14.6.) über dessen neurotisches Genie

SZ: Sie haben in ihrem Buch „Brillant Orange“ dem holländischen Fußball „neurotisches Genie“ attestiert. Was meinen Sie damit?
DW: Auch ich war als Teenager sehr enttäuscht, dass die holländische Nationalmannschaft das WM-Endspiel 1974 verloren hat. Aber als ich älter wurde, habe ich begriffen, dass keine dunklen Machenschaften der Deutschen dahinter standen, sondern sie gut gespielt und den Sieg verdient hatten.
SZ: Und diese Analyse hat es Ihrer Ansicht in Holland nicht gegeben?
DW: Nein, dort hat man sich weder dem Schmerz der Niederlage gestellt noch die Frage geklärt, wie sie zustande gekommen ist. Anstatt dessen hat die Idee des schönen Verlierens unglaublich viel Trost gespendet. Es wurde also die Position eingenommen: Deutschland hat gewonnen, aber nicht wirklich. Nur ist es immer leichter, zu verlieren und moralische Überlegenheit zu reklamieren, als wirklich zu siegen.
SZ: Das ist für sie neurotisch?
DW: Zumindest ist es wirklich verrückt, wie wenig in Holland darüber geredet wird, wenn etwas schief geht. Das gilt nicht nur für Fußball. Es ist kein Zufall, dass es in Holland die wenigsten Psychoanalytiker pro Kopf der Bevölkerung in Europa gibt, man schweigt lieber. So etwas wie die Geschichten in deutschen Boulevardzeitungen würde es nie geben, wo Spieler als Bratwürste beschimpft werden. Die Italiener bewerfen ihr Nationalteam mit den berühmten verrotteten Tomaten, wenn es versagt hat. Das alles muss man nicht toll finden, aber wenigstens wird darüber gesprochen. Dagegen spielt Verdrängung in der holländischen Fußballkultur eine große Rolle. Der Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen, zu verstehen, was 1974 und was danach passiert ist. Dabei ist es doch bizarr, wie wenig die holländische Nationalelf angesichts ihrer Qualität erreicht hat. Sie hatten all diese tollen Spieler und fast nichts gewonnen, während es bei den Deutschen umgekehrt war. 1995 gewann Ajax Amsterdam die Champions League und diese Spieler wurden „Die Söhne Gottes“ genannt. Was für eine aufgeblasene Überheblichkeit, und sie haben auch noch geglaubt, sie würden Europa und die Welt beherrschen. Im Nationalteam gewonnen haben sie danach nichts mehr.

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